Protokoll der Sitzung vom 29.06.2000

Wie die Landesregierung in ihrer Stellungnahme zu unserem Antrag bemerkt, kommt diese Auslegung der EUKommission einer Ausdehnung des Familiennachzugs über den Bereich der Kernfamilie hinaus gleich, und hier liegt dann auch die migrationspolitische Zeitbombe dieses Entwurfs begründet.

Rekapitulieren wir noch einmal kurz den Personenkreis, der hier gemeint ist: erstens Drittstaatenangehörige, die im Besitz eines Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit sind, und zweitens Personen, denen Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde oder die vorübergehenden Schutz genießen, wobei die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels ohne Belang ist.

Die Familienzusammenführung beantragen können dann folgende Personenkreise: Ehegatten bzw. nicht verheiratete Lebenspartner des Antragstellers, sofern der betreffende Mitgliedsstaat diese Partnerschaft anerkennt. Auch das ist wichtig. Denn maßgeblich ist damit die rechtliche Beurteilung im Herkunftsland und nicht bei uns. Außerdem: die

minderjährigen Kinder des Paares oder eines Ehegatten bzw. Lebenspartners einschließlich der adoptierten Kinder und die Verwandten in aufsteigender Linie und die volljährigen Kinder, die unterhaltsberechtigt sind. Darüber hinaus gibt es noch Sonderregelungen für den Fall der Mehrehe. Auch daran muss man natürlich bei Drittstaaten denken.

(Abg. Deuschle REP: Sehr richtig!)

Es bedarf keiner allzu großen Fantasie, meine Damen und Herren, um die Auswirkungen dieser Richtlinie auf Deutschland ermessen zu können. In Deutschland leben derzeit ca. 5,5 Millionen Nicht-EU-Ausländer. Das ist ein Rekord innerhalb der EU. Entsprechend groß dürfte der zusätzliche Zuwanderungsdruck auf Deutschland sein. Zahlen von bis zu 500 000 zusätzlichen Zuwanderern machen bereits die Runde.

Dies, meine Damen und Herren, hat auch den Bundesinnenminister in diesem Zusammenhang zu einer recht klaren Äußerung gebracht. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wenn man nur den genannten portugiesischen Kommissar für diese Richtlinie verantwortlich machen würde;

(Abg. Jacobi Bündnis 90/Die Grünen: Das wäre noch schöner!)

denn Vitorino beruft sich mit einem gewissen Recht auf die Ergebnisse des EU-Gipfels von Tampere. Das ist jetzt der entscheidende Punkt, meine Damen und Herren. Dort wurde nämlich beschlossen, Nicht-EU-Ausländern vergleichbare Rechte und Pflichten wie den EU-Bürgern zuzuerkennen. Das heißt, das, was Herr Vitorino ausgearbeitet hat, ist die konsequente Fortsetzung dessen, was man auf EU-Ebene beschlossen hat.

Nun frage ich mich natürlich, was beispielsweise diese Bundesregierung eigentlich tun will, wenn sie auf der einen Seite in einer EU-Konferenz einer solchen Vorgabe zustimmt und dann hinterher bei der Umsetzung plötzlich merkt, was eigentlich beschlossen wurde, und nun zurückzieht. Ich bin auch gespannt, wie sich Herr Schily hier herauswinden will. Ich vermute fast, dass es dabei so geht wie in vielen anderen Bereichen auch, dass nämlich zunächst einmal verbaler Widerstand angekündigt wird, dass man sich aber dann in der konsequenten Umsetzung wieder in diesen Prozess der europäischen Rechtsfindung eingebunden sieht und klein beigibt.

Meine Damen und Herren, die Staats- und Regierungschefs haben durch ihre Zustimmung in Tampere eigentlich die Grundlage für diese neue EU-Richtlinie geschaffen. Deswegen sage ich auch eines ganz offen: Was hier von RotGrün weitestgehend befürwortet wird – denn Schily ist ja einsamer Rufer in der Wüste seiner Genossen –, ist nichts anderes als Zuwanderungslobbyismus auf deutsche Kosten. Das, meine Damen und Herren, lehnen wir mit Nachdruck ab.

(Beifall bei den Republikanern)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Schmid.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir sind hier in diesem Haus selten einmütig,

aber relativ einmütig haben wir in der Vergangenheit immer gesagt, dass die Harmonisierung des EU-Rechts im Bereich des Asyls, der Zuwanderung und der Integration von uns allen als wichtiges Ziel angesehen wird. Wir haben damit auch irgendwie die Hoffnung verbunden, dass mit gemeinsamen Regelungen eine bessere Lastenverteilung erreicht werden kann, dass aber auch das Problem, im eigenen Land zu gemeinsamen Positionen in der Ausländerpolitik zu kommen, vielleicht über die Schiene EU gelöst werden kann.

Eines ist also nach meiner Auffassung zumindest gelungen. Anders als der Kollege Schlierer habe ich den Eindruck, dass die Richtlinie, die hier vorgelegt wurde, einhellig abgelehnt wird. Das ist ja auch eine Art der Harmonisierung. Wenn das das Ergebnis sein sollte, bin ich eigentlich da sehr zufrieden.

Warum lehnen wir die Richtlinie ab? Weil wir glauben, dass dieser Vorschlag nicht zur Lösung der Probleme beiträgt, sondern neue Probleme schafft. Was haben wir zu kritisieren? Einmal ist das Ziel, das die Verwaltung der EU hier formuliert hat, nämlich eine gerechte Behandlung der Drittstaatenangehörigen zu erreichen und – es sind ja zwei Punkte – die Familienzusammenführung als Mittel der Integration zu verwenden, im Grundsatz in Ordnung. Das sind ja eigentlich Ziele, die man haben kann und die auch nicht schlecht sind. Nur das Ergebnis, das konkret in der Formulierung und in den späteren Auswirkungen vorgelegt wird, ist etwas, was wir ablehnen. Es führt nämlich zu einer anderen Art von Zuwanderung, einer Art, die wir nicht wollen, die wir uns nicht vorstellen und die wir aktuell auch ganz anders diskutieren. Wir reden heute eigentlich unter dem Begriff Zuwanderung darüber, ob wir Interessen des eigenen Landes hineinformulieren und Regelungen schaffen können, die dem Land dienen. Das, was die EU jetzt vorlegt, ist genau das Gegenteil.

Diese Richtlinie bedeutet eine erhebliche und nicht zu vertretende Nachzugsregelung, die auf einem Familienbegriff basiert, der äußerst weitgehend ist und in vielen Punkten nicht unseren Wertvorstellungen entspricht. Stichworte wurden ja bereits genannt. Der Nachzug nicht verheirateter Lebenspartner ist ein Punkt, den wir nicht akzeptieren. Die Abkehr von der Kernfamilie, die Ausdehnung auf die Verwandtschaft, bei der man ja gar nicht weiß, wo sie aufhört, sind auch etwas, was wir ablehnen.

Die Berücksichtigung von in Drittstaaten geschlossenen Mehrehen in bestimmten Fällen ist etwas, was wir nicht wollen. Der Ansatz, Eltern unbegleiteter Minderjähriger, die ins Land kommen, eine Nachzugsmöglichkeit zu geben, ist auch etwas, was wir nicht wollen. Insgesamt spiegelt sich die Haltung der CDU in dieser Richtlinie nicht wider.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt ist der Maßstab des einjährigen rechtmäßigen Aufenthalts. Das ist einfach ein zu kurzer Zeitraum. In einem Jahr hat man noch keine Wurzeln geschlagen. Dieser Zeitraum ist nicht ausreichend für die Verwurzelung in einem Land, um solch weit reichende Folgen auszulösen.

Diese Richtlinie konterkariert alle Bemühungen, den Zuzug zu begrenzen. Sie dient nicht der Integration der hier lebenden Menschen, sondern schafft insgesamt neue Probleme. Sie überfordert die Aufnahmefähigkeit der europäischen Länder und schafft auch weitere Belastungen für öffentliche Kassen. Deshalb darf sie auch nicht verbindliches Recht werden. Gerecht behandeln heißt nicht gleichstellen. Wenn man „gleichstellen“ unter „gerecht behandeln“ verstehen wollte, dann könnte man gleich Pässe austeilen. Das wäre genau das Gleiche. Dann bräuchten wir keine Differenzierung mehr zu machen. Den Integrationsprozess zu beschleunigen, die Voraussetzungen zu schaffen und am Ziel die Einbürgerung zu haben und dann die Familienzusammenführung an den Endpunkt zu setzen, wäre der richtige Weg und nicht zuerst die Zusammenführung, dann die Integration und dann die Einbürgerung.

(Beifall bei der CDU)

Ich denke, wir sollten zuerst die gestellten Aufgaben lösen, und wir sollten nichts Neues anfangen, bevor wir das, was wir hier immer diskutieren, die Integration, erreicht haben.

Den Positionen des Städtetags müsste man eigentlich nichts hinzufügen. Da wird gesagt: Die Folge der Richtlinie wäre eine deutliche Erweiterung des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug ohne Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit der Kommunen. Das sagt eigentlich alles. Deshalb nehme ich es als sehr positives Zeichen, dass die Bundesregierung wie auch die Landesregierung sich über den Bundesrat zu diesem Richtlinienvorschlag sehr ablehnend geäußert haben. Wir unterstützen sowohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung in dem Bemühen, diesen Vorschlag zu stoppen.

In diesem Zusammenhang sollten wir im Hinblick auf die Reform des EU-Rechts möglicherweise etwas sorgfältiger überlegen, welche Strukturen und Elemente es ermöglichen, bei so elementaren politischen Punkten die grundlegenden Interessen der eigenen Heimatländer zu wahren.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Heiler.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde diese Debatte ziemlich unnötig, und zwar vor zwei Hintergründen:

Erstens: Herr Dr. Schlierer, Sie haben wohl übersehen, dass sich der Innenausschuss am 24. Mai mit diesem Thema befasst und einen entsprechenden Beschluss gefasst hat.

Zweitens: Der Bundesrat hat am 9. Juni eine Stellungnahme dazu abgegeben

(Abg. Dr. Schlierer REP: Na und!)

ich werde darauf noch eingehen –, und Sie tun hier so, als ob Rot-Grün diesem Richtlinienvorschlag zugestimmt hätte. Das stimmt schlichtweg nicht.

(Abg. Roland Schmid CDU: So ist es!)

Deshalb befinden Sie sich auf einem völlig falschen Gleis.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will zu diesem Richtlinienvorschlag inhaltlich zunächst Folgendes sagen: So schlecht, Herr Kollege Schmid, wie Sie es dargestellt haben, ist zumindest der Ansatz nicht, denn der Europäische Rat hat selbstverständlich Recht, wenn er sagt, dass eine gerechte Behandlung von Drittstaatenangehörigen notwendig ist. Selbstverständlich sind auch die Bestrebungen zu unterstützen, eine energischere Integrationspolitik zu betreiben. Wenn die Kommission zwei Ziele definiert, nämlich erstens die Gewährleistung von Rechtssicherheit für die Drittstaatenangehörigen und zweitens eine Vereinheitlichung des EU-Rechts, kann man dem nur folgen.

Leider haben aber diese richtigen Ansätze doch letztlich dazu geführt, dass man über das Ziel hinausgeschossen ist. Deshalb – ich will das Ergebnis vorwegnehmen – unterstützen wir die Stellungnahme, den Beschluss des Bundesrats vom 9. Juni. Wir können diesen Richtlinienvorschlag deshalb inhaltlich in der Form, wie er uns vorgelegt wurde, ebenfalls nicht mittragen.

Es ist in der Tat problematisch, dass Drittstaatenangehörige die gleichen Rechte erhalten sollten wie jeder Unionsbürger, wenn dies nur an einen rechtmäßigen Aufenthalt angeknüpft wird. Wir meinen, dass Integration weiter gehen muss und dass die wichtigste Voraussetzung für Integration das Erlernen der Sprache des Landes ist,

(Abg. König REP: Oi!)

in dem man sich aufhält. Deshalb steht dies auch in dem Beschluss des Bundesrats, den Sie ja offensichtlich gar nicht kennen, deutlich drin. Es soll Voraussetzung der Integration sein, dass sich die Drittstaatenangehörigen bereit erklären, auch die Sprache des Landes zu erlernen, in welchem sie sich aufhalten.

(Zuruf des Abg. Deuschle REP)

Auch nach unserer Auffassung ist der Begriff der Familienangehörigen, wie er im Vorschlag definiert ist, sicherlich zu hinterfragen. In der jetzigen Form würde das nach unserem ersten Eindruck zu einer Zuwanderung, deren Umfang im Augenblick nicht absehbar ist, führen. Deshalb – ich habe das schon gesagt – befürworten wir den Beschluss des Bundesrats vom 9. Juni. Er weist in die richtige Richtung.

Wir teilen ebenfalls die Auffassung des Bundesrats, dass die Bundesregierung zunächst einmal Prognosen über die Wirkungen des Richtlinienvorschlags erstellen soll, insbesondere auch im Hinblick darauf, wie sich dies, wenn der Vorschlag umgesetzt würde, auf die Kosten für die Kommunen auswirken würde.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich generell noch etwas zur Migrationspolitik sagen. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union im Jahr 1993 liegt die Kompetenz für die Migrationspolitik bei der EU. Nach unserem Dafürhalten ist hier in der Vergangenheit viel zu wenig geschehen. Ich kritisiere an dem Richtlinienvorschlag, der uns vorliegt, auch, dass nur ein einziges Detail herausgegriffen wurde, nämlich das Problem der Familienzusammenführung, anstatt nach einer Gesamtlösung zu suchen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. List CDU)

Ich bin der Auffassung, dass wir ein Gesamtkonzept, eine in sich schlüssige Gesamtlösung brauchen; denn es wird nach wie vor aufgrund vieler Ursachen weltweit Wanderungsbewegungen geben. Wir werden das Problem übrigens nicht in diesem Landtag und auch nicht in der Bundesrepublik allein lösen, sondern es ist notwendig, europaweit zu einer Regelung zu kommen.

Ich will die Eckpunkte einer solchen gesamteuropäischen Lösung nennen, die uns wichtig erscheinen: Das ist eine europäisch abgestimmte und gemeinsame Entwicklungshilfepolitik. Das ist ein europäisches vereinheitlichtes Asylverfahren. Wir brauchen ein gemeinsames Vorgehen bei Bürgerkriegs-, Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen, und wir brauchen eine europäische harmonisierte Zuwanderungsgesetzgebung. Wenn uns dies nicht gelingt, dann werden wir mit unserer Politik, meine Damen und Herren, scheitern.

Wir begrüßen nachdrücklich das Vorhaben von Bundesinnenminister Otto Schily, eine Sachverständigenkommission zum Thema Zuwanderung einzuberufen. Wir setzen die große Hoffnung in diese Kommission, dass in einem ersten Schritt auf nationaler Ebene der zweite Schritt für eine gesamteuropäische Lösung vorbereitet wird.

Ich halte es in diesem Zusammenhang übrigens für unerträglich – das ist an die Adresse der CDU gerichtet –, wenn die CDU jetzt nichts anderes zu tun hat, als den vorgesehenen Vorsitz von Frau Süssmuth zu kritisieren, obwohl die Kommission noch gar nicht eingesetzt ist. Für noch unerträglicher halte ich das Vorgehen der CDU, wenn sie sagt: „Wir wollen eine eigene Kommission einsetzen.“ Ich frage mich, was das eigentlich soll.

(Beifall bei der SPD – Zurufe der Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen und Roland Schmid CDU)