Man spricht vor allem mit Kindern zu wenig. Wir wissen: Die Sprachentwicklung ist ganz wichtig für die gesamte kindliche Entwicklung, für die kognitive, die emotionale und nicht zuletzt die soziale Entwicklung.
Wir müssen das ernst nehmen. Erlauben Sie mir den Hinweis: Schon unsere Mütter und Großmütter haben Sprachförderung betrieben, wenn sie Wiegenlieder gesungen haben, Fingerspiele gemacht haben und mit den Kindern Verse und Reime gesprochen haben. Nicht zuletzt das Auswendiglernen von Gedichten war Teil dieses Konzepts von Sprachförderung.
Ich möchte auch betonen: Sprachförderung hat in unserem Land eine lange Tradition. Wir fangen bei dem Thema wirklich nicht bei null an. Das Land Baden-Württemberg hat schon Mitte der Sechzigerjahre Sprachförderung für Kinder angeboten, die Bedarf hatten und Behinderungen aufwiesen. Seit Ende der Siebzigerjahre gibt es Maßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund und besonderem Förderbedarf. In man
chen Städten – das kennen Sie selbst – feiert man in diesen Jahren das 30-jährige Jubiläum der Sprach- und Hausaufgabenhilfe. Die Landesstiftung fördert seit dem Jahr 2002 das Programm „Sag mal was“.
Herr Mentrup, die Gründe, warum Kinder eine verzögerte sprachliche Entwicklung aufweisen, sind – das wissen Sie ganz genau – sehr vielfältig. Da kann man nicht geschwind hergehen und sagen: Das regeln wir jetzt so.
Insofern finde ich es nur verantwortungsbewusst, dass man die unterschiedlichen wissenschaftlichen Prüfungsverfahren, die entwickelt werden, sehr sorgfältig prüft und nicht mit einem Schnellschuss jetzt ein solches Verfahren den Einrichtungen im Land überstülpt. Ich bin schon der Meinung: Wir brauchen vor der Einführung eine sehr fundierte Vorbereitung und sorgfältige Prüfung. Ich bin auch der Meinung, das darf keine Momentaufnahme sein. Sie wissen, Kinder im Vorschulalter machen oft ziemliche Entwicklungsschübe innerhalb von wenigen Wochen durch. Das heißt, wir müssen sie kontinuierlich begleiten und in ihrer gesamten Persönlichkeit und Entwicklung beobachten.
Ich glaube, mit dem Orientierungsplan, den die Landesregierung eingeführt hat, ist ein richtiger Schritt gemacht. Wir werden Kinder über einen langen Zeitraum hinweg sehr sorgfältig beobachten. Die Entwicklung wird dokumentiert. Da setzen sich Erzieherinnen, Eltern, Ärzte – alle, die damit zu tun haben – an einen Tisch und beraten, wie man die möglichen Fehler beheben kann.
Wenn wir jetzt mit der Einschulungsuntersuchung in zwei Schritten und früher anfangen, dann wird automatisch auch die Sprachprüfung vorgezogen. Ich halte das für absolut sinnvoll.
Zusätzlich sind wir allein schon mit dem Orientierungsplan darangegangen, die Erzieherinnen weiter zu schulen. Sie wissen, wir haben außerdem in den Pädagogischen Hochschulen 200 neue Plätze für Studiengänge der frühkindlichen Bildung eingerichtet. Wir haben also hier einen Weg der Verzahnung von Wissenschaftlichkeit und praktischer Arbeit gefunden. Ich halte die wissenschaftliche Untermauerung für sehr wichtig. Aber der Alltag, das Sprechen mit den Kindern, darf wirklich nicht unter den Tisch gekehrt werden.
Hier möchte ich auch darauf hinweisen, dass die Ehrenamtlichen einen ganz großen Beitrag leisten. Mit einem hohen Engagement und hoher Kompetenz wird da sehr viel Arbeit geleistet. Wir dürfen das keinesfalls kleinreden oder sagen, das sei nicht ausreichend.
Auch die Idee der Bildungshäuser, in denen Kinder unterschiedlichen Alters miteinander ins Gespräch kommen und eine Familiensituation, wie sie früher mit mehreren Kindern oft noch bestanden hat, im Grunde wieder künstlich hergestellt wird, ist ein Weg der Sprachförderung.
Bei all diesen Bemühungen geht es keinesfalls darum, frühkindliche Bildung zu verschulen. Wir haben sehr viele wis
senschaftliche Erkenntnisse, wie Kinder in diesem Alter spielerisch lernen. Das ist auf ganz natürliche Art und Weise zu bewerkstelligen. Da habe ich und da hat die CDU überhaupt keine Sorge, dass Schule in irgendeiner Weise schon in diese frühe Phase hineingetragen würde.
Was uns in der CDU aber ganz wichtig ist – das möchte ich ausdrücklich als Kontrapunkt zu Ihnen, Herr Mentrup, sagen, weil es bei Ihnen so klang, als ob man Sprechen nur noch in Krippen und Tagesstätten lernen könnte –, ist Folgendes: Wir dürfen die Eltern nicht aus der Verantwortung entlassen.
Das ist uns ganz wichtig. Was im Elternhaus in dieser frühen Phase aufgenommen wird, das bleibt fürs Leben. Das ist nicht mehr auszuradieren. Dort, ganz zu Anfang, muss Sprache gelernt werden.
Deshalb ist die Schulung der Eltern wichtig. Wir stellen auch fest: Elternkompetenz, Erziehungskompetenz ist nicht mehr in der Form vorhanden, wie wir uns das vielleicht wünschen. Wir haben einen Ansatz zur Elternschulung beim Umbau des Landeserziehungsgelds gemacht. Wir richten darauf einen Fokus. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wir können staatlicherseits nicht das ersetzen, was die Gesellschaft und vor allem die Familien leisten können. Da würden wir uns übernehmen. Bei uns ist die Stärkung der Familien als Ort des Lernens ein ganz wichtiger Aspekt.
(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Sehr gut! – Abg. Christoph Bay er SPD: Schöne heile Welt!)
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen jetzt über das Thema „Einführung von Sprachstandsdiagnosen“ und über Sprachförderkonzepte. Über die Familienpolitik werden wir morgen früh sprechen.
Kollegin Kurtz hat erwähnt, dass die Landesregierung sich seit den Sechzigerjahren mit dem Thema Sprachförderung beschäftigt. Wenn das so ist, müsste man eigentlich davon ausgehen, dass schon mehr auf dem Tisch liegt. Ich kann mich daran erinnern, dass im Jahr 2002 eine interministerielle Arbeitsgruppe beim Kultusministerium eingerichtet worden ist. Diese Arbeitsgruppe hat zwei Jahre lang getagt und hat danach ein Sprachförderkonzept auf den Tisch gelegt, das danach jedoch in der Schublade verschwunden ist und leider nie umgesetzt wurde. Wenn dieses Konzept seinerzeit schon umgesetzt worden wäre, müssten wir die heutige Diskussion gar nicht mehr führen.
Theoretisch sind wir uns ja alle darin einig, dass Sprachförderung die Kernaufgabe des Kindergartens ist; Sprachfähigkeit ist eine Grundvoraussetzung für die gesellschaftliche Teil
habe in den folgenden Lebensphasen. Der Spracherwerb muss innerhalb der frühkindlichen Bildung eine sehr hohe Priorität haben.
Viele Kinder – auch das hat Kollege Mentrup vorhin schon ausgeführt – aus Migrantenfamilien, aber auch aus deutschen Familien weisen Sprachdefizite auf; die Quote liegt bei 20 bis 25 %. Mit Sprachstandsdiagnosen allein – egal, ob diese jetzt 24 oder erst 15 Monate vor Schuleintritt stattfinden – ist dieses Problem nicht zu lösen. Sprachförderung muss mit dem ers ten Tag, an dem ein Kind den Kindergarten besucht, beginnen. Sie darf nicht erst dann nachgeholt werden, wenn bereits Defizite erkannt wurden. Deshalb sprechen wir Grünen uns für ein ganzheitliches Sprachförderungskonzept aus, das in den Alltag der Kindertageseinrichtungen integriert ist. Erzieherinnen müssen befähigt werden, Sprachförderung im täglichen Ablauf in einer Einrichtung zu praktizieren. Wir wollen eine grundlegende Unterstützung beim Spracherwerb für alle Kinder, die einen Kindergarten besuchen, und wollen ergänzende Sprachförderungsmaßnahmen für Kinder mit besonderem Förderbedarf.
Wir fordern die Landesregierung auf, die Sprachstandsdiagnose bereits im ersten Kindergartenjahr, also im dritten Lebensjahr eines Kindes, durchzuführen. Dies entspricht unserer Forderung, die erste Stufe der Schuleingangsuntersuchung nicht erst im vorletzten, sondern bereits im ersten Kindergartenjahr durchzuführen. Sprachförderung ist umso effektiver, je früher sie beginnt, und Sprachförderung erfolgt auf der Grundlage der Sprachstandsdiagnose und einer kontinuierlichen Be obachtung der individuellen Sprachentwicklung.
Die Stellungnahmen der Landesregierung zu den Anträgen der SPD zeigen leider auf, dass das Kultusministerium weit davon entfernt ist, ein Gesamtkonzept zur Sprachförderung vorzulegen. Nach wie vor wird von einem auf die Beseitigung von Defiziten gerichteten Ansatz ausgegangen; die Sprachförderung wird erst im letzten Kindergartenjahr oder beim Übergang zur Grundschule intensiviert. Das halten wir für zu spät.
Jetzt noch etwas zum Verhältnis zwischen Kindergarten und Schule, das in den Anträgen ebenfalls angesprochen wird. Sie beschreiben, dass die Förderung der Sprachentwicklung auch ein zentrales Thema der Kooperation zwischen Kindergarten und Schule ist, und verweisen auf das Modellprojekt „Schulanfang auf neuen Wegen“. Sie sagen jedoch nicht, dass dieses Modellprojekt ja schon längst ausgelaufen ist und dass nur ein ganz kleiner Teil der Grundschulen im Land diese Möglichkeit überhaupt nutzen kann. Lediglich an 452 von über 2 600 Grundschulen im Land gibt es überhaupt diese jahrgangs übergreifenden Klassen.
Auch die andere Maßnahme, die Sie beschreiben, nämlich dass Sprachstandsdiagnosen im Zuge der neu konzipierten Schuleingangsuntersuchung durchgeführt werden sollen, zeigt, dass Sie allenfalls nachbessern wollen, den präventiven Ansatz der Förderung vom ersten Tag an jedoch, wie ich meine, völlig aus dem Auge verloren haben. Warum führen Sie erst im vorletzten Kindergartenjahr die erste Stufe der Schul eingangsuntersuchung durch? Eine Untersuchung im Alter
von drei Jahren würde gerade die Lücke zwischen den beiden Früherkennungsuntersuchungen im Alter von zwei und vier Jahren schließen. Auch unter diesem Aspekt könnten also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Zum einen böten frühere Sprachstandsdiagnosen mehr Zeit, um die Kinder zu fördern, zum anderen würde mit einer solchen verpflichtenden Kindergarteneingangsuntersuchung die Lücke zwischen den beiden Früherkennungsuntersuchungen geschlossen werden.
Unsere Vorschläge sind erstens, die erste Stufe der Schuleingangsuntersuchung vorzuziehen, zweitens, bessere Fort- und Weiterbildungen auch für die Erzieherinnen zu schaffen, die ja letztlich diese Sprachförderung im Kindergarten auch umsetzen müssen, und drittens – das ist eigentlich der wichtigste Punkt –, die Rahmenbedingungen im Kindergarten für die Erzieherinnen zu verbessern. Das heißt, wir brauchen einen anderen Personalschlüssel; wir brauchen kleinere Gruppen. Denn genau in diesen kleineren Gruppen, Kollegin Kurtz, ist es dann nämlich besser möglich, miteinander zu reden. Da gebe ich Ihnen recht: Es geht darum, wieder mehr miteinander zu kommunizieren. Das kann nicht allein im Kindergarten sein; das muss natürlich auch in der Familie geschehen. Aber dann benötigt man im Kindergarten die entsprechenden Räumlichkeiten und muss den Erzieherinnen die Möglichkeit geben, in kleinen Gruppen mit Kindern zu reden.
Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, die Sie vereinzelt noch auf der Zuhörertribüne sitzen! Sprachförderung ist eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste bildungspolitische Maßnahme mit einem sehr hohen Nachhaltigkeitsfaktor. Das wurde aus den Reden meiner Vorrednerinnen und Vorredner deutlich. Dem schließen wir uns von unserer Seite auch voll und ganz an.
Frau Kurtz, Sie haben die wesentlichen Maßnahmen der Landesregierung schon erwähnt; ich möchte das nicht alles wiederholen. Wir sind hier auf einem guten Weg. Ich möchte nur noch einmal daran erinnern, dass Baden-Württemberg das ers te Bundesland war, das von Landesseite Sprachförderung angeboten und unterstützt hat.
Herr Mentrup, Sie haben mir – das kommt selten vor – bis auf wenige Ausnahmen mit Ihren Ausführungen aus dem Herzen gesprochen. Ich kann das also fast alles unterschreiben.
Aber einen Punkt haben Sie doch etwas schief dargestellt, und zwar meine ich Ihre Schilderung des Verhältnisses zwischen Goll und Rau und die Rolle, die Minister Goll in diesem Zusammenhang gespielt hat. Die FDP hat schon früh eine verbindliche Sprachstandsdiagnose gefordert. Wir konnten das in der Koalitionsvereinbarung platzieren. Wir freuen uns auch sehr darüber, dass es jetzt hier vorwärts geht. Es sind zwei Mi
nisterien beteiligt, das Kultus- und das Sozialministerium. Das ist möglicherweise im Verfahren etwas schwierig. Professor Goll hat mit Nachdruck darum gebeten, dass es hier vorwärts geht, und wir freuen uns sehr, dass es jetzt vorwärts geht und dass wir im nächsten Jahr hoffentlich flächendeckend mit dieser Maßnahme beginnen können.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen und auch von unserer Seite noch einmal mit großem Nachdruck das unterstreichen, was Dr. Noll als Fraktionsvorsitzender vorhin schon zur Kleinkindbetreuung gesagt hat. Es ist nicht damit getan, dass wir testen, sondern wir müssen natürlich die Testergebnisse auch verwerten. Wir müssen sie in konkrete Fördermaßnahmen umwandeln. Wir müssen Förderprogramme einsetzen. Und das Ganze soll ja auch für jedes Kind, das Förderbedarf hat, dokumentiert werden.
Meine Damen und Herren – das sage ich jetzt ganz bewusst in Richtung unserer Finanzpolitiker –, unser großes Ziel, das wir wirklich erreichen wollen, ist nicht nur ein bildungspolitisches Ziel, sondern es ist – gerade in Anbetracht des hohen Anteils an Migranten, den wir in unserem Land haben – auch ein wichtiges sozialpolitisches Ziel. Wir wollen erreichen, dass in wenigen Jahren jedes Kind, das in unserem Land eingeschult wird, tatsächlich schulreif ist. Das heißt, es muss ausreichend und gut Deutsch sprechen.
Dieses Ziel erreichen wir nur, wenn wir mehr Ressourcen in den Bereich der frühkindlichen Bildung umschichten.