Herr Präsident, meine Damen und Herren! In diesen Tagen eine Europadebatte zu führen, heißt zuallererst, über die außenpolitische Rolle Europas zu sprechen. Wir haben dazu etwas von Herrn Reinhart und von Herrn Kollegen Maurer gehört.
Die Terroranschläge vom 11. September haben die Tagesordnungen der internationalen Politik durchkreuzt und gleichzeitig neu aufgestellt. Seitdem werden Allianzen gegen den Terror geschmiedet. Aber – das muss man einfach sehen – EU-Europa ist in diesem Zusammenhang nicht handlungsfähig – vielleicht noch nicht handlungsfähig.
Die Beziehungen zu den USA werden seit dem 11. September in der Regel bilateral gepflegt. Nationale diplomatische und militärische Alleingänge prägen das Erscheinungsbild. Ich denke, wenn wir Europa gemeinsam bauen wollen, müssen wir zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Außenpolitik kommen. Das ist angedacht. Aber der Motor dafür ist, glaube ich, gegenwärtig in erster Linie die Bundesrepublik, die wahrscheinlich am wenigsten national borniert ist. Das heißt nichts anderes, als dass der Weg von der Wirtschafts- und Währungsunion zur politischen Union – das, was Kollege Maurer skizziert hat –, von einem Staatenbund hin zu so etwas wie einer bundesstaatlichen Ordnung, obwohl ich weiß, wie gefährlich dieses Wort ist und wie empfindlich die einzelnen Staaten in Europa sind, wenn sie dieses Wort hören, beschritten ist und weiter beschritten werden muss.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, meine Damen und Herren, zu den innereuropäischen Herausforderungen kommen. Auch hier ist das Bild – das hat die Regierungskonferenz von Nizza auf eine erschreckende Art deutlich gemacht – zu sehr von nationalen Interessen und von Besitzstandswahrung oder Vorteilswahrung der Mitgliedsstaaten geprägt. Keiner hier im Haus kann mit den Ergebnissen von Nizza zufrieden sein, und doch hat der Bundestag in der letzten Woche dem Vertrag von Nizza zugestimmt. Warum hat er das getan? Er hat das getan, weil der Gipfel von Nizza festgelegt hat, wie der europäische Einigungsprozess unter der großen historischen Herausforderung der Erweiterung vorangebracht werden kann. Die Osterweiterung der EU ist zugleich historische Chance und politische Notwendigkeit. Die Demokratien – die neuen Demokratien, die jungen Demokratien – Mittel- und Osteuropas wollen und sollen in die EU. Diese Einsicht ist in diesem Haus auch unbestritten. Wir fragen uns nur – darüber müssten wir diskutieren –, wie wir es gleichzeitig schaffen können, Europa zu erweitern und es gleichzeitig zu vertiefen. Ich bin nämlich überzeugt davon, dass eine Erweiterung allein ohne eine größere Integration, ohne eine Vertiefung nichts bringt, dass ein Europa der 26, wenn es so funktioniert wie jetzt mit 15, nicht funktioniert. Deshalb gibt es zu einer Erweiterung mit einer gleichzeitigen Vertiefung meines Erachtens überhaupt keine Alternative.
Ich will die Landesregierung einmal loben: Vor zwei Jahren hatte sie, was die Osterweiterung angeht, noch Ängste. Sie hatte Ängste, dass Arbeitnehmer in starkem Maße auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen. Mittlerweile sind Sie
und das will ich anerkennen – weiter. Einschlägige Forschungsinstitute – auch die EU-Kommission hat dazu Studien erstellen lassen – kommen zu dem Ergebnis, dass man damit nicht rechnen muss, wenn man die Übergangsfristen von sieben Jahren, wie sie jetzt vereinbart worden sind, einhält – im Gegenteil. Jetzt knüpfe ich an die Debatte von heute Morgen zum Thema Einwanderung und Integration an. Der baden-württembergische Arbeitsmarkt – das besagen alle Studien – könnte jedes Jahr 20 000 Einwanderer aus Osteuropa gut verkraften, ja, er könnte sie ausdrücklich brauchen.
Andere als Probleme wahrgenommene Erscheinungen der Osterweiterung sind nicht die Folge der Öffnung, sondern bestehen bereits heute. Wir kennen das alle; wir haben das beim Thema Verkehr diskutiert. Aber auch Schwarzarbeit, vergleichsweise geringe soziale Standards, niedrige Umweltstandards, Straßengüterverkehr, wie gesagt, etc. etc. sind keine Probleme, die durch die Osterweiterung entstehen, sondern das sind Probleme, die bereits vorhanden sind. Das heißt nicht, dass man gegen die Osterweiterung sein soll, sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die mittel- und osteuropäischen Länder in die Europäische Union zu integrieren, das bedeutet die Lösung des Wohlstandsgefälles. Das wird in den Ländern Mittel- und Osteuropas zur Anhebung der ökologischen und sozialen Standards führen und Probleme lösen und sie nicht vertiefen. Deshalb eine Erweiterung und auch eine Vertiefung der europäischen Integration.
Mit der Erweiterung muss die Europäische Union aber auch ihre Institutionen und ihre Entscheidungsmechanismen überprüfen und anpassen. Sie muss schauen, dass sie handlungsfähig bleibt und gleichzeitig weiterhin ihr Handeln demokratisch überzeugend legitimiert. Die Globalisierung, von der alle reden, verlangt von Europa eben mehr und nicht weniger Handlungsfähigkeit. Auch dazu hat Nizza wichtige Hinweise gegeben.
Zu drängenden Reformvorhaben hat die Nizza-Erklärung zur Zukunft Europas Folgendes gesagt: Wir brauchen eine Vereinfachung der europäischen Verträge, die keiner mehr versteht. Das ist der erste Punkt, aber das ist eher noch formal, obwohl das schwierig genug umzusetzen ist.
Wir brauchen zweitens – und jetzt wird es substanziell – eine Klärung des Status der Grundrechtecharta, die ja unter Altbundespräsident Herzog vorangetrieben und auch verabschiedet wurde. Diese Grundrechtecharta muss rechtsverbindlich werden, und sie muss zum Herzstück einer europäischen Verfassung werden, um die wir nicht herumkommen und die wir dringend brauchen.
Wir brauchen drittens – auch das ist hier schon gesagt worden – nicht ein Europa rein der Exekutive, der Regierungen, sondern wir brauchen eine Aufwertung der Rolle der nationalen Parlamente innerhalb der EU.
Schließlich müssen wir klären – auch das ist heute schon aufgegriffen worden –, wer eigentlich was macht. Wir müssen die Zuständigkeiten zwischen den EU-Staaten und auch die Kompetenzen innerhalb der EU, also die vertikale
Abgrenzung, klären: Was ist die Aufgabe der Regionen – unseren Ländern vergleichbar –, was die Aufgabe der nationalen Parlamente und was die Aufgabe der EU? Hier gibt es allerdings, Herr Minister Palmer, denke ich, einen Dissens zwischen Ihnen und uns, zwischen der Regierung und unserer Fraktion. Ich glaube, dass man die Regionen nicht gegen Brüssel in Stellung bringen kann. Das würde nämlich heißen, eine Art Renationalisierung der Politik zu machen und uns wieder gegen Brüssel abzugrenzen. Nein, wir müssen es mit Brüssel machen. Wir haben nämlich Spielräume, die wir vielfach nicht ausnützen. Ich will Ihnen einmal ein paar Beispiele nennen.
Als Erstes erwähne ich die Beschäftigungspolitik. Die EQUAL-Kofinanzierungsmittel – das ist gestern Morgen schon einmal beim Thema „Konjunktur in Baden-Württemberg“ angesprochen worden – werden in den neuen Doppelhaushalt aller Voraussicht nach nicht eingestellt, weil wir nicht kofinanzieren, obwohl die EU die Mittel gibt.
Zweites Beispiel: FFH-Gebiete. Da hat nicht nur BadenWürttemberg, aber insbesondere Baden-Württemberg, jahrelang geschlafen. Deshalb hat uns der Europäische Gerichtshof gerügt, obwohl wir doch das Recht hätten, im Rahmen europäischer Leitlinien Fördermöglichkeiten auszuschöpfen. Das muss man dann aber auch wahrnehmen.
Deshalb denke ich: Starke und kompetente Regionen mit einem starken und kompetenten Brüssel – so wird ein Schuh daraus. Das ist unsere Vision von einem Europa von morgen. Wir müssen dafür sorgen, dass die kommunale Selbstverwaltung in Europa nicht aufgegeben wird. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Gemeinden und Städte, dass die Regionen Kompetenzen erhalten. Deshalb sollten wir Europa an Prinzipien knüpfen.
Das erste Prinzip, das Demokratieprinzip, ist nicht überraschend. Das zweite, das Subsidiaritätsprinzip, wurde auch von Herrn Reinhart angesprochen und müsste eine Selbstverständlichkeit sein. Europa darf nur das regeln, was auf einer niedrigeren Ebene nicht geregelt werden kann. Drittes Prinzip: Transparenzprinzip. Weitere Prinzipien: Partizipationsprinzip und Solidaritätsprinzip. Auf diesen Prinzipien können wir, glaube ich, das Europa von morgen aufbauen.
Der entscheidende Punkt wird nächsten Monat bei der Regierungskonferenz in Laeken in Belgien zum Abschluss der belgischen Präsidentschaft in Angriff genommen. Da wird es um das Ziel einer europäischen Verfassungsgebung, eines europäischen Konvents gehen. Da kann ich Ihnen auch sagen: Das wird nicht so laufen, dass man sich kurz hinhockt und eine Verfassung zusammenzimmert, sondern ganz entscheidend ist, diesen Prozess bis 2004 hinzukriegen. Es kann nicht so sein, dass an diesem Prozess wieder nur Regierungen beteiligt werden, sondern da müssen die nationalen Parlamente einbezogen werden. Da müssen die Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden. Deshalb müssen wir aufpassen. Das, was Europa auch ausmacht, wie Sie es, Herr Kollege Reinhart, gesagt haben,
nämlich dass Europa eine Friedensgemeinschaft sein soll, dass Europa nur dann Zukunft hat, wenn sich die europäischen Gesellschaften, die Bürgergesellschaften, die Zivilgesellschaften zusammenschließen, muss bei der Zusammensetzung dieses Konvents berücksichtigt werden. Das heißt nichts anderes, als dass auch die Bürgerinnen und Bürger und auch Nichtregierungsorganisationen als Beobachter an diesem Konvent teilnehmen. Nur so schaffen wir es, dass Europa nicht nur eine Frage von Institutionen ist, sondern dass es in die Köpfe und Herzen der Menschen vordringt
und dass die Menschen endlich verstehen, wo die Vorteile Europas liegen, dass wir Europa nicht nur als bürokratisches Monster, als große Zensurbehörde erleben, die den Leuten vorschreibt, wie sie leben sollen, sondern dass sie auch die Chancen Europas wahrnehmen.
(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Reinhart CDU: Endlich kriegt der Kollege Salomon Beifall von unserer Seite!)
Lassen Sie mich, hoffentlich ohne dass es kleinkariert wirkt, auch sagen, was wir kleinen Landtagsabgeordneten in diesem kleinen Landtag zu dem großen Europa beitragen können.
Ich glaube, wir sollten uns selber, weil wir nicht so klein sind, wichtiger nehmen. Wir sollten in diesem Haus sehr viel mehr über Europa diskutieren. Ich finde es gut, Herr Minister Palmer, dass das Land von sich aus eine Eurokampagne macht, um die neue Währung den Leuten richtig sinnbildlich beizubringen. Ich finde es ebenfalls gut, dass Sie eine Informationskampagne zur Osterweiterung angekündigt haben. Das ist verdienstvoll. Ich freue mich darüber – für Sie persönlich, aber insbesondere institutionell – dass wir jetzt endlich einen Europaminister haben, also einen Vertreter, der auch Ministerrang hat,
(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Reinhart CDU: Jawohl! – Abg. Pauli CDU: Richtig!)
Ich frage – das muss ich aber weniger an die Regierung, sondern eher an uns Abgeordnete, an den Landtag richten –, wo, wenn wir schon einen Europaminister haben, der Europaausschuss bleibt. Das vermisse ich. Dass Europafragen vom Ständigen Ausschuss behandelt werden, versteht kein Mensch.
Den hätte man zum Europaausschuss umbenennen können. Dann wäre auch auf dieser Ebene deutlich geworden, dass Europa wichtig ist.
Herr Abg. Dr. Salomon, Sie vertreten gute Positionen, und Sie haben auch gesehen, dass wir von der CDU-Fraktion Ihnen Applaus zollen.
Deshalb frage ich Sie jetzt: Sollten nicht gerade Sie jetzt bei der Beratung des Zuwanderungsgesetzes sich für eine europäische Zuwanderungspolitik einsetzen? Dieses Konzept, dieser Inhalt fehlt mir bei der Beratung im Bundeskabinett. Ich fordere Sie auf, die Diskussion von heute früh nicht fortzuführen, sondern sich dafür einzusetzen.
Ich kann die Frage mit einem Ja beantworten. Ich kann auch sagen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass das, was wir zum Thema Zuwanderung jetzt auf den Weg bringen, endlich europäische Standards erfüllt, und insbesondere – ohne jetzt eine Rückholdiskussion zu heute Vormittag zu führen – das, was an nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung endlich aufgenommen wird, sind europäische Standards. Darum muss ich umgekehrt fragen, wie Sie eigentlich glauben, das verhindern zu wollen, und dann von Europa reden. Das leuchtet mir nicht ein.
Auf jeden Fall sollten wir – und damit komme ich zum Schluss meiner Rede –, wenn sich CDU und FDP/DVP irgendwann geeinigt haben, eine Föderalismusdebatte führen. Wir sollten eine Föderalismusenquete einsetzen, die dann auch klärt, wer wofür in Europa zuständig ist, wo die Kompetenzen sind.
Ganz zum Schluss bedauere ich noch Folgendes: Wir reden einmal im Jahr hier – das sind ja Sonntagsreden, die wir hier halten –