Protokoll der Sitzung vom 08.11.2006

(Abg. Jürgen Walter GRÜNE: Genau!)

Allein bestätigend für das Land zu sein, das reicht nicht aus. Wir müssen mit dem, was wir europapolitisch machen, motivierend für das Land sein, und das geschieht nicht.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Mi- chael Theurer FDP/DVP: Das stimmt nicht! Wir sind motivierend! – Gegenruf des Abg. Jürgen Walter GRÜNE: Dann braucht man keine solchen Anfragen!)

Zur Organisation des Lissabon-Prozesses kommt die Beantwortung der Anfrage gerade recht. Ich habe in der umfangreichen Beantwortung eine Vorlage gesehen, die akribisch zusammengetragene Ressortantworten gegeben hat. Ich habe in manchen Teilen ein gutes Bild gesehen, und in manchen Teilen habe ich ein schwierigeres Bild gesehen, bei dem ich gerne noch mehr dahinterblicken würde. Was ich gesehen habe – und das ist kennzeichnend für die Organisation unserer Europapolitik –, ist eine Sammlung von Fakten. Ich habe aber nicht gesehen, dass es eine wirkliche Bündelung unserer Europapolitik geben würde, und schon gar nicht habe ich gesehen, dass wir eine Integration unserer Europapolitik in dieser Regierung hätten. Wer trägt hier die Verantwortung, was ist das Gesicht dafür, wo ist hier die Handschrift unserer Landesregierung bei der Europapolitik?

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Zurufe der Abg. Thomas Blenke CDU und Jürgen Walter GRÜNE)

Ich nenne einige der Aktionsfelder, bei denen es für unser Land darauf ankommt, sich in Europa stärker einzubringen.

Erstens: Die industrielle Substanz dieses Landes muss fortentwickelt werden. Sie kann nicht im Zeichen einer weltweiten Arbeitsteilung aufgegeben werden. Das heißt für uns – das ist bekannt –, dass wir die Übergänge von Forschung und Entwicklung in Anwendung und Produktion im Land besser hinbekommen müssen. Hier sind wir unterentwickelt; das ist nicht gut. Das heißt, dass wir uns in den Regionen spezialisieren, dass Clusterbildung mutig angegangen wird, dass wir Anreize zur Kooperation zwischen Forschung und Entwicklung, zwischen Hochschulen und Betrieben geben. Es ist wichtig, dass wir auf diese Weise die industrielle Substanz des Landes voranbringen.

Zweitens: Bei den Unternehmensgründungen – in der Anfrage ist das angesprochen – gibt es natürlich Bilanzen, bei denen man sagen kann: Da stehen auch Zahlen dahinter, die nicht schlecht sind. Richtig ist aber auch: Unternehmensgründungen und Unternehmensnachfolgen sind kein additives Element in Baden-Württemberg. Sie sind entscheidend für die Vitalität der künftigen Volkswirtschaft von BadenWürttemberg. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass in Baden-Württemberg gute Ideen und gute Finanzierung besser zusammengebracht werden. Wir müssen auch einmal darüber nachdenken, ob ein kleines Unternehmen, das eine EU-Förderung in Anspruch nehmen will, unbedingt 50 % Eigenanteil erbringen muss, oder ob es nicht auch 25 % Eigenanteil sein können, wenn es darum geht, eine gute Idee voranzubringen. Wir müssen ferner schauen, dass wir auch Durchbrüche bei jungen Existenzgründern identifizieren und dass wir nicht der Meinung sind, dass die 80. Eventagentur, die sich gründet, uns noch immer im Land voranbringt. Ich habe nichts dagegen, aber wir müssen auch bei den Existenzgründungen wieder wirkliche technische Spitzenreiter hier im Land sehen.

Dritter Punkt: Neue wirtschaftliche Wachstumsfelder für Europa. Ich kann es hier sehr kurz machen. Der Kompetenzwirrwarr in der Wirtschaftsförderung des Landes erhöht nicht gerade unsere Chancen für neue wirtschaftliche Wachstumsfelder. Das, was wir als Chance in der ökologischen Modernisierung in diesem Land geboten bekommen, ist bisher jedenfalls von denen, die Verantwortung für die Politik haben, nicht genutzt worden, um in Europa Akzente zu setzen.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Letzter Punkt: Es kommt darauf an – das sagen erfolgreiche Länder –, dass wir die Hebung aller Qualifikationen, aller Talente im Land zum Ziel haben müssen. Wir müssen die soziale Auslese beenden. Nicht die Herkunft darf über Chancen entscheiden, sondern die eigene Fähigkeit muss so gefördert werden, dass sie zum Nutzen des Landes insgesamt beiträgt. Das heißt auch, dass die Qualifizierung älterer Arbeitnehmer im Zeichen europäischer Wachstumsstrategie keine Quantité négligeable ist, sondern es muss möglich sein, dass wir in Baden-Württemberg gerade die Arbeitnehmer, die an ihr Unternehmen gebunden waren und dort etwas geleistet haben, das dann jedoch aufgegeben hat, wieder in den Wirtschaftsprozess einbeziehen.

Deswegen, meine Damen und Herren, sage ich: Wir haben Aktionsfelder, bei denen wir aufholen müssen, aber nicht deswegen, weil wir schlecht wären, sondern deshalb, damit wir diese Lokomotivfunktion auch tatsächlich übernehmen können, die der Auftrag unseres Landes ist.

Meine Damen und Herren, die Lissabon-Strategie darf für uns nicht Bestätigung sein, sondern sie muss für uns Auftrag sein. Innovation ist keine Wundertüte, sondern sie wird politisch mit erarbeitet. Unsere Landesregierung muss unserem Lissabon-Beitrag Gewicht und Gestalt verleihen. Die SPD ist gern dabei, wenn es um die Umsetzung dieser Strategie geht. Wir stehen aber nicht am Ende, wir können es nicht bei einem Selbstlob belassen, sondern wir müssen uns gegenseitig einen Ansporn geben.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Walter.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Kollege Theurer hat gesagt: Wir müssen den Menschen Europa näher bringen. Nur ist die Frage, Herr Theurer: Können wir das mit solchen Großen Anfragen, die überhaupt keine Richtung vorgeben? Denn die Menschen stellen sich zu Recht die Frage: In was für einem Europa wollen wir leben, und in was für einem BadenWürttemberg wollen wir leben? Die Antwort kann nicht sein, dass wir alles liberalisieren, dass nur noch der Markt oder die wirtschaftliche Freiheit zählt und alle anderen Dinge herunterfallen. Das, Herr Theurer, war nicht die ursprüngliche Absicht der Lissabon-Strategie. Die Absicht der Lissabon-Strategie war, dass man Wirtschaft, Umwelt und Soziales gleichberechtigt sieht; denn nur dann werden wir eine Akzeptanz für den Gedanken Europa in der Bevölkerung finden.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Die Abstimmungen über die Europäische Verfassung in den Niederlanden und in Frankreich haben gezeigt: Wenn man dem nicht nachkommt, wird es mit Europa nicht weitergehen. Deswegen sind wir in der Krise.

Wenn Sie eine Debatte wie die heutige nur dazu nutzen, über das zu reden, was in Berlin nach Ihrer Ansicht nicht gemacht wird – in Klammern: weil der „großartige“ Herr Westerwelle nicht dabei sein darf; worüber der Rest der Bevölkerung sehr glücklich ist –,

(Zuruf des Abg. Reinhold Gall SPD)

können Sie doch den europäischen Gedanken nicht voranbringen. Ich hätte mir etwas anderes gewünscht. Man muss zur Großen Anfrage ja auch einmal sagen: Nicht einmal einem Fidel Castro auf einem Parteitag der Kommunistischen Partei in Kuba würde die Redezeit ausreichen, um diese 34 Seiten Text vorzulesen.

(Vereinzelt Heiterkeit – Abg. Theresia Bauer GRÜNE: Der kann nicht mehr!)

Mit solchen Dingen gewinnt man doch nicht die Leute für Europa. Es ist alles aufgeführt. Der Kollege Hofelich hat zu Recht darauf hingewiesen. Wo aber bleibt eine Aussage über die Stoßrichtung der Landesregierung? Wer ist wirklich verantwortlich? Wer trägt Verantwortung für den europäischen Gedanken?

Ab dem 1. Januar nächsten Jahres übernimmt die Bundesrepublik die EU-Ratspräsidentschaft. Da ist es doch unsere Aufgabe, möglichst viele Ideen aus Baden-Württemberg in die politische Diskussion einzuspeisen. Dazu ist weder in Ihren Ausführungen noch in den Fragen der Großen Anfrage, noch in der Antwort der Landesregierung irgendetwas erwähnt worden, was eine Perspektive aufzeigt.

Jetzt haben Sie natürlich Probleme mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ und allem, was dahintersteckt.

(Abg. Michael Theurer FDP/DVP: Das stimmt ja nicht!)

Sie haben noch lange nicht erkannt, welche Chancen in der Umweltpolitik stecken.

(Abg. Michael Theurer FDP/DVP: Das stimmt ja nicht! Das ist ja falsch!)

Durch die Zwischenbilanz der Lissabon-Strategie ist leider der Gedanke der Nachhaltigkeit völlig in Vergessenheit geraten.

(Abg. Michael Theurer FDP/DVP: Die ökologische Marktwirtschaft wurde von uns erfunden, nicht von Ihnen!)

Jetzt muss man sich doch einmal überlegen, Herr Kollege Theurer: Wo liegen, auch ökonomisch gesehen, unsere Zukunftschancen? Was wollen wir zukünftig produzieren? Wir alle wissen, dass wir in Europa, zumindest im westlichen Teil Europas, kein Wettrennen um die Lohnstandards, die Sozialstandards usw. machen können; das würden wir nicht gewinnen. Deshalb muss doch die Frage lauten: Was sind die Produkte, die wir zukünftig auf den Weltmarkt bringen? Wo haben wir einen technologischen Vorsprung? Was sind die Dinge, die gefragt sind?

Der Herr Ministerpräsident hat im Wahlkampf keine Gelegenheit ausgelassen, zu fordern, dass wir in Baden-Württemberg die Nummer 1 bei der Herstellung und beim Export von Umwelttechnologien werden. Was ist daraus geworden? Wo ist eine Initiative dieser Landesregierung, die in diese Richtung geht? Wo haben Sie sich in Ihrer Großen Anfrage die Frage gestellt, wie man gerade in diesem Bereich vorankommen soll, und was ist die Antwort der Landesregierung darauf? Das alles hat gefehlt.

Ein weiterer Punkt, den Sie angesprochen haben und der im Grunde genommen in die richtige Richtung zielt, ist die Frage der Bildung. Herr Kollege Theurer, Sie fragen, wie man bildungsfernen Schichten wieder bessere Bildung vermitteln könne, wie wir zur Integration von Migranten in unsere Gesellschaft beitragen können. Die Antwort ist doch ganz einfach: Trennen Sie sich endlich von dem Gedanken, dass Sie mit einem Schulsystem, dessen Grundidee aus dem 19. Jahrhundert stammt, die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen können!

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Solange Sie das nicht tun, meine Damen und Herren von CDU und FDP/DVP, werden wir die Probleme, die dieses Schulsystem mit sich bringt, weiterhin haben. Wir werden weiterhin Menschen viel zu früh aussortieren, wir werden Menschen von der Bildung fernhalten und werden sie nicht fit machen für dieses vereinte Europa, das noch viele Anstrengungen notwendig machen wird.

Meine Damen und Herren, ein letzter Punkt: Von der FDP/ DVP wird so getan, als würden jetzt Auflagen wie in der REACH-Verordnung – als Beispiel sei diese Verordnung genannt – praktisch das Ende der chemischen Industrie bedeuten oder ihr die Wettbewerbsfähigkeit nehmen. Das Gegenteil ist doch der Fall, Herr Kollege. Man kann auch nicht einfach irgendwelche Einzelbeispiele herausziehen, sondern man muss die Chance sehen, dass eine Chemiepolitik, die sich in Richtung Umwelt bewegt, Innovatives mit sich bringen kann und dass man Wettbewerbsvorteile erzeugen kann, indem man auch ökologisch die Nase vorn hat. Es ist, Herr Kollege Theurer, ein Wettbewerbsnachteil, wenn man beispielsweise keine Windräder produziert, wenn man keine Solaranlagen produziert, wenn man den Ländern der sogenannten Dritten Welt keine Anlagen zur Abwasserreinigung anbieten kann. All das sind Wettbewerbsnachteile, die aber entstehen, wenn man weiterhin so tut, als wären Umwelt und Ökonomie Gegensätze. Damit machen Sie eine der größten ökonomischen Chancen unseres Europas kaputt.

(Glocke des Präsidenten)

Ich kann nur hoffen, dass Sie da bald eines Besseren belehrt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Herr Abg. Walter, gestatten Sie noch eine Nachfrage des Herrn Abg. Bachmann?

Ach, ja. Gut.

(Vereinzelt Heiterkeit – Abg. Winfried Kretsch- mann GRÜNE: Ich hoffe, die Qualität ist besser als die der letzten Frage!)

Zunächst vielen Dank.

Ich habe eine ganz einfache Frage: Sehen nicht auch Sie einen ganz engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Ende der Amtszeit von Jürgen Trittin und dem wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland?

(Unruhe – Heiterkeit – Abg. Winfried Kretschmann GRÜNE: Herr, schmeiß Hirn ra!)

Herr Kollege Kretschmann hat schon die Antwort gegeben. Von allen Zwischenfragen, die ich bisher von Ihnen gehört habe, war das vielleicht – –

(Abg. Klaus Herrmann CDU: War das die beste! – Lebhafte Heiterkeit – Beifall bei der CDU und des Abg. Michael Theurer FDP/DVP)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Palmer.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Kollege Hofelich und Kollege Walter haben die Landesregierung, aber auch die sie tragenden Fraktionen geziehen, schrankenloser Liberalisierung das Wort zu reden oder dieses Konzept zu vertreten.

(Abg. Michael Theurer FDP/DVP: Schön wär’s manchmal!)