Protokoll der Sitzung vom 19.02.2003

Es ist Überzeugendes zum Wettbewerb gesagt worden. Wir wollen und bejahen Wettbewerb in jedem Bereich, aber nur für diejenigen, die unter gleichen Startvoraussetzungen im Wettbewerb mithalten können. All denjenigen, die das nicht können, muss man solidarisch helfen. Auch das gehört zur Grundüberzeugung der Subsidiarität.

(Beifall bei der CDU, der FDP/DVP und den Grü- nen)

Subsidiarität ist eine menschennahe staatliche Ordnung. Sie geht nämlich davon aus, dass das ursprünglichste Recht bei der kleinsten Einheit ist. Die kleinste Einheit ist die Stadt und die Gemeinde.

Wir müssen der kommunalen Selbstverwaltung mehr zutrauen – ich sage das auch an unser aller Adresse –, bevor wir Forderungen nur nach oben stellen. Ich habe in meinem politischen Leben viele Föderalisten kennen gelernt, aber sehr häufig waren es „Föderalisten nach oben“ mit Forderungen, wenn sie Landespolitiker waren, an den Bund und an Europa. Nein, man muss Föderalist auch nach unten sein.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Sehr gut! – Abg. Drex- ler SPD: Dann könnte man es auch hineinschrei- ben!)

Deswegen fange ich wirklich mit der kommunalen Selbstverwaltung an. Ich habe in diesem Haus vor 30 Jahren, als wir über die Gemeindereform diskutiert haben, gesagt: Derjenige, der eine Aufgabe weiter oben ansiedeln will, ist beweispflichtig, dass diese Aufgabe nicht auf der untersten Ebene genauso gut oder gar besser erledigt werden kann. Ich war nie ein Eingemeindungsfanatiker. Überall dort, wo ich beispielsweise selbst Verantwortung getragen habe, sind die Gemeinden heute noch in Verwaltungsgemeinschaften selbstständig und sind nicht Einheitsgemeinden.

(Beifall bei der CDU)

Das ist meine innerste Überzeugung.

Nach der Gemeinde kommt der Kreis, und das ist eine weitere Selbstverwaltungsebene. Ich habe oft bei Verwaltungsreformmaßnahmen Oberbürgermeister von Großen Kreisstädten sagen gehört: „Gebt doch Aufgaben von den Regierungspräsidien herunter, aber nicht an die Landkreise. Wir wollen die Aufgabe gar nicht delegiert haben, wenn sie nicht auf die Ebene der Gemeinde selbst kommt.“ Nein, ich sage: Auch der Kreis ist eine Selbstverwaltungsebene.

(Ministerpräsident Teufel)

Dann kommt das Land, der Kanton, in der Sprache Europas die Region, wobei sich die deutschen Länder von anderen unterscheiden. Wir sprechen oft von Bundesländern. Es gibt aber in Deutschland keine Bundesländer, sondern es gibt nur Länder, und diese haben Staatsqualität. Sie haben eine Haushaltshoheit, sie haben ein eigenes Parlament, sie haben eine eigene Regierung, sie haben einen Staatsgerichtshof. Das muss man vielen außerhalb Deutschlands zuerst einmal erklären. Dann muss man aber sehen, was das für eine Bedeutung hat. Man muss in Deutschland den Ländern wieder mehr zutrauen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Ab- geordneten der SPD und des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Bemerkenswert ist doch auch die Haltung des Parlamentarischen Rates, dass nicht nur die Grund- und Menschenrechte im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes Ewigkeitscharakter haben, sondern dass im Grundgesetz auch der föderalen Ordnung Ewigkeitscharakter zugesprochen worden ist, also auch mit verfassungsändernder Mehrheit keine Änderung möglich ist. Aber ein Unterspülen und Unterlaufen haben wir in den letzten 50 Jahren erlebt, ohne dass die Verfassung geändert worden wäre.

Die Länder sind autonom. Wir sind Glieder der Bundesrepublik Deutschland, eines Gesamtstaats, und bekennen uns dazu, auch zur Bundestreue, wobei ich gerade versuche, auf europäischer Ebene klar zu machen, dass Bundestreue Gegenverkehr bedeutet. Von beiden Seiten muss es, glaube ich, eine Treue geben.

Niemand, der die geschichtliche Entwicklung in Deutschland seit 1949 entweder selbst erlebt hat oder sich als Jüngerer mit ihr befasst, wird bestreiten können, dass wir in dieser Zeit eine Einbahnstraßenentwicklung hin zum Zentralstaat, hin zum Bund gehabt haben. Das war eine Einbahnstraßenentwicklung, und zwar fast ohne jeden Gegenverkehr. Deswegen, glaube ich, sind Korrekturen notwendig.

Die Punkte sind genannt worden. Die Mischfinanzierungen: Bei den Mischfinanzierungen weiß niemand, wer zuständig ist und wo er Kritik oder Anerkennung anbringen kann. Die Gemeinschaftsaufgaben: Ich glaube, wir müssen alle Gemeinschaftsaufgaben aufgeben.

(Zuruf von der FDP/DVP: Ja!)

Das bedeutet Selbstkritik; denn vieles ist beispielsweise in der Zeit der Großen Koalition zwischen 1966 und 1969 entstanden. Wir haben heute andere Erfahrungen, und wir sollten die Entwicklung korrigieren.

Die konkurrierende Gesetzgebung ist das eigentliche Problem. Der Parlamentarische Rat ist davon ausgegangen, dass es die Regel ist, dass der gesamte Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung bei den Ländern und damit bei den Länderparlamenten angesiedelt ist. Der Bund hat nicht nur die Hälfte, nicht nur 90 %, sondern 100 % der Gesetzgebungszuständigkeit von der konkurrierenden Gesetzgebung auf die Bundesebene verlagert.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Ich sage immer – auch das ist hier gesagt worden, und ich bestätige dies auch aus meiner Sicht ausdrücklich –: Das ist vor allem zulasten der Landesparlamente gegangen. Die Landesregierungen sind durch eine Mitwirkungsmöglichkeit im Bundesrat entschädigt worden. Wir wollen aber Gestaltungsföderalismus, nicht Mitwirkungsföderalismus. Das ist unsere Position.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ich fand besonders bemerkenswert, worauf Kollege Pfister hingewiesen hat: 1949 unterlagen 13 % der Bundesgesetze der Zustimmungspflicht durch den Bundesrat. Heute sind es 70 %. Das wird kritisiert. Man sagt: Wir sind nicht mehr so schnell entscheidungsfähig, wie dies heute möglich sein sollte. Diese Kritik an die Adresse des Bundesrats zu richten ist reiner Zynismus; denn in nicht einem einzigen Fall ist die Initiative vom Bundesrat ausgegangen. Nicht der Bundesrat möchte mehr zustimmungspflichtige Gesetze. Es handelte sich ausschließlich um Gesetze, die in der Zuständigkeit der Landtage lagen und die der Bund an sich gezogen hat und wofür dann als Ersatz die Mitwirkungsmöglichkeit, die Zustimmungspflicht des Bundesrats geschaffen worden ist. Ich sage hier: Ich bin persönlich bereit, eine Entwicklung mitzumachen, die von 70 % wieder auf 13 % zurückgeht. Ich bin bereit.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Reinhart CDU: Also machen wir es! Fangen wir an!)

Ich bejahe jedes einzelne Gesetz, das in die Zuständigkeit der Landtage zurückgeht. Damit wird sich die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze ganz automatisch verringern. Wem also im Augenblick die Macht und die Mitwirkungsmöglichkeit des Bundesrats auf Bundesebene zu groß sind, der braucht nur bereitwillig Gesetzgebung an die Landesparlamente zurückgeben;

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Fangen wir an!)

dann wird er ganz automatisch den Bundesrat wieder auf jene Ebene bringen, die ihm anfangs der Fünfzigerjahre zugedacht war.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Ja, A und O!)

Meine Damen und Herren, deswegen bejahe ich auch alles, was Kollege Oettinger dazu gesagt hat, wie man es machen muss, um Teile dieser konkurrierenden Gesetzgebung wieder zurückzuerhalten.

Zur Rahmengesetzgebung. Niemand hat dies schöner beschrieben als Bundespräsident Rau in seiner Festansprache zum 50-Jahr-Jubiläum des Landes im Großen Haus. Er hat gesagt, Rahmengesetzgebung sehe heute oft so aus, dass man vor lauter Rahmen das Bild nicht mehr sehe. Rahmengesetzgebung ist also nicht nur ein Rahmen, sondern ist Vollgesetzgebung durch den Bund. Schauen Sie sich das Hochschulrechtsrahmengesetz an – auch das ist angesprochen worden. Das ist doch Detailregelung bis in die letzte Einzelheit. Schauen Sie sich einmal das Bundesbaugesetz an, bei dem der Bund auch nur die Rahmengesetzgebung hat. Von der Quantität und von der Durchdringung bis in die letzte Einzelheit her handelt es sich bei diesen Gesetzen doch um Vollgesetze und nicht nur um Rahmengesetze.

(Ministerpräsident Teufel)

Deswegen sage ich: Ich wäre dabei, die Rahmengesetzgebung ganz aufzugeben und die Kompetenz entweder der Vollzuständigkeit des Bundes oder der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit oder am besten sofort der Zuständigkeit der Länder zuzuordnen.

Nehmen Sie ein Thema wie die ZVS. An solche Themen müssen wir herangehen.

Vom Kollegen Oettinger und von anderen ist natürlich völlig zu Recht die Steuergesetzgebung angesprochen worden. Es gibt in der Steuergesetzgebung auch bei Punkten, wo die 100-prozentige Zuordnung der Steuereinnahmen zum Land gegeben ist, Bundesrecht. An diesen Stellen muss man ansetzen.

Oder nehmen Sie Punkte wie das Altenpflegegesetz. Der Bund geht immer stärker in die Einzelregelungen hinein. Dazu muss ich sagen – Sie haben das angesprochen –: Es hat bisher noch gar nichts gebracht, dass 1994 die Verfassungskommission von Bund und Ländern Artikel 72 des Grundgesetzes entscheidend verändert hat und heute von „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ und nicht mehr von „Gleichheit der Lebensverhältnisse“ gesprochen wird. Diese Änderung hat überhaupt nichts gebracht.

Das Bundesverfassungsgericht – im Entschließungsantrag wird, glaube ich, darauf hingewiesen – hat aber am 24. Oktober 2002 ein bemerkenswertes Urteil zum Thema Altenpflegeausbildung gefällt. Es hat darin ausdrücklich gesagt, es gebe seine ganze frühere Rechtsprechung auf, weil Artikel 72 des Grundgesetzes geändert worden ist. Aber auf Bundesebene hat sich dazu überhaupt noch nichts getan.

Allerdings muss ich auch sagen: Man muss auch noch weitere Entwicklungen außerhalb der Gesetzgebung sehen. Wenn ich jetzt vom Bund spreche, meine ich nicht die jetzige Bundesregierung, sondern alle Bundesregierungen der letzten 50 Jahre.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Es war immer so!)

Die unterscheiden sich in dieser Frage

(Abg. Pfister FDP/DVP: Überhaupt nicht!)

des Zentralismus überhaupt nicht.

Wenn ich das einmal sagen darf: Es ist meine politische Erfahrung, dass Zentralisierung fast ein Naturgesetz ist. Das heißt: Wer für Föderalismus ist, der muss ständig gegen den Strom schwimmen; sonst wird er abgetrieben.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Von selbst läuft es zur Zentrale.

Was macht der Bund dort, wo er Zuständigkeiten nicht direkt an sich ziehen kann, weil das Grundgesetz völlig eindeutig ist? Stichwort Bildungspolitik. Dort gibt er ein paar Mark in den Haushalt.

(Abg. Wieser CDU: Für die Ganztagsschule!)

Er hat für die berufliche Bildung kaum Kompetenz. Er gibt aber ein paar Mark in den Haushalt für überbetriebliche

Ausbildungsstätten, und schon rennen jede Handwerkskammer, jede Industrie- und Handelskammer und jedes Land, holen den Zuschuss ab und geben freiwillig das erste Jahr aus dem dualen System heraus in die überbetriebliche Ausbildungsstätte.

(Abg. Fleischer CDU: So ist es!)

Es gibt weitere Beispiele. Möglicherweise – ich sage das für jeden zum Nachdenken – ist zum Thema, das wir jetzt diskutieren, Tagesordnungspunkt 1 der morgigen Sitzung bedeutender als Tagesordnungspunkt 1 der heutigen Sitzung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)