Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, die Enttäuschung für die Türkei wäre am Ende dieses Weges viel größer – dann wäre wirklich Porzellan zerschlagen –, wenn jahrelang verhandelt worden wäre und erst am Ende Nein gesagt werden würde. Auch Herr Hofelich hat für die SPD hier im Übrigen ein klares Bekenntnis zur Vollmitgliedschaft vermieden. Jetzt ist noch Gelegenheit, den Prozess zu stoppen
und eine realistische und faire Perspektive für die Türkei zu entwickeln, so, wie wir das vonseiten der CDU in den vergangenen Jahren auch immer gefordert haben.
(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das ist der richtige Weg! Prima!)
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Die Perspektiven für Europa: Baden-Württemberg muss ein internationaler Platz, ein europäischer Platz sein. Das muss dann auch gepflegt werden. Diesem Auftrag gilt der Europabericht der Landesregierung, auch für die Zukunft. Ich möchte nun ein wenig in die Zukunft schauen.
Wir brauchen mehr Projekte in Zusammenarbeit mit anderen Regionen. Wir brauchen noch mehr Engagement in der europäischen Politik. Ich glaube aber, Herr Minister – das sollte uns heute sowieso, neben vielem anderen auch, einen –, wir werden einen produktiven Streit nach innen brauchen, aber auch ein geschlossenes Auftreten für Europa nach außen. Das ist wohl, denke ich, die Haltung aller Kolleginnen und Kollegen im Landesparlament.
Dafür brauchen wir eine Verständigung über das, was passieren sollte. Ich meine, wir haben mit Europa zwei Dinge zu verbinden: Wir wollen wirtschaftliche Stärke durch eine
positive Anpassung unseres Landes dort, wo wir schon an der Spitze sind, von der Spitze aus – das passiert Gott sei Dank oft genug –, und wir wollen eine gesellschaftliche Öffnung. Wir wollen auch dort von Europa lernen, wo andere uns gesellschaftlich vielleicht noch ein Stück weit voraus sind.
An dieser Stelle nur kurz zur Türkei: Es gilt das, was die Bundesregierung vereinbart hat. Der Prozess wird am Ende bilanziert. Wir werden dann feststellen, wie weit die Dinge gekommen sind. Richtig ist auf jeden Fall, dass es im Prozess schon wichtig ist, dass niemand bei seinen Anstrengungen demotiviert wird und dann womöglich die Dinge, die wir hochhalten wollen – die Wahrung von Menschenrechten, Demokratie und Partizipation – unterlässt. Deswegen, finde ich, sollte man sich all seine Reden überlegen, bei denen man die Türkei bremst. Wir haben ein Interesse daran, dass sich in der Türkei möglichst viel bewegt. Das ist unsere Haltung.
Wir haben in den einzelnen Politikfeldern einiges für die Zukunft zu beachten. Ich will das hier in der Hoffnung ansprechen, dass wir auch zukünftig Debatten darüber führen können.
Erstens: Bei der europäischen Dienstleistungsrichtlinie ist der Gesundheitsbereich aus guten Gründen ausgeklammert worden, weil das zum Teil noch nicht reif war und weil es dazu noch offene Fragen gibt. Wir haben intern in Deutschland gerade eine Reform der öffentlichen Sozialversicherungssysteme. Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Wir werden aber, was die Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene angeht, die Frage zu beantworten haben: Wie kann der Gesundheitsbereich ein funktionierender und prosperierender Markt werden? Das wird die interessante Frage sein.
Deswegen sind wir alle gefordert, Baden-Württemberg mit seinen guten Standards bei der ärztlichen Versorgung und der medizinischen Betreuung mit dem, was unser Land auch anderen an Chancen bieten kann, sinnvoll zu positionieren – aber nur so, dass wir Gesundheit in tariflicher Zuständigkeit und in anständiger Qualität in Baden-Württemberg herstellen. Das ist das, was uns die neue europäische Gesundheitsrichtlinie an Mitwirkungsrechten abverlangen wird. Ich sehe hier eine wichtige Aufgabe, Herr Minister, die wir angehen sollten.
Zweitens: lokale Ökonomie und Globalisierung. Chancen der Globalisierung und Chancen der lokalen Ökonomie sind zwei Seiten einer Medaille. Deswegen gilt es natürlich auch in der europäischen Politik für Baden-Württemberg – das tun wir alle gerne, jedenfalls rhetorisch, aber ich denke, auch faktisch –, die kleinen und mittleren Unternehmen zu stärken. Ein wichtiger Beitrag kann sein – das wird eine Aufgabe der Zukunft sein –, dass wir die Ausschreibungsgrenzen bei öffentlichen Vergaben künftig zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen erhöhen, sodass nicht aus jeder Ausschreibung gleich eine europäische Ausschreibung gemacht werden muss, sondern dass wir auch die Stärken der lokalen Ökonomie zum Tragen bringen können, indem wir diese stärken.
Drittens: Industriepolitik. Baden-Württembergs Rolle ist es, in Europa das Herzland der Industrie zu sein. Deswegen haben wir ein Interesse daran, dass unsere Industrie nicht in die Slowakei und ostwärts weiterwandert, jedenfalls nicht in substanziell unvertretbarem Maße. Dort, wo es arbeitsteilig ist, wissen wir, dass es auch nützlich sein kann.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine positive Anpassungspolitik für unsere Industrie. Das heißt: Industrie in Baden-Württemberg – Herr Minister Pfister, Sie sind da – bedeutet für uns, dass wir industrielle Fertigungskapazitäten um neue Dienstleistungen anreichern, die dann dazugehören und die im Arbeitsvolumen mehr werden, und dass wir immer von Neuem mit Existenzgründungen nachfüttern und in der Lage sind, auch neue Ideen voranzubringen. Übrigens, wenn es schon Ihr eigener Fraktionsvertreter, Herr Theurer, vergessen hat: Ich gratuliere Ihnen dazu, dass Ihr Haus im europäischen Wettbewerb zu Existenzgründungen im Bereich Unternehmenskultur in Europa die Nummer 1 geworden ist.
Viertens: Steuerpolitik. Wir haben die Situation, dass wir mit der Unternehmensteuer auf einen international wettbewerbsfähigen Satz heruntergekommen sind – vorher war er auch schon nicht schlecht, weil er schon heruntergesetzt wurde, aber jetzt kann auf jeden Fall niemand mehr mäkeln.
Wir sind jetzt in der Situation, dass wir zum ersten Mal im Steuerrecht, das seit Colbert das wichtigste nationale Recht ist, darüber debattieren werden, ob es nicht für die Unternehmensteuern einen einheitlichen europäischen Satz geben sollte. Das ist eine Diskussion, die heraufdämmert. Über diese Diskussion brauchen wir hier in Baden-Württemberg eine Verständigung, weil die Masse der Investitionen vor allem in der Industrie geschehen und weil wir den Industriestandort Baden-Württemberg über eine sinnvolle Investitionsbesteuerung auch hier wettbewerbsfähig halten müssen. Wir werden uns der Debatte stellen müssen: Brauchen wir einen einheitlichen europäischen Unternehmensteuersatz? Ich finde, die Debatte ist es wert, hier im Hause geführt zu werden.
Fünftens: Bildung. Insbesondere in der beruflichen Bildung ist der europäische Qualifikationsrahmen von außerordentlicher Bedeutung für unser Land. Wir werden es uns in der beruflichen Bildung nicht leisten können, in europäischer Eintracht die Niveaus zu senken. Wir wollen möglichst hohe europäische Bildungsstandards für uns haben.
Allerletzter Punkt: Die Rolle des Staates. Der gerade nicht anwesende Herr Noll hat mir heute in der Debatte um die Ladenschlusszeiten noch einmal nachgewiesen, dass dieses Land eine Debatte darüber braucht, welche Werte unser Land zusammenhalten.
Deswegen sage ich: Die Rolle des Staates in Europa und in der Welt wird eine Rolle sein, in der man nicht einfach platt mit Rückzug antworten kann.
Wunderbar, Sie sind da, Herr Noll. – Wir werden diese Debatte fortsetzen müssen, Herr Kollege Noll. Wir werden darüber reden müssen, was öffentliche Verantwortung und was private Verantwortung ist. Darüber steht uns in Europa eine Debatte bevor, denn es ist keineswegs so, dass alle Länder in eine Richtung gehen.
Wenn wir nach Südamerika schauen, erkennen wir, dass die Reflexe der Menschen auf das, was sie als Globalisierung sehen, sehr stark ausschlagen können. Deswegen nützt es uns nichts, hier noch Parolen zu verbreiten. Wir brauchen eine neue Mischung, eine neue Ordnung zwischen öffentlicher und privater Verantwortung. Und die brauchen wir so, dass es dann in Europa genau das Modell geben wird, das in der Welt auch eine Rolle spielen wird. Darauf kommt es an.
In diesem Sinne hoffe ich, Herr Minister Stächele – Sie werden sich auch noch mit uns unterhalten –, dass wir zwei weitere produktive Jahre vor uns haben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Kollege Palmer hat darauf hingewiesen, wie sinnvoll es war, einen Europaausschuss einzurichten. Sie sehen, Kollege Palmer: Es ist immer gut, auf die Grünen zu hören. Wir haben diesen Ausschuss viele Jahre lang gefordert.
(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Oh! – Zu- ruf des Abg. Ingo Rust SPD – Abg. Thomas Blenke CDU: Das haben wir nur nicht mitgekriegt! Das hat der Bund geheim gehalten!)
Du warst noch gar nicht im Parlament, als wir das schon gefordert haben. – Wir sind ja froh, dass wir eine einheitliche Linie gefunden haben, dass wir diesen Ausschuss gebildet haben und dass er nun dazu beitragen kann, dass die Idee Europa wieder einen besseren Ruf in der Bevölkerung bekommt.
Wenn Sie richtig zuhören, was die Grünen zu dieser Frage sagen, dann können Sie Ihre Aussagen hier so eigentlich nicht aufrechterhalten. Selbstverständlich ist die Türkei zum derzeitigen Zeitpunkt nicht reif für die EU. Da gibt es doch zwischen allen Parteien überhaupt keinen Zweifel. Die Frage der Menschenrechte steht für uns natürlich an oberster
In anderen Fragen ist die Türkei noch nicht so weit. Deswegen – aber auch, weil es auch in der Türkei einen Streit darüber gibt, wie weit man sich überhaupt gegenüber Europa öffnen sollte – sind wir der Meinung, dass man der Türkei eine echte Perspektive geben muss. Und nur diese echte Perspektive wird den Reformkräften genügend Auftrieb geben, damit sich in der Türkei tatsächlich etwas bewegt.
Jetzt lassen Sie mich doch einmal reden. – Herr Kollege Palmer, wir waren mit dem Ständigen Ausschuss – Kollege Theurer war dabei – in der letzten Legislaturperiode in Zypern und mussten feststellen, dass die Fronten in der Tat sehr verhärtet sind. Aber dazu trägt nicht nur die türkische Seite, sondern auch die griechische Seite einen großen Teil bei. Genau das gilt es aufzulösen.