Wir müssen zum Beispiel über das Bildungsverständnis sprechen, das dieser Studie PISA zugrunde liegt. Es geht hier nicht allein um die Frage der handwerklichen Fähigkeit des Lesens, sondern es geht darüber hinaus. Was mich irritiert, ist die Tatsache, dass 50 % aller 15-Jährigen, die in die Untersuchung einbezogen worden sind, klar sagen, dass für sie Lesen kein Vergnügen ist. Wenn das wahr ist, meine Damen und Herren, kommt es allerdings darauf an, in unserem Land eine neue Lesekultur zu entwickeln. Ich füge aber ausdrücklich hinzu: Wenn wir eine neue Lesekultur wollen, müssen wir auch beim Elternhaus beginnen; denn Erziehung und Bildung beginnt im Elternhaus. Wir können das Elternhaus für den Erziehungserfolg nicht außen vor lassen.
Wir müssen die Frage stellen: Können wir von anderen Ländern, die sich an dieser PISA-Studie beteiligt haben, lernen? Man kann immer lernen, meine Damen und Herren. Das ist schon klar. Aber ich behaupte einmal, dass es mit mehr Geld allein auch nicht getan ist.
Korea, Großbritannien, Irland sind Länder, die zwar vor uns liegen, aber weniger Geld ins System geben. Ich komme einfach zu dem Ergebnis: Bevor ich eine Diskussion darüber führe, ob ich mehr Geld ins System gebe, sollten wir darüber reden, ob das Geld, das wir aufwenden, wirklich effizient verwendet wird.
Wir müssen uns über die Frage unterhalten, meine Damen und Herren, ob wir mehr Unterricht brauchen. Auch diese Frage stellt sich aufgrund der PISA-Studie. Ich sage: Wir brauchen nicht mehr Unterricht, sondern besseren Unterricht, meine Damen und Herren.
Wir stehen in einer Wissensexplosion. Das heißt, die Halbwertszeit des Wissens geht ständig zurück, und kein Bildungssystem der Welt – –
Ich wollte Ihnen gerade erklären, dass wir nicht mehr, sondern besseren Unterricht brauchen. Ich wollte weiter darauf hinweisen, dass wir in einer Wissensexplosion stehen – das werden Sie nachvollziehen können –, dass die Halbwertszeit des Wissens ständig zurückgeht. Ich möchte einfach sagen, dass kein Bildungssystem der Welt in der Lage sein wird, den Wettlauf mit dieser Wissensexplosion zu gewinnen und einfach nur obendrauf zu packen.
Worum es geht, ist: Wir müssen damit Schluss machen, dass die Lehrer gewissermaßen mit hängender Zunge den überfüllten Lehrplänen hinterherlaufen.
Die Devise muss sein, dass wir mehr Mut zur Lücke brauchen und dass unser wichtigstes Lernziel das Lernen Lernen sein muss, meine Damen und Herren.
Bei der Grundschule und auch beim Kindergarten spricht vieles dafür, dass hier frühzeitiger gefördert werden muss. Meine Damen und Herren, Kinder sind neugierig. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, ob wir die Grundschule und auch den Kindergarten nicht nur als sozialpädagogische Einrichtungen verstehen dürfen, sondern diese auch als eine Bildungseinrichtung verstehen müssen. Vor allem wird es darauf ankommen, zu erkennen, dass das Einschulungsalter in der Bundesrepublik Deutschland wohl zu hoch ist. Es liegt eher bei sieben als bei sechs Jahren. Ich denke, dass Baden-Württemberg mit einem flexiblen Einschulungsalter nach unten die Hausaufgaben bereits wesentlich erledigt hat.
Wir haben dramatische Veränderungen in der Familie – Sie wissen das alle – und im gesellschaftlichen Umfeld. Ich sage: Man darf Schule auch nicht überfordern. Wir müssen aber sehen, meine Damen und Herren, dass die Erziehungspartnerschaft zwischen Schule und Familie in der Zukunft verbessert werden muss.
Bildung und Erziehung, habe ich gesagt, beginnt im Elternhaus, und die Eltern dürfen wir nicht aus der Verantwortung entlassen.
Die andere Seite ist: Politik beginnt eben bei der Betrachtung der Wirklichkeit, und die gesellschaftliche Wirklichkeit kennen Sie alle. Deshalb muss Schule dem stärker Rechnung tragen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Was heißt dies? Das heißt zum Beispiel, dass die Lehrerausbildung auf den Prüfstand muss. Ich glaube, wir brauchen eine Lehrerausbildung, die einen stärkeren Praxisbezug auch zur Lebenswelt von Kindern hat. Wir brauchen eine stärkere Verzahnung, was die Fachausbildung, die Pädagogik und die Didaktik angeht, und wir müssen uns dazu bekennen, dass Lehrerfortbildung keine freiwillige Veranstaltung ist, sondern in der Zukunft wirklich eine Pflichtveranstaltung sein muss, meine Damen und Herren.
Ich komme zu dem letzten Punkt: Wer über Qualität von Schulen – auch bessere Qualität von Schulen – spricht, der muss dafür sorgen, dass die Motivation der Beteiligten erhöht wird. Die Motivation der Beteiligten kann dadurch erhöht werden, dass deren Möglichkeiten zur Eigenverantwortung und zur Eigengestaltung gestärkt werden.
Meine Damen und Herren, wenn Sie in den Weihnachtsferien die Möglichkeit haben zu lesen und Sie die Wahl haben zwischen diesem Bericht PISA und der berühmten Adlon-Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Herzog, dann empfehle ich Ihnen natürlich beides. Aber im Zweifel sollten Sie diese Adlon-Rede noch einmal nachlesen.
Denn dort steht das drin, was eigentlich für uns alle entscheidend ist. Überschrift: „Wir müssen unser Bildungssystem in die Freiheit entlassen.“ Meine Damen und Herren, das ist der Ansatzpunkt, um den es mir ganz besonders geht.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, lieber Herr Pfister! Der Anlass für die heutige Aktuelle Debatte sollte uns eigentlich eher nachdenklich stimmen, geht es doch hierbei um einen überaus wichtigen und zentralen Inhalt der Schul- und Bildungspolitik im gesamten Deutschland. Es geht hier um die Chancen unserer Kinder und Jugendlichen im inzwischen globalen Wettbewerb, um Bildung, Berufsperspektiven und Prosperität. Wir sind von TIMSS in der Zwischenzeit bei PISA angekommen, und beide Untersuchungen des Wissens- und Bildungsstandes unserer Schüler im internationalen Vergleich haben meines Erachtens in einer ganz erschreckenden Deutlichkeit eine gewisse Schieflage in diesem für Deutschland zentralen Bereich aufgezeigt.
Nach den für uns sicherlich deprimierenden Ergebnissen von PISA, wo es ja um Grundkompetenzen geht – Grundkompetenzen im verstehenden Lesen, in Mathematik und
in den naturwissenschaftlichen Fächern –, können wir es uns meines Erachtens nicht länger leisten, die aufgezeigten Mängel mit halbherzigen Reformansätzen zu beheben. Folgendes scheint mir in der Schule aufgrund der PISA-Studie geboten zu sein:
Erstens: Wir sollten uns davor hüten, in der kommenden Debatte – und wir scheinen ja schon mittendrin zu sein – einen ideologisch motivierten Stellungskrieg zu führen, der uns in der Sache vermutlich keinen Schritt weiterbringen wird.
Zweitens sollten wir uns darum bemühen, die Ergebnisse der PISA-Studie erst nach Vorliegen der Länderdaten ausführlich zu analysieren und nicht emotional, sondern sachlich und rational darüber zu sprechen.
Drittens sollten wir uns davor hüten, Herr Kollege Pfister, bereits im Vorfeld über Patentlösungen und Patentrezepte zu streiten.
Wir sollten uns viertens ebenfalls davor hüten, leichtfertig Schuldzuweisungen vorzunehmen, um die Schuldigen für die in der jüngsten Studie aufgezeigten gravierenden Mängel zu finden.
Herr Zeller, da habe ich ein persönliches Wort an Sie: Auch Sie sollten endlich darauf verzichten, ältere Lehrer systematisch zu attackieren, indem Sie ihnen ständig vorwerfen, nicht auf dem neuesten Stand zu sein.
Das trifft einfach nicht zu. Wir brauchen die älteren Lehrer. Sie haben einen guten Erfahrungsschatz, und den wollen wir uns zunutze machen.
Fünftens sollten wir uns in enger Zusammenarbeit mit den Ministerien mit diesen Analysen auseinander setzen und auf möglichst breiter Basis nach Lösungsmöglichkeiten suchen. Mit Lösungsmöglichkeiten meine ich inhaltliche und strukturelle Reformen.
Sechstens ist für mich die Einbeziehung aller Gruppen erstrebenswert, die direkt oder auch indirekt mit Bildung und Ausbildung unserer Kinder zu tun haben. Dazu gehören für mich die Ministerien, die Schulverwaltung, die Schulen, die Lehrer, die Schüler, die Eltern, die Erzieherinnen in den Kindergärten und die Wirtschaftsverbände ebenso selbstverständlich wie die Gewerkschaften.