Protokoll der Sitzung vom 29.11.2007

Dies, meine Damen und Herren, geht gedanklich und praktisch weit über das hinaus, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf tatsächlich erreichen werden,

(Beifall der Abg. Ursula Haußmann SPD)

nämlich eine einseitige Orientierung am Bild des Jugendamts als Sanktionsbehörde. Das muss überwunden werden. Wir

werden versuchen, bis zur zweiten Lesung aufgrund von Änderungsanträgen Verbesserungen zu erreichen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Für die Fraktion GRÜNE erteile ich Frau Abg. Rastätter das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Kindesmisshandlung und die Vernachlässigung und Verwahrlosung von Kindern sind das Schlimmste, was in unserer Gesellschaft passiert. Fast täglich lesen wir von erschütternden Fällen in der Zeitung. Immer stellen wir die Frage: Hätte das nicht verhindert werden können? Gibt es Versäumnisse von Behörden, von Ämtern, aber auch von Nachbarn? Kindesmisshandlungen und Vernachlässigung von Kindern betreffen nicht nur Kinder, die sehr klein sind, sondern Kinder in allen Altersgruppen. Deshalb ist es richtig, dass zur Aufdeckung und zur Prävention von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung auch die Schulen und die Schulverwaltung stärker in die Pflicht genommen werden müssen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es zum einen um erweiterte Rechte der Schulverwaltung. Auch wir Grünen halten die Einführung eines Zwangsgelds bei Schulpflichtverletzungen für sinnvoller als das bisher oft wirkungslose Bußgeld. Wir unterstützen auch die erweiterten Eingriffsmöglichkeiten der Polizei, wenn die Eltern ihre Pflichten im Rahmen der Erziehungspartnerschaft nicht erfüllen. Bei einer – rechtlich abgesicherten – notwendigen Durchsuchung der Wohnung handelt es sich, wie wir ja wissen, zum Glück um Einzelfälle. Aber gerade in solchen Einzelfällen ist das Einschreiten besonders wichtig, denn hier geht es oft um ganz massive Verletzungen des Kindeswohls.

Meine Damen und Herren, es geht im Gesetzentwurf aber auch um die Erweiterung der Aufgaben und Pflichten der Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen. Die Schulen sollen künftig beim Vorliegen von gewichtigen Anhaltspunkten dafür, dass das Kindeswohl verletzt wird, die Jugendämter informieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stimmen sicher alle darin überein, dass es zu den pädagogischen Aufgaben von Lehrern und Lehrerinnen gehört, hinzuschauen, jedes Kind in den Blick zu nehmen, seine Entwicklung zu beobachten und auch Anzeichen von Vernachlässigung, von Traurigkeit, von Unglücklichsein oder von körperlichen Misshandlungen zu entdecken.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Sehr richtig!)

Aber zu den neuen Aufgaben müssen wir auch kritische Anmerkungen machen. Hier teilen wir die Bewertung der kommunalen Landesverbände. Wie können Lehrerinnen und Lehrer bei den derzeit bestehenden Rahmenbedingungen in der Schule diese Beobachtungen im Detail wirklich leisten? Der gute Wille allein reicht dazu nicht aus. Sind die Lehrkräfte dazu ausgebildet und qualifiziert? Ich glaube, wenn wir uns die

Realitäten in den Schulen anschauen, dann sehen wir, dass dies nicht der Fall ist. Wir brauchen also zum einen gezielte Fortbildungen der Lehrer und Lehrerinnen; zum anderen aber brauchen die Lehrer und Lehrerinnen auch mehr pädagogische Zeit für diese Aufgabe. Wo bleibt z. B. die Verfügungsstunde für die Klassenlehrer und Klassenlehrerinnen an den Schulen?

Wir brauchen auch Schulsozialarbeit und erweiterte pädagogische Kompetenzen. Bislang haben wir an lediglich 300 Hauptschulen im Land Schulsozialarbeit. Diese Unterstützung durch Schulsozialarbeit gehört als Landesaufgabe an alle Schulen dieses Landes.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns z. B. die skandinavischen Länder anschauen – ich nenne hier Schweden –, wo wir Schulsozialarbeit, Schulpsychologen, Sonderpädagogen bis hin zur Schulkrankenschwester an jeder Schule haben, wo auch das Jugendamt in die institutionelle Arbeit dauerhaft eingebunden ist, dann sehen wir, dass dort ein Netzwerk exis tiert, das Prävention leisten kann. Von solchen Verhältnissen sind wir hier in unserem Land noch weit entfernt. Das hat auch Kollege Bayer mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der institutionell abgesicherten Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe als Daueraufgabe vorgetragen.

Kollege Bayer hat auch schon darauf hingewiesen, dass gerade die kommunalen Landesverbände es als sehr kritisch betrachten, dass in dem Gesetzentwurf wieder die Gefahr besteht, dass die Jugendämter in die Rolle einer Eingriffsbehörde gedrängt werden. Das ist ein Vorurteil, ein altes Bild, das die Jugendämter ja im Laufe der letzten Jahre durch ihre präventive Arbeit weitgehend überwunden haben. Hier, Herr Kultusminister Rau, bitte ich Sie doch sehr herzlich, für die Beratung des Gesetzentwurfs im Schulausschuss noch Vorschläge zu erarbeiten, wie diese Gefahr wirkungsvoll beseitigt wird.

Wir wollen auch, dass in der Umsetzung – da kann ich mich dem Kollegen Bayer anschließen – die rechtlichen Eingriffsmöglichkeiten und die institutionelle Zusammenarbeit mit einer Stärkung der pädagogischen Aufgaben der Schulen einhergehen. Nur dann kann dem Kindeswohl wirklich auch seitens der Schulen Rechnung getragen werden. Sie sind mit diesem Gesetzentwurf zu kurz gesprungen. Bitte nehmen Sie auch diesen zweiten Teil in Angriff, der genauso wirkungsvoll ist; denn das Gesetz allein wird den Kindern nicht helfen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Für die Fraktion der FDP/DVP erteile ich Frau Abg. Dr. Arnold das Wort.

Verehrter Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch die Fraktion der FDP/DVP sieht die dringende Notwendigkeit, uns einer Pflicht wieder viel stär

ker bewusst zu werden, nämlich – das haben Sie, Herr Minis ter Rau, gerade angesprochen – der Pflicht der staatlichen Gemeinschaft, über die Erziehungstätigkeit der Eltern zu wachen. Schule ist in der Tat ein staatlicher Raum, in dem diese Überwachung ein Stück weit auch realisiert werden muss. Deshalb begrüßen wir alle Schritte, die in dieser Novellierung vorgesehen sind, um auch in der Schule die Chancen zu erhöhen, Fälle von Kindesmisshandlung sehr viel früher zu erkennen als bisher.

Sie haben auch den Fall Jessica angesprochen. Das ist in der Tat einer dieser schlimmen Fälle. Dort ist ein acht Jahre altes Kind zu Hause verhungert und verdurstet; es hatte am Ende ein Gewicht von nur noch 9,5 kg. Wir fragen uns wirklich: Wie kann so etwas vor unser aller Augen passieren?

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Die Nach- barn!)

Die Nachbarn. Genau. – In der Tat hat die Schule

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Wo war das Amt?)

durch die Möglichkeiten, die Sie jetzt eröffnen, eher die Chance, einzugreifen.

Allerdings – das sehen wir ähnlich – ist es sicher richtig, dass wir dann auch die Lehrer mit den nötigen Kenntnissen ausrüs ten müssen, damit sie diese Fälle wirklich erkennen können.

Aber letztendlich, meine Damen und Herren – da möchte ich mit meinen Gedanken noch etwas über diesen schulischen Raum hinausgehen –, ist es ja eigentlich viel zu spät, wenn wir erst durch die Schule auf solche Fälle von Kindesmisshandlungen aufmerksam werden. Wir müssten viel früher Familien in ihrer Erziehungsarbeit unterstützen, die hier erkennbar Probleme haben und das nicht alleine schaffen. Wir müssen auch in diese Familien hineingehen. Das kann nicht nur eine Holschuld sein, sondern das ist von unserer Seite aus in der Tat auch eine Bringschuld.

Wir müssen daher ein Netzwerk aufbauen, das sehr früh beginnt, das gleich nach der Entbindung noch in der Klinik beginnt, das über den medizinischen Bereich – Hebamme, Kinderarzt – läuft, das über Kindergarten und Schule läuft und dann eben auch die Jugendhilfe und die Sozialarbeit einbezieht. Hier muss ein Netzwerk geknüpft werden, in dem alle Bereiche, die mit Kindeswohl und Jugendschutz zu tun haben, ihre Erfahrungen besser austauschen können, besser zusammenarbeiten und insgesamt effektiver arbeiten können.

Wir freuen uns sehr, dass das Sozialministerium in einem ers ten Schritt darangegangen ist, ein solches Netzwerk zu realisieren. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, Herr Hillebrand, dass Sie noch einen Satz dazu sagen. Wir wissen, dass das Land Baden-Württemberg gemeinsam mit anderen Bundesländern beim Bundesfamilienministerium vorstellig geworden ist.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr schwierig, am Rednerpult zu stehen, während im Plenarsaal eine solche Unruhe herrscht.

Danke schön, Herr Präsident.

(Zuruf der Abg. Ute Vogt SPD)

Eine Reihe von Bundesländern haben gemeinsam mit BadenWürttemberg einen Vorstoß in Richtung Bundesfamilienministerium unternommen, auch im Hinblick auf finanzielle Unterstützung, damit wir in einem Projekt ein solches Netzwerk einmal ausprobieren und aufbauen dürfen. Vielleicht können Sie uns einen Satz dazu sagen, wie hier der Stand der Dinge ist.

Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, Kinder sind unsere Zukunft; das wissen wir. Aber sie sind auch die schwächsten Glieder in unserer Gesellschaft. Kinder brauchen deshalb unsere Fürsorge und unseren Schutz, aber nicht nur im staatlichen Raum, sondern letztendlich auch in ihrem privaten Lebensraum.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Auch die Vereine!)

Kinderfreundlichkeit muss in unserer Gesellschaft wieder einen viel höheren Stellenwert erhalten. Über den staatlichen oder den schulischen Bereich hinaus sind wir da, denke ich, alle gefordert: wir, die wir hier im Plenum sitzen, wie auch Sie, die Sie oben auf der Zuhörertribüne sitzen. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn sich Menschen dagegen wehren, dass in ihrer Nachbarschaft ein Kinderspielplatz eingerichtet wird. So fängt es schon an.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: So ist es! Das ist schlimm!)

Sorgen wir alle gemeinsam dafür, dass Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft wieder den Stellenwert bekommt, den sie verdient.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Dr. Friedrich Bullin- ger FDP/DVP: Sehr schön!)

Das Wort für die CDUFraktion erhält Herr Abg. Röhm.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir sind noch zweieinhalb Minuten Redezeit verblieben. Deswegen möchte ich kurz auf Sie, Herr Kollege Bayer, und auf Sie, Frau Rastätter, eingehen.

Kollege Bayer, Sie haben völlig recht: Die Zusammenarbeit darf sich natürlich nicht nur auf die Meldung der Schulen und auf Sanktionen des Jugendamts beschränken. Aber jede Meldung hat natürlich eine lange Vorgeschichte. Dazu gehören u. a. intensive pädagogische Bemühungen, zumeist der Klassenlehrer und der Verbindungslehrer. Die Arbeit geht danach ja erst richtig los. Wir können also nicht sagen, dass sie sich schlicht und einfach auf eine Meldung und auf eine Sanktion beschränkt. Das wäre zu kurz gegriffen.

(Abg. Norbert Zeller SPD: Schreiben Sie es doch ins Gesetz hinein!)

Frau Rastätter, Sie unterstellen indirekt – das trifft für Sie als Lehrerin nicht zu, das weiß ich –, Lehrer könnten die Symp tome nicht erkennen oder könnten, weil ihnen nicht genügend zeitliche Freiräume zur Verfügung gestellt werden, darauf nicht eingehen. Dazu kann ich als Schulleiter nur sagen, dass Sie unsere Lehrer gewaltig unterschätzen. Viele Klassenlehrer investieren unglaublich viel Zeit in diese Arbeit. Selbst in den weiterführenden Schulen, wo das Klassenlehrerprinzip nicht gilt, sieht der Klassenlehrer, der vier bis acht Wochenstunden in einer Klasse ist, sehr wohl, wo die Probleme liegen.

Ich nehme für unsere Lehrer und für mich selbst als Pädagoge in Anspruch – Entsprechendes traue ich auch Ihnen und anderen Kollegen hier im Saal zu –, dass es nicht immer ausgebildeter Sozialpädagogen bedarf, um diese Arbeit leisten zu können. Das ist eine Arbeit, die jeder Pädagoge leisten muss.