Gerade das Beispiel Filbinger ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir uns mit der Geschichte in Zukunft auseinandersetzen, wenn keine Zeitzeugen mehr da sind. Dazu möchte ich in einem zweiten Redebeitrag noch sprechen.
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich und wir Liberalen akzeptieren die seriös, nachdenklich und glaubwürdig vorgetragene Distanzierung und Entschuldigung des Ministerpräsidenten Günther Oettinger, die wir zu Beginn dieser Debatte gehört haben.
Er hat einen Fehler eingestanden, und es ist auch Größe, Fehler einzugestehen. Im Übrigen lassen Sie mich das anmerken, was heute nicht gesagt, aber in der Presse geäußert wurde: Er hat nicht versucht, Verantwortung auf Mitarbeiter oder andere zu schieben. Dafür, Herr Ministerpräsident, meinen Respekt.
Zu den Instrumentalisierungen, die ich angesichts des Todes einer herausragenden und umstrittenen Persönlichkeit im Vorfeld kritisiert habe, gehört meiner Meinung nach auch, sich gegenseitig, lieber Kollege Kretschmann, einmal mehr, einmal weniger einen kritischen Umgang mit dieser Rede vorzuwerfen. Gerade Sie sollten ein bisschen vorsichtig sein mit der Kritik an der Trauerrede des Herrn Ministerpräsidenten.
Wenn man einen Fehler erkannt und kritisiert hat, wenn die Kritik vom Betroffenen auch akzeptiert wird, dann ist es durchaus legitim, noch einmal darüber nachzudenken und zu analysieren: Wie konnte es zu dem Fehler kommen?
Liebe Kollegin Vogt, vorhin ist das Wort vom „kalten Technokraten“ Oettinger gefallen. Ich behaupte, dass er dargelegt hat, dass bei einer Trauerfeier und bei einem Staatsakt für eine hochrangige Persönlichkeit dieses Landes zwei Intentionen für jeden, der eine Trauerrede zu halten hätte, zu verfolgen sind: Das ist zum einen die Intention, den Angehörigen Trost und Anerkennung zukommen zu lassen – es ist ein denkbares Motiv, dass man bestimmte Dinge sagt oder auch nicht sagt –, und zum anderen, dass man als Ministerpräsident dieses Landes natürlich auch die politische Dimension eines solchen Staatsakts zu sehen hat.
Nun möge sich jeder selbst fragen, der schon in solchen Situationen war: Wie hätte man reagieren können, um diesen Fehler zu vermeiden? Vorhin ist die Frage angeklungen: Hätte man schweigen sollen?
Aber man muss die Situation auch nicht besser darstellen, als sie war. Das Thema einfach zu verschweigen wäre nicht möglich gewesen. Die Würdigung seiner Verdienste als Ministerpräsident war selbstverständlich Gelegenheit, viel Gutes über den Verstorbenen zu sagen. Aber das Ende seines Wirkens als Ministerpräsident hing ja gerade damit zusammen, dass er seine Verstrickung in das NS-Regime umzudeuten versuchte. Warum sonst hätte er zurücktreten müssen?
Genau hier sind wir am Kern der ganzen Diskussion. Ich glaube, aus menschlicher Sicht ist es schwer – da brauchen Sie nur einmal in die Autobiografien verschiedener prominenter Menschen hineinzuschauen –, rückblickend mit wenn vielleicht auch nicht rechtlicher, so aber doch moralischer Schuld zurechtzukommen. Es passiert häufig, dass – sozusagen auch aus Selbstschutz – im Rückblick versucht wird, Gegebenheiten umzudeuten.
(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und der Grünen – Zurufe, u. a. der Abg. Brigitte Lösch und Jürgen Walter GRÜNE)
Ich rede jetzt von der Person. – Ich sage: Genauso falsch ist es dann aber, die Umdeutung einer eigenen Biografie als die historische Wahrheit hinzustellen. Genau das ist der Punkt.
Ebenso problematisch finde ich es, wenn wir Nachgeborenen angesichts der Verhältnisse während des NS-Regimes über einzelne Menschen den Stab brechen.
Genauso falsch ist es, einzelnen Menschen diese Umdeutung, dieses Sich-Freisprechen von jeglicher rechtlicher und moralischer Schuld abzunehmen.
Das Schlimme daran ist: An dieser Stelle ist deutlich geworden, dass in diesem perfiden NS-System Unrecht zu Recht gemacht worden ist. Das ist das eigentlich Tragische: Viele, viele Menschen, die jetzt Mitläufer genannt werden, haben in dem Bewusstsein, dass es sich um geltendes Recht handle, nicht mehr erkannt, dass Unrecht zu Recht gemacht worden ist.
Meiner Meinung nach muss in der Debatte über unseren Ministerpräsidenten und seine Arbeit – nach seiner klaren Dis tanzierung und Entschuldigung – tatsächlich Schluss mit Rücktrittsforderungen sein. Es darf aber niemals Schluss sein mit der Auseinandersetzung mit der Frage: Wie konnte es passieren, dass sich fast ein ganzes Volk schleichend in dieses Unrechtsregime hat einbinden lassen
und hinterher durch eine persönliche Umdeutung – über die ich als Nachgeborener nicht urteilen will – tatsächlich ein pathologisch gutes Gewissen aufrechterhalten kann?
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass auch das Thema Weikersheim weiter aufgearbeitet werden muss.
Natürlich hat man in demokratischen Parteien – das kennt jeder von uns – unterschiedlich gefärbte Kreise. Wenn man aber als Verantwortlicher formal Mitglied eines solchen Kreises ist, liegt es sehr wohl in der eigenen Verantwortung, darauf zu achten, dass eine klare Distanzierung zwischen konservativem Gedankengut und den Rändern zur rechten Szene eingehalten wird.
Deshalb glaube ich, dass gerade durch die Namen – – Übrigens hat man – das ist genannt worden – zu einem merkwürdigen Datum wieder Personen eingeladen, die Zweifel aufkommen lassen. Ich glaube, dass es richtig ist, dass man, wenn man einem solchen Verein angehört, die Kraft aufbringen muss, das entweder zu klären – davon gehe ich aus – oder sich definitiv zu distanzieren.
Lassen Sie mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, abschließend sagen: Meiner Meinung nach ist ein Schlussstrich unter die Debatte über unseren Ministerpräsidenten Oettinger zu ziehen. Es gibt aber keinen Schlussstrich unter die Debatte über die Ereignisse während des NS-Regimes – auch, was einzelne Personen anbetrifft. Es kann deswegen keinen Schluss strich geben, weil wir, gerade wenn immer weniger persönliche Zeitzeugen zur Verfügung stehen, nicht den schrecklichen Verharmlosern nachgeben dürfen, die sagen: „Macht doch endlich Schluss mit dieser ewigen Debatte!“ Nein, wir müssen diese Debatte offensiv führen, in allen politischen Parteien, in allen politischen Gremien, nicht mit dem Ziel, erneut Schuldzuweisungen aufzubauen, sondern mit dem Ziel, vor allem die jungen Menschen für die Zukunft immun zu machen gegen Entwicklungen, die dazu führen könnten, dass durch rechtsextremistische, aber auch linksextremistische Tendenzen Unrecht formal wieder zu Recht gemacht werden darf.
Lassen Sie uns gemeinsam unter diese Debatte niemals einen Schlussstrich ziehen, sondern lassen Sie sie uns auch weiterhin nicht schrill, sondern ganz seriös führen.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Mappus, Ihre Einlassungen veranlassen mich, noch einmal das Wort zu ergreifen. Denn es darf, auch im Interesse einer demokratischen Volkspartei wie der Union, nicht gelingen, über dieses Thema einfach hinwegzureden.
Herr Noll hat es zu Recht angesprochen: Keiner von uns wüsste, wie er sich verhalten hätte, wenn er in der Situation gewesen wäre, unter der Nazidiktatur zu leben. Niemand von uns kann sagen, welche Entscheidungen er getroffen hätte, ob er mutig, ängstlich oder angepasst gewesen wäre. Wir haben alle – jedenfalls diejenigen, die hier geredet haben – das Glück gehabt, nicht vor dieser Wahl zu stehen.
Aber trotzdem, Herr Kollege Mappus, muss ich sehen, dass gerade in meiner Partei Menschen zu Tausenden verfolgt und ermordet worden sind, Menschen, denen schwerstes Leid zugefügt wurde, und Menschen, die mit großer Kraft Widerstand geleistet haben.
Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass wir die Partei sind, die über 140 Jahre alt ist und noch niemals in ihrer Geschichte ihren Namen ändern musste. Das ist eine wichtige Leistung, die wir vor allem den aufrichtigen Männern und Frauen aus der Zeit der Nazidiktatur verdanken.
Deshalb, Herr Kollege Mappus, habe ich sehr bewusst entschieden, dass es nicht angebracht wäre, wenn ich als Landesvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei an der Trauerfeier teilnehmen und einem Mann die letzte Ehre erweisen würde, der selbst nie die Kraft hatte, im Nachhinein sein Unrecht einzusehen. Darin liegt die Problematik.