Protokoll der Sitzung vom 11.11.2004

Viertens: Wie bei der letzten Bundestagswahl und der Europawahl sowie den Landtagswahlen der meisten Bundesländer soll bei der Urnenwahl der Wahlumschlag wegfallen.

Der fünfte Punkt ist ein wichtiger Punkt: Es geht nämlich darum, dass die Landesregierung Mittel bereitstellt, um künftig den Blindenvereinen im Land die Kosten für die Herstellung und Verteilung so genannter Stimmzettelschablonen zu erstatten. Blinde oder stark sehbehinderte Wähler hatten bisher die Möglichkeit der Briefwahl oder der Inanspruchnahme von Hilfe bei der Urnenwahl durch eine Vertrauensperson. Nunmehr wird in der Landeswahlordnung die Verwendung der Stimmzettelschablonen geregelt, damit Blinde bei der nächsten Landtagswahl ohne fremde Hilfe wählen können. Dies ist meines Erachtens ein weiterer Schritt zur Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung und Menschen ohne Behinderung.

(Minister Rech)

In diesem Zusammenhang möchte ich ergänzend erwähnen, dass auch die Verordnungsermächtigung zu den Wahlräumen erweitert werden soll. Damit kann dann in der Landeswahlordnung bestimmt werden, dass die Wahlräume so ausgewählt und eingerichtet werden, dass allen Wahlberechtigten und insbesondere dann eben auch den behinderten Menschen und den Menschen mit eingeschränkter Mobilität die Teilnahme an der Wahl möglichst erleichtert wird.

Meine Damen und Herren, die vorgeschlagenen Änderungen stellen aus der Sicht der Landesregierung eine sinnvolle und notwendige Weiterentwicklung der Verfahrensvorschriften des Landtagswahlrechts dar. Ich bitte um Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Hauk.

(Abg. Birzele SPD: Wir haben einen Antrag!)

Entschuldigung. Das Wort erteile ich Herrn Abg. Birzele.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Kollegen! Der Gesetzentwurf der Landesregierung ist vom Innenminister überzeugend begründet worden. Dazu bedarf es keiner weiteren Ausführungen. Wir werden diesen Gesetzentwurf mittragen.

Das Präsidium hat unseren Antrag Drucksache 13/3594 mit auf die Tagesordnung gesetzt. Mit diesem Antrag werden die eigentlichen Probleme des Landtagswahlrechts aufgegriffen. Wir hatten diese bereits in der 7. Sitzung des Landtags am 18. Juli 2001 aufgezeigt und den Landtag gebeten, eine Kommission einzurichten, in der diese Probleme des Landtagswahlrechts erörtert und durch die Lösungsvorschläge unterbreitet werden sollten.

Uns ist klar, dass wir dadurch, dass die Regierungsmehrheit diesen Antrag abgelehnt hat, unter einen nahezu unerträglichen Zeitdruck geraten sind. Dessen ungeachtet ist es nach wie vor nötig, das Landtagswahlrecht strukturell umzugestalten.

Ich will zunächst auf das Hauptproblem, das wir gegenwärtig haben, eingehen. Dieses Hauptproblem besteht darin, dass die einzelnen Wahlkreise derzeit eine enorm unterschiedliche Größe haben. Auf der Basis des endgültigen Wahlergebnisses beträgt die rechnerische Durchschnittsgröße 104 483 Wahlberechtigte. Im Landtagswahlrecht wird auf die Zahl der Wahlberechtigten und nicht, wie beim Bundestagswahlrecht, auf die Zahl der Einwohner abgestellt. Die untere 25-%-Grenze beträgt 78 363 und die obere 130 604. Dies bedeutet, dass zwei Wahlkreise die untere 25-%-Grenze unterschreiten, nämlich Heilbronn und Geislingen, und drei Wahlkreise die obere 25-%-Grenze überschreiten, nämlich Leonberg mit über 132 000, Biberach mit über 132 000 und Bietigheim-Bissingen mit über 131 000 Wahlberechtigten.

Das Bundestagswahlrecht sagt zur Größe der Wahlkreise, dass diese Größe bei einer Abweichung um mehr als 25 %

geändert werden muss und bei einer Abweichung um mehr als 15 % geändert werden soll. Wir haben in Baden-Württemberg sechs Wahlkreise, die die 15-%-Grenze unterschreiten, nämlich Stuttgart I, Stuttgart IV, Backnang, Schwetzingen, Pforzheim, Freudenstadt. Neun Wahlkreise überschreiten diese 15-%-Grenze, nämlich Nürtingen mit 128 000 Wahlberechtigten, Aalen mit über 124 000, der Enzkreis mit über 128 000, Tuttlingen-Donaueschingen mit über 124 000, Lörrach mit über 129 000, Waldshut mit über 129 000, Reutlingen mit über 122 000 und Tübingen mit über 129 000.

Wenn man diese Zahlen betrachtet, wird klar, dass wir uns nicht darauf beschränken können, nur bei fünf Wahlkreisen entsprechend der Mussbestimmung des Bundestagswahlrechts minimale Änderungen vorzusehen, wie es gegenwärtig in den Regierungsfraktionen diskutiert wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir nicht nur das Prinzip der Wahlgleichheit, also des gleichen Erfolgswerts der Stimmen der Bürgerinnen und Bürger, der Wähler, berücksichtigen müssen. Vielmehr gilt es insbesondere bei unserem Wahlrecht, auch das Prinzip der Chancengleichheit der Bewerberinnen und Bewerber zu berücksichtigen. Bei allen Parteien, die ihre Kandidatinnen und Kandidaten nicht durch Direktmandate entsenden können, hat die Größe des Wahlkreises eine entscheidende Bedeutung für die Frage, ob Bewerberinnen oder Bewerber in den Landtag gewählt werden können. Deshalb wird ja jetzt selbst bei den fünf Wahlkreisen schon ganz erbittert über die Abgrenzungen diskutiert, weil beispielsweise 30 % der FDP/DVP-Fraktion betroffen sind.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Aha! – Abg. Heide- rose Berroth FDP/DVP: Aber nicht 30 % direkt! Direkt nur 10 %! 20 % könnten betroffen sein!)

Meine Damen und Herren, leider hat die Regierungsmehrheit unseren Antrag, den wir zu Beginn der Legislaturperiode gestellt haben, um insbesondere dieses Problem aufzugreifen, abgelehnt. Aber es ist noch nicht zu spät. Es ist erforderlich, heute den entscheidenden Schritt zu tun. Aus der Zahl der genannten Wahlkreise ergibt sich, dass wir insgesamt eine sehr viel größere Zahl von Wahlkreisen in die Betrachtung einbeziehen müssen. Völlig klar ist auch, dass, wenn alle Abweichungen von über 15 % nach oben oder unten zusammen bearbeitet werden, weitere Nachbarwahlkreise davon betroffen sein werden.

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Genau!)

Meine Damen und Herren, es gibt weitere Probleme. Es gibt das Problem der Regelsitzzahl. Sie wissen, dass der Landtag in der vorletzten Legislaturperiode 145 und in der letzten Legislaturperiode 155 Mitglieder hatte; in dieser Legislaturperiode sind es 128. Es ist deshalb dringend erforderlich, die Zahl der Wahlkreise auf höchstens 60 zu reduzieren oder gegebenenfalls sogar noch unter diese Zahl zu gehen. Warum auf 60? Diese Zahl ist erforderlich, um die Zahl der Überhangmandate und der daraus resultierenden Ausgleichsmandate möglichst gering zu halten.

Das dritte Problem, das wir haben, ist, dass bei unserem Wahlrecht die Parteien wenig Einfluss darauf haben, wie der Anteil der Frauen erhöht werden kann.

(Abg. Hauk CDU: Auf der örtlichen Ebene ja!)

Auf der örtlichen Ebene ja, aber nicht auf der überörtlichen Ebene. Deshalb kann das auch nicht abgestimmt vorangebracht werden. Wir haben gegenwärtig 29 Frauen – durch Nachrückvorgänge hat sich das verändert –, nämlich bei der CDU 9, bei der SPD 12, bei der FDP/DVP 3 und bei den Grünen 5. Das ergibt einen Anteil von 22,65 %.

(Zuruf des Abg. Oelmayer GRÜNE – Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Bei uns sind es 50 %!)

Dies ist ein beschämend geringer Anteil und muss dringend geändert werden.

Das vierte Problem ist die Absicherung von wichtigen Persönlichkeiten der einzelnen Parteien. Es zeigt sich schon bei der jetzigen Diskussion über fünf Wahlkreise, dass dieses Problem eine Rolle spielt. Ich will daran erinnern, dass Fraktionsvorsitzende der FDP/DVP-Fraktion, Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl, nicht mehr gewählt worden sind, zum Beispiel Herr Brandenburg in Pforzheim und Herr Enderlein in Tübingen. Herr Noll, ich will jetzt nicht im Hinblick auf Ihre Person irgendetwas an die Wand malen, ich will nur das Problem aufzeigen.

(Abg. Döpper CDU: Der Wahlkreis Nürtingen ist potent!)

Deshalb ist es notwendig, sich zu überlegen, wie man unser Wahlrecht, an dem wir prinzipiell festhalten wollen, weil es den Bezug der Wählerinnen und Wähler zum Kandidaten und umgekehrt im Wahlkreis am besten herstellt, ergänzen kann, um die genannten Probleme etwas aufzufangen. Deshalb der Vorschlag: kleine Landesliste, Reduzierung der Zahl der Wahlkreise auf 50. Das heißt 50 Direktmandate, 50 Zweitmandate im Prinzip nach dem bisherigen System, 20 Mandate über eine kleine Landesliste.

Fünfter Punkt: Die Wählerinnen und Wähler verstehen nicht, warum sie im Land nur eine Stimme abgeben können, bei der Bundestagswahl jedoch zwei Stimmen, nämlich je eine für die Wahl des Direktkandidaten/der Direktkandidatin und für die Wahl der Partei. Deshalb wäre es vernünftig, den Wählerinnen und Wählern mehr Möglichkeiten einzuräumen, also auch in unserem Wahlrecht ein Zweistimmenwahlrecht einzuführen.

(Beifall bei der SPD)

Die weiteren Probleme – um es vollständig zu machen – sind: Wie werden die Überhangmandate berechnet? Wie werden die Ausgleichsmandate berechnet? Das muss richtigerweise auf Landesebene geschehen.

(Abg. Hauk CDU: Weil Sie zentralistisch denken!)

Bei der Berechnungsmethode – das sage ich insbesondere an die FDP/DVP-Fraktion, die diesen Ansatz ja immer unterstützt hat – sollten wir vom Höchstzahlverfahren auf das System der mathematischen Proportion umsteigen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten in dieser Legislaturperiode das Landtagswahlrecht prinzipiell ändern. Wir sollten das schnell tun. Dann kann schon bei der nächsten Wahl 2006 nach diesem neuen Wahlrecht gewählt werden.

Eine kleinere Änderung von wenigen Wahlkreisen ist nur dann hinnehmbar – das sage ich für meine Fraktion ganz deutlich –, wenn in dieser Wahlperiode verbindlich beschlossen, das heißt gesetzlich geregelt wird, wie das Landtagswahlrecht prinzipiell umgestaltet wird und wie die Wahlkreise dann neu eingeteilt werden sollen.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Oelmayer.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich kann es vorwegnehmen: Den Gesetzentwurf der Landesregierung, den der Innenminister heute hier eingebracht und begründet hat, tragen wir in all seinen Punkten mit. Er enthält viele vernünftige verfahrensrechtliche Vereinfachungen. Auch die Angleichung an die Regelungen des Bundestagswahlrechts ist vernünftig. Insofern gibt es aus unserer Sicht keine Einwendungen.

Vom Verfahren her möchte ich aber zunächst einmal eine grundsätzliche Kritik unserer Fraktion benennen. Ich lese heute im Pressespiegel des Landtags vom 6. November, dass fünf Wahlkreise neu zugeschnitten werden. Dem entnehme ich, dass hier doch eine kleine Reform, eine Minireform angegangen werden soll. Wenn wir als Landtag diesen Vorschlag heute noch nicht einmal auf dem Tisch des Hauses haben, der Entwurf nach Ihrer Intention aber wohl noch im Dezember, sprich in der nächsten Plenumsrunde, verabschiedet werden soll, dann ist das kein gutes, vernünftiges und partizipatives parlamentarisches Verfahren.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – Abg. Hei- derose Berroth FDP/DVP: Haben Sie nicht mit Ih- rem Fraktionsvorsitzenden gesprochen?)

Doch, das haben wir, selbstverständlich, Frau Kollegin Berroth.

(Abg. Fleischer CDU: Herr Oelmayer, Sie sind so flink und intelligent, Sie machen so etwas schnell!)

Unabhängig davon, Herr Kollege Fleischer, haben wir ganz bewusst – genauso, wie es der Kollege Birzele für den Antrag der SPD-Fraktion begründet hat – auch unseren Antrag für die Eckpunkte einer umfassenden Wahlrechtsreform auf die heutige Tagesordnung setzen lassen, einfach deshalb, um Ihnen einmal in Erinnerung zu rufen, wie die Historie seit dem Jahr 1996 – weiter will ich gar nicht zurückgehen – in diesem Hause aussieht: Es gab den Koalitionsvertrag aus dem Jahr 1996, geschlossen zwischen den Fraktionen von CDU und FDP/DVP. Dort hieß es:

Die Koalitionspartner haben die Absicht,... ein Konzept zur Verringerung der Wahlkreise für den Landtag von Baden-Württemberg zu erarbeiten. Damit soll erreicht werden, dass durch eine Verringerung der Überhang- und Ausgleichsmandate die tatsächliche Zahl der Abgeordneten verringert wird.

Das war ein vernünftiger Vorschlag und eine vernünftige Vereinbarung, und zwar einfach deshalb, weil, wie wir wissen, der 12. Landtag mit 155 Abgeordnetensitzen besetzt war. Daraufhin war dieser Vorschlag formuliert worden.

Wir hätten diesen Vorschlag unterstützt. Aber was ist geschehen? Funkstille! In der gesamten 12. Wahlperiode haben die Fraktionen von CDU und FDP/DVP, aber auch die Landesregierung keinerlei Vorstoß unternommen, diese Vereinbarung auch wirklich umzusetzen.

Insofern sind wir dann auf der Grundlage des geltenden Wahlrechts in die Wahl 2001 gegangen. 2001 haben Sie dann auch einen Versuch gestartet, das wieder in der Koalitionsvereinbarung festzuschreiben. Dort gab es dann Differenzen zwischen den beiden Parteien, die die Regierung tragen.

(Abg. Hauk CDU: Das ist doch nicht unmoralisch!)

Ich will jetzt gar nicht näher darauf eingehen. Tatsache ist, dass wir – die sozialdemokratische Fraktion dieses Hauses und auch unsere Fraktion – uns zu Beginn dieser Wahlperiode mit entsprechenden Anträgen an den Landtag gewandt haben. Wir haben dann unter anderem unseren Antrag in der 21. Sitzung des Landtags im Jahr 2002 diskutiert und dann auch beschlossen. Am 6. März 2002 hat der Landtag die Landesregierung einstimmig aufgefordert, ein Konzept bzw. Maßnahmenvorschläge zur Umsetzung der in den Wahlrechtsbeschwerden aufgeworfenen Fragestellungen darzutun. Am 6. März 2002 hat der Landtag das beschlossen.

Im Jahr 2004, also jetzt, haben wir mit unserem Antrag vom 18. Juni 2004 nachgehakt, wo denn jetzt das Konzept und die Maßnahmenvorschläge blieben, meine Damen und Herren. Immerhin war das ein Beschluss des Landtags, und die Landesregierung hat eigentlich doch – so sollte man meinen – die Pflicht, diesem Beschluss nachzukommen.