Protokoll der Sitzung vom 15.05.2002

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren! Ich darf Sie alle sehr herzlich begrüßen.

Wir alle haben uns darauf gefreut, dass unsere Plenartagungen heute und morgen hier in Karlsruhe stattfinden. Diese Freude ist freilich überlagert durch unsere Erschütterung über die furchtbare, unfassbare Bluttat im Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002.

Es gibt keine Worte, mit denen wir unseren Gefühlen Ausdruck verleihen können angesichts des Amoklaufs, der 16 Menschen aus dem Leben gerissen hat. Es steigert unser Entsetzen, dass ein solches Verbrechen gerade an einer Schule geschehen ist.

Uns ist bewusst, wie viele Fragen sich stellen. Das Entsetzen darf also nicht lähmen. Lassen Sie uns deshalb, bevor wir unsere Alltagsarbeit tun, gemeinsam einen Moment innehalten in der Trauer um die Opfer und in der Anteilnahme am Schmerz der Angehörigen.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.)

Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen ihre Plätze wieder ein.)

Meine Damen und Herren, wir dürfen heute im Bürgersaal dieses Rathauses tagen. Ich darf nun Herrn Oberbürgermeister Fenrich das Wort zu einem Grußwort erteilen.

Heinz Fenrich, Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe: Verehrter Herr Landtagspräsident, Herr Ministerpräsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, Mitglieder des hohen Hauses, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie in Karlsruhe zur ersten auswärtigen Plenarsitzung des Landtags anlässlich des 50-jährigen Bestehens unseres Landes Baden-Württemberg herzlich willkommen. Es ist eine ausgezeichnete Idee, aus Anlass dieses Jubiläums sozusagen hinaus aufs Land zu gehen und Sitzungen außerhalb der Landeshauptstadt abzuhalten. Das bringt die Verbundenheit der obersten politischen Entscheidungsträger mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes zum Ausdruck. Und Sie erlauben mir diese Bemerkung eine bessere Wahl, als damit in Karlsruhe, der ehemaligen badischen Residenz, zu beginnen, hätten Sie gar nicht treffen können. Denn Karlsruhe besitzt eine lange parlamentarische Tradition, auf die wir in Karlsruhe auch sehr stolz sind.

Das badische Ständehaus, das 1822 von den Parlamentariern bezogen wurde, war der erste eigenständige Parlamentsbau Deutschlands. Seine Arbeit gründete auf der badischen Verfassung von 1818. Sie war nicht die erste, aber sie galt als die damals fortschrittlichste und freiheitlichste Verfassung aller deutschen Länder.

Die Volksvertreter im Ständehaus zu Karlsruhe leisteten mit ihren auf hohem Niveau geführten Debatten einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland. Der Badische Landtag wird deshalb häufig auch als Wiege der Demokratie bezeichnet.

Die Zeit bis 1848/49 war gewiss die Blütezeit des Badischen Landtags. Aber auch nach der Revolution strahlten vom Badischen Landtag Impulse weit über den deutschen Südwesten hinaus aus. So wurde hier nach dem Ende der Monarchie die erste demokratische Verfassung verabschiedet.

Die reichen Traditionen dieses badischen parlamentarischen Erbes wurden 1933 von den Nationalsozialisten nur unterbrochen. Sie wurden nicht in Baden fortgeführt, sondern sie gingen über in den baden-württembergischen Landtag. Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete, sind heute und morgen an einen bedeutenden Ort Ihrer, unser aller parlamentarischen Tradition zurückgekehrt.

Einer Ihrer Tagesordnungspunkte beschäftigt sich mit der Technologieregion Karlsruhe. Deshalb darf ich darauf verzichten, im Rahmen dieses Grußworts auf diese erfolgreiche Region näher einzugehen.

Gestatten Sie mir nur so viel zum Abschluss: Unser Land lebt von seiner geographischen Vielfalt, von seiner Vielschichtigkeit an kulturellen Identitäten und Mentalitäten und von seiner Unterschiedlichkeit in den wirtschaftlichen Strukturräumen. Schlicht: Baden-Württemberg lebt von seinen Regionen. Deshalb muss, so meine ich, die Landespolitik auf eine Stärkung der Regionen und der regionalen Strukturen ausgerichtet sein. Denn genauso, wie gilt, dass die Regionen von einer starken Landeshauptstadt profitieren, gilt auch, dass das Land nur so stark ist wie seine Regionen. Baden-Württemberg ist ein Erfolgsmodell, zu dem wir in Karlsruhe, in der Region Karlsruhe einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet haben.

Ich wünsche Ihnen an den beiden Sitzungstagen konstruktive und fruchtbare Debatten, über die die Geschichtsschreiber einmal Ähnliches berichten mögen, wie seinerzeit der Schweizer Schriftsteller Friedrich Zschokke meinte:

(Heinz Fenrich)

Das Wort, im Ständesaal zu Karlsruhe gesprochen, lebendig, erhebend, beruhigend, belehrend hallt es von dem Fuß der Alpen bis zu den Ufern des deutschen Meeres.

Herzlich willkommen in Karlsruhe!

(Beifall bei allen Fraktionen)

Vielen Dank, Herr Oberbürgermeister Fenrich, für dieses Grußwort. Ich darf ergänzend darauf hinweisen, dass Karlsruhe heute zum zweiten Mal eine Premiere des Landtags von Baden-Württemberg erlebt: nämlich die erste reguläre Arbeitssitzung, die wir auswärts abhalten. Die andere Premiere fand vor 33 Jahren statt: Am 22. April 1969, dem 150. Jahrestag des ersten Zusammentritts der Zweiten Kammer der badischen Landstände, verließ der Landtag von Baden-Württemberg erstmals Stuttgart, um hier in Karlsruhe zu tagen.

Allerdings handelte es sich „nur“ um eine Festsitzung. „Nur“ steht freilich in dicken Anführungszeichen. Denn diese Festsitzung führte an die Wiege der parlamentarischen Demokratie in Deutschland zurück, wie dies Herr Oberbürgermeister Fenrich schon ausgeführt hat. Der Landtag erinnerte auch als Lehrstunde zur eigenen Geschichte an das weit ausstrahlende Ringen der Zweiten Kammer der badischen Landstände um Freiheit und Gleichheit, um Demokratisierung und Parlamentarisierung ein Ringen, das die deutschen Demokraten des 19. Jahrhunderts mit großer, hoffnungsvoller Aufmerksamkeit hatte nach Karlsruhe blicken lassen.

Unsere heutige Plenarsitzung soll daher beides sein: zum einen eine Reverenz an das alte Land Baden und an all das, was hier für die Entwicklung der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie und für die deutsche Einheitsbewegung geleistet worden ist, und zum anderen eine Geste an die Stadt Karlsruhe, die es gerade angesichts des badischen Beitrags zur deutschen Freiheits- und Staatsgeschichte schmerzen muss, nicht mehr zum Kreis der Landeshauptstädte zu zählen.

Dass uns die Stadt Karlsruhe heute und morgen in ihrem Rathaus beherbergt und den Ratssaal für das Plenum zur Verfügung stellt, ist umgekehrt gewiss ebenfalls ein politisches Zeichen, und das registrieren wir gerne. Wir danken Ihnen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Fenrich, ganz herzlich für diese Gastfreundschaft und für die vielfältige organisatorische Unterstützung, die uns von Ihnen zusammen mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gewährt worden ist.

Ich habe bereits angedeutet: Deutschland hat Baden im Allgemeinen und Karlsruhe im Speziellen viel zu verdanken. Baden war nach Napoleon nicht nur ein Mittelstaat, dessen Größe reichte, um politisches Gewicht und eine erhebliche Wirtschaftskraft zu besitzen, in Baden konnten ein spezifisches Staatsgefühl, ein ausgeprägtes Bürgerbewusstsein und ein berechtigter Stolz auf ein fortschrittliches Gemeinwesen wachsen. Denn Baden bekam 1818, wie schon erwähnt, die liberalste Verfassung, 1831 die liberalste Gemeindeordnung in Deutschland, Baden wählte 1849 das erste wirklich demokratische Parlament Deutschlands, und

1919 war Baden mit der Einführung des Frauenwahlrechts noch einmal allen anderen deutschen Ländern voraus.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Zudem war Baden im 19. Jahrhundert, wie wir Heutigen sagen, ein moderner Wirtschaftsstandort mit einer vorzüglichen Verwaltung. Schon 1807 eröffnete Johann Gottfried Tulla hier in Karlsruhe die erste Ingenieurschule, aus der sich 1825 das Polytechnikum und 1865 die Technische Hochschule entwickelte.

Diese willkürlich ausgewählten Facetten zeigen: Was badische Identität genannt wird, ist keine Fata Morgana. Sie ist eine der Grundsubstanzen, aus denen sich das Selbstverständnis Baden-Württembergs zusammensetzt. Gerade uns, dem Landtag von Baden-Württemberg, obliegt es, die freiheitlich-demokratische Tradition Badens zu pflegen, also, wie es im Sprichwort heißt, nicht als Asche zu bewahren, sondern als Flamme am Brennen zu halten.

Ich denke, wir spüren alle: Sich der beeindruckenden Vergangenheit Badens und seiner Hauptstadt Karlsruhe zu erinnern vermittelt Orientierung und hilft, den Weg zu neuen Zielen zu finden. Denn die besten Mittel gegen zentralistische Tendenzen sind, den Gestaltungsauftrag der Kommunalfreiheit selbstbewusst auszulegen und aus der eigenen Stadt und der eigenen Region ein unverwechselbares Zukunftsprojekt zu machen. Voraussetzung ist freilich, dass die Landespolitik vergleichbare Entwicklungschancen gewährleistet und regionale Initiativen akzeptiert.

So hat der Landtag in seiner Stellungnahme zur Fortschreibung des Landesentwicklungsplans den politischen Willen zum Ausdruck gebracht, dass die Region Mittlerer Oberrhein und der Rhein-Neckar-Raum landespolitisch einer „europäischen Metropolregion“ gleichgestellt werden sollen. Und wir sehen mit Respekt, wie die Raumschaft hier mit dem Kristallisationspunkt Karlsruhe freiwillig ihre Kräfte bündelt, ihre eigenen schlanken Organisationsformen nach Maß schneidert, die Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nutzt und so ihre Entwicklung als Technologieregion in vielen Bereichen mit großem Erfolg beflügelt.

Ich spreche daher sicher im Namen von uns allen, wenn ich der Technologieregion Karlsruhe und Pforzheim noch nachträglich gratuliere, dass sie vor etwa einem Monat für ihre hervorragende Unterstützung innovativer Unternehmensgründungen von der EU prämiert worden ist. Europaweit erhielten 22 Regionen diese Auszeichnung. Zwei kamen aus Baden-Württemberg: neben dem mittelbadischen Raum auch Stuttgart. Dieses vielleicht nicht spektakuläre, aber eminent wichtige Beispiel zeigt griffig: Bewusste Vielfalt ist Stärke.

Meine Damen und Herren, nicht nur die bedeutsame Tradition und die kulturelle Substanz des badischen Kernlandes, sondern dessen ökonomische Potenziale, geographische Lage und regionales Selbstbewusstsein sind künftig mehr denn je notwendige Eckpfeiler der Entwicklung unseres Landes Baden-Württemberg.

Meine Damen und Herren, wir treten nun in die Tagesordnung ein. Ich eröffne die 25. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg.

Urlaub für heute habe ich Frau Abg. Queitsch und Herrn Abg. Alfred Haas erteilt.

Dienstlich verhindert sind Herr Wirtschaftsminister Dr. Döring und Herr Minister Köberle.

Meine Damen und Herren, die Amtszeit der vom Landtag von Baden-Württemberg in seiner Sitzung am 9. Juli 1998 gewählten Vertrauensleute und Vertreter für den Ausschuss zur Wahl der ehrenamtlichen Finanzrichter beim Finanzgericht Baden-Württemberg in Karlsruhe läuft am 29. August 2002 ab. Es sind daher nach § 23 Abs. 2 Satz 2 FGO sieben Vertrauensleute und sieben Vertreter vom Landtag oder von einem durch ihn bestimmten Landtagsausschuss für die am 30. August 2002 beginnende vierjährige Amtsperiode zu wählen. Ich schlage vor, das Schreiben des Justizministers vom 22. April an den Ständigen Ausschuss mit dem Auftrag zu überweisen, die Wahl der Vertrauensleute durchzuführen. Ich stelle keinen Widerspruch fest. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe dann Punkt 1 der Tagesordnung auf:

a) Mitteilung der Landesregierung vom 11. Dezember 2001 Positionen zur Zukunft der Europäischen Union; hier: Beschluss der Landesregierung vom 11. Dezember 2001 Drucksache 13/580

b) Antrag der Fraktion GRÜNE und Stellungnahme des Staatsministeriums Begleitung des EU-Verfassungskonvents Drucksache 13/823

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Oettinger.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich vor Eintritt in die Sachdebatte dem Kollegen Kretschmann zu seiner Wahl als Fraktionsvorsitzender gratuliere und ihm faire, aber konkurrierende Zusammenarbeit zusage. Ich freue mich auf einen sportlichen Wettbewerb und wünsche ihm alles Gute.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Genauso will ich Herrn Kollegen Salomon meinen Respekt zu seiner Wahl zum Oberbürgermeister zollen und ihm zusagen, dass die Stadt Freiburg das Interesse der CDU-Fraktion auf Dauer behalten wird.

(Heiterkeit Beifall bei allen Fraktionen)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitteilung der Landesregierung stellt Positionen zur Zukunft der Europäischen Union vor, die es heute zu beraten gilt. Ich sage für die CDU-Landtagsfraktion, dass wir in diesen Beschlüssen der Regierung zukunftweisende, konsequente, mutige und klare Positionen sehen, die Europa gerecht werden, die die Interessen des Föderalismus vertreten, die Baden-Württemberg dienen und die es deswegen auch durch den Landtag von Baden-Württemberg zu unterstützen gilt. Wir sehen in diesem Beschluss eine richtungweisende Konzeption.

Diese Mitteilung der Landesregierung informiert den Landtag frühzeitig und umfassend über die Ausgangslage der Regierung, bevor der Europäische Konvent seine Arbeit aufgenommen hat. Mit dem heutigen Debattenbeitrag des Ministerpräsidenten erfahren wir einen Zwischenbericht nach Abhaltung der ersten Sitzungen des Konvents. Mit den Stellungnahmen der Fraktionen wird es möglich, aufzuzeigen, wo zwischen den Fraktionen des Landtags Übereinstimmung herrscht, wo wir unsere Interessen wirkungsvoll vertreten können oder an welchen Stellen es um Nachbesserung oder Korrektur geht bzw. wo es Streit gibt. Die Debatte kommt heute jedenfalls zur richtigen Zeit.

Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union ist ein zentrales Organ, das eine Weichenstellung für Europa, für unsere Zukunft, für unseren Kontinent vornehmen wird. Wir freuen uns nachdrücklich, dass mit Erwin Teufel ein Baden-Württemberger, unser Regierungschef, dort sitzt und Stimme, Gewicht und Mitwirkungsrechte hat. Deswegen wünschen wir ihm für seine Beiträge in den nächsten Wochen und Monaten guten Erfolg. Unser Rückenwind dafür ist ihm gewiss.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Die Mitwirkung des Ministerpräsidenten, eines erfahrenen Regierungschefs eines großen Landes im Herzen Europas, ist eine Chance für den Föderalismus, für die Länder, für die kommunale Selbstverwaltung, für den Gedanken der Regionen in Europa und für Baden-Württemberg ganz speziell. Deswegen wünschen wir Ihnen, Herr Ministerpräsident, in unserem gemeinsamen Interesse für Ihre Arbeit viel Erfolg.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)