Protokoll der Sitzung vom 22.11.2000

Herr Präsident, wären Sie vielleicht so nett, die Herren von der SPD nach draußen zu bitten, wenn sie eigene Gespräche führen wollen? Dies stört in der Debatte.

(Abg. Maurer SPD: Warum denn? Wenn Sie weni- ger Stuss erzählen, hören wir zu!)

Ob das Stuss ist oder nicht, Herr Maurer, können Sie am wenigsten beurteilen.

(Beifall bei den Republikanern)

Meine Damen und Herren, Bündnis 90/Die Grünen haben in einem Papier unter der Überschrift „Einwanderung ge

stalten“ inzwischen ausgeführt – ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus diesem Papier –:

Wir unterstützen die Vorschläge der EU-Kommission für die Festlegung von erweiterten Möglichkeiten beim Familiennachzug.

Das ist die entscheidende Botschaft. Rot-Grün in Berlin hat keinen klaren Standpunkt. Die SPD eiert herum; die Grünen haben inzwischen nachgegeben. Damit ist am Horizont schon genau das Szenario erkennbar, über das wir am 29. Juni gesprochen haben und das damals als Schreckgespenst abqualifiziert wurde. Es geht nämlich darum, dass die Richtlinie, wenn sie Realität wird, eine zusätzliche Zuwanderung im sechsstelligen Bereich bedeutet, und zwar unabhängig davon, wie die Quantitätsprognose der Bundesregierung ausfällt. Dies vor dem Hintergrund dessen, was Herr Schily schon vor Monaten zu Recht gesagt hat, dass nämlich die Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind.

Vielleicht sollte man bei dieser Gelegenheit auch deutlich machen, dass das Problem für Herrn Vitorino nicht so wichtig ist. Portugal hat 0,1 % Nicht-EU-Ausländer; in der Bundesrepublik Deutschland beträgt die Zahl 5,8 %. Wir haben den höchsten Anteil an Nicht-EU-Ausländern, die dann aus dieser Familiennachzugsregelung entsprechenden Nutzen ziehen würden.

Für uns steht fest: Die Richtlinie muss nach wie vor abgelehnt werden, weil der Kreis der Begünstigten zu weit gefasst ist, weil der Begriff der Familie unzulässig erweitert wird und weil die Voraussetzungen für den Nachzug zu weit bemessen sind. Bei dieser Gelegenheit kann ich jedem nur raten, sich Artikel 5 dieser Richtlinie anzusehen. Da geht es zum Beispiel darum, dass es sich bei volljährigen Kindern nicht nur um Kinder aus Kernfamilien handelt, sondern auch um die eines nicht verheirateten Lebenspartners. Dasselbe gilt auch für Verwandte in aufsteigender Linie, die auch die Verwandten des nicht verheirateten Lebenspartners sein können. Hier wird Tür und Tor geöffnet. Dazu kann man wirklich nur sagen: Dies ist nichts, was im Sinne irgendwelcher Schreckgespenster, Frau Thon, oder sonst wie anzusprechen wäre, sondern das ist die Realität, vor der wir stehen. Eine solche Belastung für unsere Sozialkassen können wir uns nicht leisten.

(Beifall bei den Republikanern – Zuruf von den Republikanern: Und wollen wir nicht! – Zuruf der Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen)

Ich sage Ihnen noch etwas. Ich weiß auch nicht, ob Sie mit einer solchen Richtlinie

(Zuruf der Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grü- nen)

Frau Thon, hören Sie gut zu – gut beraten wären, wenn Sie weiterhin beispielsweise Flüchtlinge aufnehmen wollen; denn eines ist doch auch klar: Dies wird auch dazu führen, dass wir uns in Zukunft überlegen müssen, ob wir noch Flüchtlinge im selben Umfang wie in der Vergangenheit aufnehmen können, wenn wir ein Jahr später auch noch den gesamten Familiennachzug einschließlich aller Möglichkeiten gemäß dieser Richtlinie akzeptieren müssen.

Deshalb ist für uns heute die entscheidende Frage: Wie verhält sich Rot-Grün? Wird sich die Bundesregierung im Sinne des Vetorechts, das sie hat, dafür stark machen, dass diese Richtlinie nicht Wirklichkeit wird? Hier ist bisher, gerade von Rot-Grün, die Antwort verweigert worden. Vielleicht hören wir nachher in der zweiten Runde Näheres. Aber das wird der entscheidende Punkt sein.

(Beifall bei den Republikanern)

Das Wort erteile ich Herrn Innenminister Dr. Schäuble.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir haben zwar über die ganze Problematik dieser möglicherweise bevorstehenden EU-Richtlinie schon einmal in der Plenarsitzung Ende Juni dieses Jahres gesprochen.

(Abg. Heiler SPD: Und im Ausschuss!)

Trotzdem ist es notwendig, heute noch einmal die Diskussion zu führen, vor allem auch mit Blick auf die bevorstehende EU-Ministerratssitzung am 30. November.

Die Ausgangslage ist ja wie folgt: Die EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung enthält zwei ganz gefährliche Entwicklungen. Die erste ist, dass künftig Kinder bis zum vollendeten 21. Lebensjahr nach Deutschland kommen können. Wenn eine solche Entwicklung Platz greifen würde, wäre dies für die Integrationsbemühungen, bei denen sich ja nach und nach ein Konsens abzeichnet, in Deutschland eine ganz verhängnisvolle Fehlentwicklung. Wir haben schon bei verschiedenen Gelegenheiten im Landtag über das Thema Integration gesprochen. Es gibt da und dort unterschiedliche Auffassungen, aber es gibt auch viele Punkte, bei denen Einigkeit besteht. Einigkeit besteht auf jeden Fall darüber, dass diejenigen jungen Menschen, die zu uns nach Deutschland kommen, noch in einem Alter sein müssen, in dem sie die Chance haben, unser Bildungssystem mit Erfolg zu durchlaufen. Anders kann Integration ja gar nicht denkbar sein.

(Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen: Doch!)

Das Alter von 16 Jahren ist nach Auffassung der CDU schon ein kritisches Alter, weil es mit 16 Jahren schwierig sein wird, noch Schulen erfolgreich zu absolvieren oder eine Ausbildung zu beginnen.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: So ist es!)

Wenn Sie aber das Nachzugsalter von 16 auf 21 Jahre anheben, ist auf jeden Fall klar, dass – von Ausnahmefällen abgesehen – eine Integration eigentlich überhaupt nicht mehr denkbar ist. Deshalb muss dieser Punkt auch mit so großem Ernst gesehen werden. Die Diskussion in Deutschland unter den Parteien – ich lasse jetzt einmal die Grünen außen vor, Frau Kollegin Thon; darauf komme ich nachher noch – ist eigentlich so, dass wir sagen: Es muss auf jeden Fall die Gewähr dafür gegeben sein, dass eine Integration von den äußeren Voraussetzungen her überhaupt noch denkbar ist. Deshalb müssen die jungen Menschen eher

(Minister Dr. Schäuble)

früher als später nach Deutschland kommen und eben nicht bis zum 21. Lebensjahr.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Reinhart CDU: Sehr gut!)

Ich komme auch noch einmal zu einem anderen Gesichtspunkt: Neulich haben wir uns darüber unterhalten, dass Baden-Württemberg das erste Bundesland ist, das einen Vorstoß unternommen hat, Integrationskurse für nach Deutschland kommende Ausländer einzurichten. Ich habe in der letzten Plenardebatte feststellen können, dass zum Thema Integrationskurse eine große Diskussionsbereitschaft vorhanden ist. Nach unserer Debatte habe ich auch – das darf ich so sagen – mit Genugtuung feststellen dürfen, dass das Thema Integrationskurse auch auf der Ebene der Bundesregierung jetzt stärker betont wird. Das heißt, ich darf für heute einfach einmal festhalten: Wenn wir die baden-württembergischen Vorstellungen nehmen, die wir ja auch in eine Bundesratsinitiative eingebracht haben, bin ich, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, durchaus bereit, über einzelne Punkte zu sprechen. Entscheidend muss aber sein, dass wir zu einer Integrationskonzeption kommen, bei der solche Integrationskurse einen festen Bestandteil bilden, und zwar nach dem Grundsatz

(Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen: Sol- che nicht!)

doch, ich komme gleich darauf, Frau Kollegin Thon –, der mit Sicherheit richtig ist, dass wir die Menschen fördern müssen, dass wir sie umgekehrt aber auch fordern müssen. Das heißt, wenn wir Angebote machen, müssen wir darauf drängen, dass die Angebote auch angenommen werden. Wenn sie aus Gründen, die bei den Betroffenen selber liegen, nicht angenommen werden, muss das Ausschlagen unseres Angebots gewisse Konsequenzen haben.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen: Aber nicht solche!)

Sie, Frau Kollegin Thon, haben in der letzten Debatte den Kostenfaktor angesprochen. Ich darf darauf hinweisen, dass solche Integrationskurse durch ein Bundesgesetz geregelt werden müssen. Deshalb haben wir auch keine landesgesetzgeberische Initiative ergriffen, sondern logischerweise eine Bundesratsinitiative. Im Rahmen einer solchen Initiative für ein Bundesgesetz können wir schlecht anderen Ländern sozusagen vorschreiben, wie sie die Kosten solcher Integrationskurse regeln. Das muss, glaube ich, jedem Bundesland überlassen bleiben.

Wir in Baden-Württemberg haben vor – ich habe dies bereits mehrfach in diesem hohen Hause betonen können –, über die Verwendung der Erlöse aus dem Verkauf der EnBW-Anteile, auch durch die zu schaffende Stiftung, solche Sprachförderkurse – es handelt sich in erster Linie um Sprachförderung – finanziell zu unterstützen.

(Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen: Das steht aber nicht drin in dem Entwurf!)

Das heißt, wir streben bei solchen Integrationskursen oder Sprachförderkursen eine kostengünstige Lösung, eine so

zialverträgliche Lösung an. Allerdings sagen wir auch klar: Nulltarif sollten wir nicht wählen, denn es gilt auch der alte Satz: Was nichts kostet, ist nichts wert.

(Beifall des Abg. Haasis CDU – Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen: Das kommt darauf an!)

Aber mit unserem Anliegen wären wir, glaube ich, doch auf der richtigen Linie.

Jetzt komme ich zum zweiten Punkt, bei dem diese in Aussicht genommene EU-Richtlinie eben doch eine ganz große Gefahr und eine große Fehlentwicklung sein würde. Herr Kollege Heiler hat das vorhin angesprochen. Herr Kollege Heiler, ich darf daran erinnern. Wir haben Ende Juni dieses Jahres – es waren, glaube ich, auch Sie –, als wir dieses Thema zum ersten Mal diskutiert haben, gesagt, wir hätten gerne gewusst, welche Konsequenzen sich denn ergäben, wenn die beabsichtigte EU-Richtlinie in die Wirklichkeit umgesetzt werden würde.

Es gab damals noch verschiedene Zahlen – die haben die Bayern behauptet, der Bundesinnenminister hatte andere Zahlen –, aber inzwischen gibt es dazu eine übereinstimmende Aussage, und zwar sowohl von Bundesinnenminister Schily wie auch von dem Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, dem Kollegen Behrens aus Nordrhein-Westfalen.

Beide müssen heute – im Oktober und November dieses Jahres – die ursprünglichen bayerischen Befürchtungen bestätigen und sagen übereinstimmend: Wenn diese EURichtlinie mit dem erweiterten Familiennachzug, wonach im Grunde genommen die Großfamilie nach Deutschland kommen dürfte, so in Kraft träte, Frau Kollegin Thon, dann müsste man mit einem weiteren Zuzug von etwa 500 000 Personen pro Jahr nach Deutschland rechnen. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, wäre eine absolute Fehlentwicklung.

(Beifall bei Abgeordneten der Republikaner)

Nachdem sich bei dem Thema Zuwanderungssteuerung, Zuwanderungsbegrenzung – wie immer man das formulieren will – auch über Baden-Württemberg hinaus – so ist mein Eindruck – so langsam der Nebel lichtet und wir die Konturen klarer erkennen, darf ich eines feststellen: Wenn die Aussage noch Gültigkeit haben soll, dass wir künftig stärker beeinflussen wollen, wer eigentlich zu uns nach Deutschland kommt, und nicht einfach damit leben müssen, dass die Menschen sozusagen selber entscheiden, ob sie, aus welchen Gründen und auf welcher Schiene auch immer, nach Deutschland kommen, dann kann die Richtlinie so nicht akzeptiert werden. Ein solcher so stark erweiterter Familiennachzug wäre im Grunde genommen das Ende jeder Steuerungsmöglichkeit eines geordneten Zuzugs nach Deutschland. Über diese Konsequenz muss man sich im Klaren sein.

Auch aus diesem zweiten Grund kann diese EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung keine Akzeptanz in Deutschland finden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

(Minister Dr. Schäuble)

Warum heute diese Diskussion? Die Lage hat sich inzwischen, Herr Kollege Heiler, etwas weiterentwickelt. Sie haben das selbst erwähnt. Als wir am 29. Juni 2000 diese Thematik zum ersten Mal im Landtag von Baden-Württemberg diskutiert haben, hatten wir noch die Hoffnung, dass die Kommission von ihrem Entwurf der Richtlinie zurückgehen würde. Diese Hoffnung hat sich – Sie haben es selbst erwähnt –, von Marginalien abgesehen, nicht bestätigt. Im Gegenteil, wir sind inzwischen sogar eine Stufe weiter. Das hat Frau Kollegin Thon dankenswerterweise vorhin in aller Offenheit gesagt. Denn das Europäische Parlament, meine sehr verehrten Damen und Herren – das muss man sich hier in diesem hohen Hause schon auf der Zunge zergehen lassen –, hat mit den Stimmen von Rot, Grün – Sie haben es selbst gesagt – und Gelb diesem Vorschlag und dieser Konzeption der EU-Kommission in der Sitzung im September inzwischen zugestimmt.

(Zuruf der Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grü- nen – Abg. Dr. Glück FDP/DVP: Deutsche Gelbe aber nicht! – Abg. Drautz FDP/DVP: Deutsche Gelbe gibt es im Europäischen Parlament nicht! – Gegenruf der Abg. Renate Thon Bündnis 90/Die Grünen: Aber es gibt Gelbe!)

Da sehen Sie, wie wichtig einfach Ihre Präsenz auf allen Ebenen ist, Herr Kollege Glück. – Das heißt natürlich im Klartext, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die Mitglieder von Rot und Grün im Europäischen Parlament die klare Aussage des Bundesinnenministers Schily, der ja von dieser Richtlinie aus den genannten Gründen auch nichts hält, auf der europäischen Ebene schlicht und ergreifend unterlaufen haben. Das muss man hier heute in dieser Debatte schon einmal ganz klar herausarbeiten.

(Beifall bei der CDU – Abg. Ingrid Blank CDU: Nicht so herumheucheln!)