Deshalb heißt es interessanterweise im vertiefenden Länderbericht auch, dass die quantitative Entwicklung der vergangenen Jahre nicht automatisch zu qualitativen Verbesserungen geführt hat, sondern jetzt Fragen nach der Qualität des Unterrichts, nach der Wirksamkeit von Lernstrategien und den Prozessen einer inneren Schulentwicklung eine neue Phase der qualitativen Entwicklung unseres Bildungswesens eröffnen müssen. Genau mittendrin in dieser qualitativen Phase sind wir in Baden-Württemberg.
Deshalb werden wir unsere Bildungspolitik an der differenzierten Analyse orientieren, die für uns interessante Ergebnisse zeigt:
Erstens: Wenn die mittleren Leistungswerte der 15-jährigen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund in allen drei Kompetenzbereichen ein Niveau aufweisen, wie es in den internationalen Spitzenländern besteht, dann darf nicht generell die Unterrichtskultur infrage gestellt werden.
Das ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass viele unserer Schulen im mittleren Leistungssegment bereits heute ein international erfolgreiches und vergleichbares Leistungsniveau erreichen.
Zweitens: Die mittleren Leistungswerte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch in Baden-Württemberg ein breites Leistungsspektrum haben, ein zu breites Leistungsspektrum, vor allem bezogen auf den Anteil der Jugendlichen im unteren Leistungssegment. In diesem Bereich sind Korrekturen notwendig, weil das genau die Jugendlichen sind, die zum Beispiel bei der Suche nach einer Lehrstelle Probleme haben.
Die Korrektur muss ansetzen bei mehr Differenzierung der Lernprozesse und Fördermaßnahmen quer durch alle Schularten.
Drittens: Es gibt in Deutschland soziale Disparitäten im Zugang zur Bildung. Auch das – das sage ich ausdrücklich – ist eine Schwachstelle in allen Bundesländern. Da ist der Gedanke infrage gestellt, wonach Begabung und nicht die Herkunft über die Schullaufbahn entscheidet. Das ist ein Gerechtigkeitsproblem. Aber richtig ist auch, meine Damen und Herren: Die sozialen Disparitäten beim Zugang zum Gymnasium sind in Baden-Württemberg so gering wie nirgendwo in Deutschland. Das ist ein erster wichtiger Schritt bei der Gerechtigkeitsfrage.
Viertens: Die Entkoppelung von Bildungsgang und Bildungsabschluss ist eine der zentralen Modernisierungsstrategien. In keinem Land in Deutschland ist die Entkoppelung so gelungen wie in Baden-Württemberg. Das hat nach Überzeugung des Max-Planck-Instituts mit der Modernität unserer Hauptschulen und der Durchlässigkeit zwischen
Eine der bedeutendsten bildungspolitischen Entscheidungen in Deutschland ist die Einführung des beruflichen Gymnasiums in Baden-Württemberg.
Die Länderstudie stellt fest, dass ein Drittel der 15-jährigen Realschüler auf Gymnasialniveau lernen. Das korrespondiert mit den 10 % Absolventen aus Realschulen, die an einem beruflichen Gymnasium Abitur machen.
Das freiwillige zehnte Schuljahr an der Hauptschule ermöglicht darüber hinaus den mittleren Bildungsabschluss, der wiederum ein wichtiges Instrument zur Modernisierung im Sinne der Durchlässigkeit zwischen den Schulformen bedeutet.
Baden-Württemberg wird mit der Auswertung der Daten in dieser dritten Phase bescheinigt, dass die Entscheidung nach Klasse 4 für den Besuch einer weiterführenden Schule die Entscheidung für ein bestimmtes Schul- und Lernkonzept ist, nicht aber schon die Entscheidung für einen Bildungsabschluss. Das ist der zentrale Satz in dieser Studie für die Frage nach Modernisierung im Sinne der Schaffung von mehr Gerechtigkeit. Wir entscheiden nach Klasse 4 nicht über den Schulabschluss – wir entscheiden über ein Lern- und Schulkonzept, das mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen verbunden sein kann.
Das heißt auch: Wenn ein Fünftel der Schüler mit Gymnasialempfehlung in Baden-Württemberg die Realschule besucht, ist das keine Schwäche des Systems, sondern Ausdruck der Akzeptanz eines Lernkonzepts, das den Weg zum Abitur nicht verschließt, sondern für ein Drittel unserer Realschüler auf überzeugende Weise den Weg in das berufliche Gymnasium öffnet. Wir werden bereits in Kürze einen Vergleich beruflicher und allgemein bildender Gymnasien vorlegen, der die Vergleichbarkeit der mittleren Leistungswerte in beiden Gymnasialformen bestätigt. Auch das ist ein wichtiger Schritt, eine Art Evaluation der beiden Gymnasialformen, die wir haben.
Fünftens: Baden-Württemberg hat im nationalen wie übrigens auch im internationalen Vergleich mit 28,6 % einen überdurchschnittlichen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Das stellt hohe Anforderungen im Blick auf Integration an unseren Schulen. Die bisherigen Fördermaßnahmen erweisen sich als erfolgreich. In diesem Bereich gilt aber ganz besonders: Stillstand bedeutet über kurz oder lang Rückschritt. Richtig ist aber auch die Feststellung, dass die hohen Investitionen – es sind annähernd
40 Millionen € im Jahr – gerade in diese Fördermaßnahmen schon jetzt beträchtliche Erfolge zeigen. Wenn ich an manche Debatte und Sorge der letzten Jahre denke, kann ich mit gutem Recht sagen, dass wir bei der Integration ein erhebliches Stück vorangekommen sind.
Sechstens: In Baden-Württemberg sind die Zahl der Klassenwiederholungen und die Zahl der so genannten Rückläufer besonders gering. Das ist ein Zeichen dafür, dass erstens die Schullaufbahnentscheidungen richtig liegen und zweitens die Vielfalt der Lernkonzepte erfolgreich wirkt. Zum Beispiel ist die wichtige individuelle Persönlichkeitsförderung gerade in unseren Hauptschulen schon ein ganz großes Stück vorangekommen.
Siebtens: Der vertiefende Länderbericht zeigt einen engen Zusammenhang zwischen sozialen Kompetenzen und schulischen Leistungen. So gering wie in keinem anderen Bundesland ist in Baden-Württemberg die Neigung zu Aggression bei Schülerinnen und Schülern ausgeprägt. Wenn es um die Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung geht, sind Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg überdurchschnittlich aktiv.
Wer in dieser Weise aktiv ist, zeigt, so der Länderbericht, auch deutlich bessere schulische Leistungen. Das heißt, wer über Bildung in Deutschland nachdenkt, darf sich nicht nur um die Entwicklung unserer Schulen bemühen: Andere Lernorte und Lebenswelten unserer Jugendlichen sind ebenso bedeutsam, zum Beispiel die Jugendbildung, die Jugendlichen verlässliche Gemeinschaftsstrukturen anbietet, in denen sie wichtige Kompetenzen erwerben.
Achtens: Die vertiefende Länderstudie beschäftigt sich mit der Leistungsbewertung und stellt unterschiedliche Noten bei gleicher Leistung fest. Am wenigsten lassen sich die Noten an hessischen Gesamtschulen bei vergleichbaren Leistungen gegeneinander abgrenzen. Die Notenvergabe ist hier in starkem Maße von der tatsächlichen Leistung abgekoppelt. Die Studie belegt, dass in Baden-Württemberg die Noten innerhalb der Schularten sehr viel eindeutiger nach Leistungen differenzieren. Am besten gelingt das in unseren Realschulen. Auch das ist eine gute Botschaft für unsere Schulen.
Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen der Notengerechtigkeit und der Standardsicherung über zentrale Klassenarbeiten und zentrale Abschlussprüfungen. Das ist auch der Grund dafür, dass in der Kultusministerkonferenz generell über standardsichernde Maßnahmen nachgedacht wird und Länder, die bislang keine zentrale Abschlussprüfungen haben, jetzt solche einführen. Ich nenne nur Berlin, Brandenburg und Niedersachsen, wo diese schon in der letzten Legislaturperiode eingeführt worden sind.
Neuntens: In keinem Land in Deutschland ist die Zufriedenheit der Eltern mit der Schule so hoch wie in Baden-Württemberg. Auch das ist ein gutes Zeichen für die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule.
Meine Damen und Herren, der vertiefende Länderbericht zeigt für Deutschland, dass sowohl integrative Systeme als auch gegliederte Systeme Nachfolgeprobleme haben. Die Leistungsfähigkeit sowohl im Blick auf Kompetenzen als auch im Blick auf die Gerechtigkeitsfrage beim Zugang zur Bildung entscheidet sich wesentlich daran, ob die jeweiligen Nachfolgeprobleme gelöst werden.
Baden-Württemberg hat in den vergangenen 30 Jahren konsequent an der Durchlässigkeit des gegliederten Schulwesens gearbeitet und damit einen Modernisierungsschub erreicht, der bereits heute zu besseren Ergebnissen führt, als sie diejenigen erreicht haben, die ihre Nachfolgeprobleme bei integrativen Systemen nicht konsequent bearbeitet haben.
Ich sage nicht, dass wir mit diesen Ergebnissen schon zufrieden sind. Aber die Eindeutigkeit beim Vergleich in Deutschland ist unübersehbar. Deshalb hat Jürgen Baumert gesagt: Baden-Württemberg ist das modernste Bildungsland in Deutschland, weil es diese Nachfolgeprobleme seit 30 Jahren aktiv angeht.
Meine Damen und Herren, die internationalen Vergleichsstudien im Bereich der allgemein bildenden Schulen dürfen nicht dazu führen, die berufliche Bildung aus dem Blick zu verlieren. Zwei Drittel eines Jahrgangs gehen den Weg der beruflichen Bildung. Die Vielfalt der Bildungsangebote in der beruflichen Bildung stellt ein flexibles, gleichsam atmendes System dar, das sich den schnellen Veränderungen in der Wirtschaft dynamisch anpasst. Es bietet jungen Menschen, die nach der allgemein bildenden Schule nicht in eine duale Berufsausbildung gehen können oder wollen, ein zielführendes Bildungsangebot von hoher Qualität an.
Das Kernstück der beruflichen Bildung ist die duale Bildung und die damit verbundene Partnerschaft zwischen Schule und Betrieb. Wir können seit vielen, vielen Jahren beobachten: Die beruflichen Schulen leisten wie keine andere Institution in unserem Land einen entscheidenden Beitrag zur beruflichen und sozialen Integration vor allem der schwächeren Jugendlichen – zum Beispiel im Berufsvorbereitungsjahr, aber auch in den Berufsfachschulen.
Deshalb haben wir in Baden-Württemberg europaweit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Das hat unmittelbar mit der Art der beruflichen Bildung in unserem Land zu tun.
Berufliche Schulen sorgen dafür, dass Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt im Blick auf Ausbildungsplätze ausgeglichen werden. Das heißt zum Beispiel, dass in diesem Schuljahr 80 000 Schülerinnen und Schüler vollzeitschulische berufliche Bildungsgänge belegen. Ich sage aber auch: Diese große Kraft, die unsere beruflichen Vollzeitschulen entwickelt haben, darf nicht zu einem schleichenden Abbau der Ausbildungsplätze führen. Das sage ich vor allem im Blick auf den kommenden Herbst.
Ich sage es auch im Blick auf die kommenden Jahre. Denn das sind Jahre mit hohen Schulabgängerzahlen. Wir brauchen in den kommenden Jahren nicht nur so viele Ausbildungsplätze wie heute, sondern wir müssen die Zahl der Ausbildungsplätze in den kommenden Jahren deutlich steigern.
Dazu bedarf es entsprechender Rahmenbedingungen für unsere Betriebe. Der Ausbildungsmarkt ist ein hoch sensibler Indikator für die aktuelle Konjunktur und die Stimmung in der Wirtschaft. Die Ausbildungsplätze sind immer die ersten Opfer einer fehlerhaften Wirtschaftspolitik, wie wir sie derzeit in Berlin erleben.
In einer solchen Situation bedarf es wirtschaftspolitischer Impulse und nicht Drohungen gegenüber unseren Betrieben. Deshalb lehnen wir die vom Bundeskanzler angedrohte Ausbildungszwangsabgabe strikt ab.