Protokoll der Sitzung vom 14.11.2002

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der europäische Einigungsprozess ist eine doppelte Herausforderung. Eine Vielzahl von ehemals nationalstaatlich regulierten Politikfeldern kann in einem Europa des freien Personen-, Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs immer weniger auf einzelstaatlicher Ebene und schon gar nicht auf regionaler Ebene angemessen bearbeitet werden: von der Umweltpolitik über die Sozial-, die Wirtschafts- und die Finanzpolitik bis hin zur Sicherheits- und Außenpolitik. Gewiss muss Europa auch an allererster Stelle verhindern, dass weiter Steueroasen existieren, die jeden rationalen Finanzrahmen unterlaufen.

(Abg. Theurer FDP/DVP: Da kommen halt die Un- terschiede zwischen Liberalen und Sozialisten zum Ausdruck!)

Das ist ja wirklich abenteuerlich, was Sie da vertreten haben, Herr Kollege Theurer.

(Beifall bei den Grünen)

Hierzu bedarf es eines europäischen Rahmens, der sich mit fortschreitender Integration weiterentwickeln muss. Das ist in diesem Hause nicht umstritten.

Andererseits – das ist die zweite Herausforderung – müssen die Entscheidungsstrukturen und die verschiedenen Ebenen jenseits der fortbestehenden nationalen Strukturen demokratisch legitimiert sein und von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert werden. Das heißt, Vorgaben und Ziele müssen möglichst dezentral und bürgernah umgesetzt werden.

Die Behebung dieser Defizite der EU von heute – und es existieren viele – birgt die Zukunft des Europas von morgen. Der Zwang, dies endlich anzugehen und Europa grundsätzlich zu einer demokratisch legitimierten, den Menschenrechten verpflichteten nachhaltigen und sozialen politischen Union weiterzuentwickeln, ist durch die unmittelbar bevorstehende Osterweiterung um zunächst zehn Staaten außerordentlich dringlich geworden.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja, das ist wahr!)

Meine Damen und Herren, der EU-Konvent zur Erarbeitung eines europäischen Verfassungsentwurfs hat Erwartungen und Hoffnungen auf eine Dynamik und Beschleunigung des europäischen Einigungsprozesses geweckt. Das Präsidium hat dem Konvent und der Öffentlichkeit Ende Oktober einen ersten Verfassungsentwurf vorgelegt. Darin sind die inzwischen unstrittigen Positionen aus der bisherigen Arbeit des Konvents aufgenommen: die Notwendigkeit eines europäischen Verfassungsvertrags, der Unionsgedanke, der Status der Rechtspersönlichkeit, eine Institutionenordnung und die Integration der Grundrechtecharta.

Andererseits gibt der Entwurf auch Anlass zur Kritik. Statt einer gemeinsamen Außenpolitik wird eine lockere Koordination der Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, ebenso für die Bereiche der Verteidigung und der inneren Sicherheit wie der Polizei. Das kann in keiner Weise auf unsere Zustimmung stoßen. Ich glaube, die Auseinandersetzungen, die wir in jüngerer Zeit hatten, vor allem im ehemaligen Jugoslawien, machen nichts so dringend erforderlich wie eine einheitliche europäische Außenpolitik.

(Beifall bei den Grünen)

Trotz vieler entsprechender Forderungen aus den Reihen des Konvents ist eine Sozialunion nicht vorgesehen. Dagegen werden, vor allem von den Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens, Forderungen nach einem europäischen Präsidenten und einem europäischen Kongress in den Konvent eingeschleust, die im Gegensatz zu der von vielen Mitgliedern gewünschten Stärkung der Kommission und vor allem des Europäischen Parlaments stehen. Wir Grünen und die Föderation der grünen Parteien Europas vertrauen darauf, dass sich die Mehrheit des Konvents diesen Punkten widersetzen wird und ein Europa der Bürgerinnen und Bürger und nicht bloß der Staaten schaffen will. Auch die europäischen Konservativen ha

ben vorgestern einen Verfassungsentwurf vorgestellt, in dem die Inthronisierung eines EU-Präsidenten als Gegengewicht zum Präsidenten der Kommission ausdrücklich abgelehnt wird, was wir begrüßen.

Wir setzen uns dafür ein, dass die für die Zukunft elementaren Themen nun endlich auf die Tagesordnung des Konvents gesetzt werden und Eingang in den Verfassungsentwurf finden: Nachhaltigkeit mit der Übernahme der hohen Standards des Amsterdamer Vertrages, ein soziales Europa und vor allem auch die kommunale Selbstverwaltung – das ist uns hier sowieso ein großes Anliegen –, die Einbeziehung der konstitutionellen Regionen und die strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig! Ja! Zustim- mung!)

Die Erweiterung der EU auf 25 Staaten erzwingt eine Agrarreform und eine Neuorientierung der Kohäsions- und Strukturpolitik der Union und ihrer Finanzierung. Die regionalen Unterschiede werden künftig noch erheblich größer werden als bisher. Bei Beibehaltung des gegenwärtigen Finanzvolumens der Strukturfonds und der bisherigen Förderkriterien würden die Fördermittel ab 2007 überwiegend in die neuen Mitgliedsstaaten fließen.

Ich möchte deswegen an dieser Stelle entschieden davor warnen, zu versuchen, die Haushaltssituation im Land dadurch zu verbessern, dass man – das hat ja Wirtschaftsminister Dr. Döring angekündigt – die Komplementärmittel für EU-Fördermaßnahmen des Europäischen Sozialfonds kürzt. Das Land erhält in der laufenden Förderperiode, also von 2000 bis 2006, jährlich 33 Millionen € aus ESF-Mitteln, davon 23 Millionen € das Sozialministerium und 10 Millionen € das Wirtschaftsministerium. Wenn die Kofinanzierung des Landes entfiele, bedeutete dies das Aus für viele Projekte, und gleichzeitig würden Sie Geld wegwerfen, das aus Brüssel dann in die Bundeskasse zurückfließen würde. Dabei ist es ausdrücklich dem Land zur Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU zugewiesen. Hier Handlungsspielraum und Gestaltungsmöglichkeiten des Landes, aber vor allem auch der Kommunen als innovativen Projektträgern zu verspielen, halte ich schlichtweg für paradox.

(Beifall bei den Grünen)

Meine Damen und Herren, die Landesregierung tritt ein für eine Beschränkung der EU auf politisch-strategische Politikfelder, namentlich die Außenpolitik, den Außenhandel, die Währungspolitik, die Großforschung und den grenzüberschreitenden Umweltschutz. Das findet unsere Unterstützung, im Prinzip natürlich auch die Formel von Ministerpräsident Teufel, es dürfe nur das in Brüssel geregelt werden, was in den Regionen nicht entschieden werden könne.

Aber die begonnene Debatte darf nicht dazu führen, dass wir uns wegen des Beitritts der ärmeren Länder im Osten aus der europäischen Solidarität stehlen. Dies liegt, glaube ich, auch in unserem eigenen Interesse. Im EU-Konvent sind die Kompetenzfragen noch nicht abschließend geklärt. Es zeichnet sich jedoch ab, dass bestehende Kontrollmöglichkeiten zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verbessert werden sollen. Die Etablierung eines Frühwarnsystems

und eines Klagerechts auch der nationalen Parlamente vor dem Europäischen Gerichtshof, wie es Ministerpräsident Teufel anstrebt, findet unsere Zustimmung.

Als originäre Kompetenz der Bundesländer sollten wir beispielsweise allgemeine Bildung, Schule, Entwicklung von Forschung und Technologie sowie innere Sicherheit festschreiben.

Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluss noch einmal betonen: Das Europa der Regionen darf nicht auf die institutionelle Vertretung der Regionen in Brüssel oder in anderen regionalen Zusammenschlüssen verkürzt werden. Vielmehr ist es ein zivilgesellschaftliches, grenzüberschreitendes Konzept, indem es die direkten Kontakte zwischen Menschen und den gesellschaftlichen Organisationen in und unter den Mitgliedsstaaten fördert. So entstehen Möglichkeiten der Verständigung und der Zusammenarbeit, Partnerschaften zwischen Städten, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, und zwar auch zwischen ungleichen Regionen.

Die EU hat in der letzten Förderperiode bereits Verbände, Nichtregierungsorganisationen und andere zivilgesellschaftliche Kräfte als Akteure der Planung und Durchführung von INTERREG-Maßnahmen mit benannt. Hier bestehen noch Defizite in der Praxis, denn oft sind es nur die Spitzen von Wirtschaft und regionalen Gebietskörperschaften, die Projekte aushandeln und umsetzen. Hier müssen wir die Menschen mitnehmen, Herr Minister Palmer, hier müssen Transparenz und Information hergestellt werden als Grundvoraussetzungen für die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger, der Vereine und der Organisationen, der Zivilgesellschaft.

(Beifall der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

So bildet sich regionale Identität als Grundfundament von Europa.

Beim letzten Sondergipfel zur Erweiterung folgten die Regionen der EU-Mitgliedsstaaten dem Vorschlag der Kommission und gaben grünes Licht für den Beitritt vieler osteuropäischer Länder. Ich möchte zum Schluss noch einmal betonen: Es gibt dabei natürlich im Rahmen der ganzen Verhandlungen über den Finanzrahmen und die Agrarpolitik Auseinandersetzungen. Da ist durchaus auch Sprengstoff enthalten. Insbesondere Frankreich als Profiteur der gemeinsamen Agrarpolitik, Spanien, das aus Mitteln des europäischen Strukturfonds gut bedient wird, und Großbritannien mit seinem Britenrabatt sorgen für ziemliche Dissonanzen. Ich glaube, die nationalen Eigeninteressen, die Europa stets blockiert oder gebremst haben, dürfen Europa nicht auseinander fallen lassen.

Ich bin fest überzeugt, die Osterweiterung stabilisiert nicht nur das große Ziel der Europäischen Union, Frieden in dieser Region zu haben, den wir nun 50 Jahre hatten, ihn weiter zu stabilisieren und zu festigen. Schon das allein ist es wert. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass die Osterweiterung auch eine wirtschaftliche Dynamik entfalten wird, von der vor allem Deutschland außerordentlich profitieren wird. Deswegen geben wir bei der Osterweiterung nicht unnötig Geld aus, sondern wir tun etwas für Europa, und wir profi

tieren am Schluss wirtschaftspolitisch sehr stark selbst davon.

(Beifall der Abg. Dr. Witzel GRÜNE und Theurer FDP/DVP)

Deswegen sollten wir dafür werben, dass die Osterweiterung das Richtige für das Land und seine Bürgerinnen und Bürger ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU und der FDP/DVP)

Das Wort erhält Herr Minister Dr. Palmer.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Es ist weiß Gott so, dass Europa selten interessanter war, als es sich derzeit in der Diskussion befindet. Wir sind mitten in der Verfassungsgebung. Wir sind in der Vorbereitung für die Osterweiterung, und wir sind in einer tief greifenden wirtschaftlichen und finanzpolitischen Diskussion in Europa, bei der ich nur sagen kann: Zum Glück hat Europa die Zuständigkeit für die Stabilität des Wirtschafts- und Währungspakts in Europa sowie die Zuständigkeit für die Ausgabenüberwachung. Was würde in Deutschland noch alles geschehen, wenn wir hierfür keine europäische Zuständigkeit hätten, meine sehr verehrten Damen und Herren?

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Auch im Lande ist der Stellenwert der Europapolitik im Laufe des vergangenen Jahres deutlich gestiegen.

Es war ein Glücksfall für unser Land, dass der Ministerpräsident im Konvent ist. Am Anfang gab es ein paar Skeptiker, die gesagt haben: Kann er denn die Zeit dafür aufbringen? Mittlerweile ist er einer der zentralen Akteure im europäischen Konventsprozess. Das ist für Baden-Württemberg gut, das ist aber auch für die deutschen Länder, für den Föderalismus in Europa insgesamt gut, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Theurer FDP/DVP – Abg. Dr. Reinhart CDU: Und für den Konvent!)

Wir haben in diesem Jahr einen Riesenschritt nach vorn gemacht bei der Suche, bei der Auswahl, bei der Entscheidung über unsere neue Landesvertretung. Jahrelang haben wir darüber gesprochen. Wir erschließen jetzt völlig neue Felder durch ein zentrales Haus in unmittelbarer Nähe der Kommission, in unmittelbarer Nähe des Europäischen Parlaments. Baden-Württemberg wird in Brüssel wirklich in einer ganz anderen Weise präsent sein als bisher. Wir haben ein Haus, das Treffpunkt für das ganze Baden-Württemberg ist. Wir wollen es bis Sommer kommenden Jahres aufmachen – eine Drehscheibe für das ganze Land, für alle Institutionen, Verbände, Personen, die sich mit Europa auseinander setzen. Ich halte es wirklich für einen Quantensprung, dass es

uns gelingt, dieses Haus in Brüssel zu schaffen, um unser Land als starke Region im Herzen Europas zu präsentieren. Wir haben es in diesem Jahr zusammen hinbekommen. Herzlichen Dank dafür!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Wir machen die Verwaltung fit für Europa. Leider ist noch nicht in allen Köpfen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dass die Auswirkungen von europäischer Ebene her für immer mehr Lebensbereiche mit bedacht werden müssen. Das reicht bis in das kleinste Vermessungsamt, bis in das kleinste Finanzamt hinein. Nur wenn wir beim Verwaltungshandeln, bei Entscheidungen die europäische Dimension mit bedenken, werden wir heute der Komplexität von Entscheidungen und Problemen gerecht. Deshalb haben wir als erstes Bundesland in Deutschland eine Gesamtkonzeption für die Europafähigkeit der Verwaltung auf den Weg gebracht und einen dynamischen Europool mit 100 Beamten eingerichtet. Wir bemühen uns, Personen nach Brüssel zu bekommen. Deutschland hat Nachholbedarf, was die Repräsentanz von deutschen Beamten in den europäischen Institutionen betrifft. In dieser Hinsicht müssen wir uns gewaltig anstrengen.

(Beifall bei der CDU)

Die Bürger erkennen, dass Europa wichtiger wird. Die Akzeptanz für Europa steigt, wie wir durch das Eurobarometer wissen. Die Bürger wollen freilich ein Europa, das von unten nach oben gebaut wird, ein Europa, das ihnen nicht übergestülpt wird und das sich auf seine Kernaufgaben beschränkt. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist unsere Messlatte, die wir auch an die Konventsarbeit anlegen, dass wir ein Europa bekommen, das von unten nach oben gebaut ist.

Ich will heute versuchen, Ihnen einen kleinen Zwischenbericht über das zu geben, was wir erreichen konnten – der Ministerpräsident im Konvent zusammen mit vielen anderen; allein erreicht man gar nichts, sondern nur in der Vernetzung mit Gleichgesinnten, auch über die Parteigrenzen hinweg – und was wir noch nicht erreicht haben und noch auf den Weg bringen müssen.

Zunächst einmal ein großes Kompliment an das Präsidium des Konvents, an Valéry Giscard d’Estaing. Die Pessimisten haben es nicht für möglich gehalten, dass man nach ein paar Monaten eine Verfassung im Grundgerüst vorlegen kann. Man hat jetzt gesehen, dass es möglich ist – so, wie man 1787 in Philadelphia zu einer amerikanischen Bundesverfassung gekommen ist –, für Europa einen konstitutionellen Akt zu schaffen, der am Beginn des 21. Jahrhunderts steht und die europäischen Völker in einer gemeinsamen Verfassungsgrundlage zusammenführt. Allein das ist schon eine Leistung.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir werden die Säulenstruktur abschaffen. Die bisher ziemlich planlos nebeneinander stehenden einzelnen Vertragsbestandteile werden zu einem Ganzen mit einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit zusammengefügt.

(Minister Dr. Christoph Palmer)

Was gerade im europäischen Ausland teilweise auf Skepsis gestoßen ist und was bei uns viele nicht für möglich gehalten haben, wird explizit als Bauprinzip Europas verwirklicht. Sie können jetzt im Verfassungsgerippe des Konvents lesen, dass die Grundsätze der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit und der begrenzten Einzelermächtigung die Bauprinzipien Europas sind. Das ist das, was wir immer wollten: einzelne Kompetenzübertragungen nur auf rechtlicher Grundlage, keine schleichende Übernahme von Kompetenzen, Verhältnismäßigkeit des Tätigwerdens und Subsidiarität des Handelns. Wir finden uns in diesen Grundsätzen voll wieder.