Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 71. Sitzung des 14. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße alle, die schon da sind.
Aus dienstlichen Gründen haben sich Herr Minister Professor Reinhart und Herr Minister Pfister entschuldigt.
Aktuelle Debatte – Endlich Rechtssicherheit durch Patientenverfügungen – Konsequenzen für die Menschen im Land – beantragt von der Fraktion der FDP/DVP
Es gelten die üblichen Redezeiten: fünf Minuten für die einleitenden Erklärungen und fünf Minuten für die Redner in der zweiten Runde.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag hat am 18. Juni 2009 den Gesetzesvorschlag der Abg. Stünker SPD und Kauch FDP sowie anderer Abgeordneter quer durch die Fraktionen beschlossen. Damit wird endlich mehr Rechtssicherheit im Umgang mit den Patientenverfügungen geschaffen. Das Gesetz ist im Übrigen die konsequente Umsetzung einer Entscheidung, eines Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom März 2003. Der BGH hatte beschlossen – das war zum damaligen Zeitpunkt neu –, dass lebensrettende und lebensverlängernde Maßnahmen in bestimmten Situationen beim Menschen unterbleiben müssen, wenn dies in einer Patientenverfügung zuvor festgelegt worden ist. Damit wurde juristisch klargestellt, dass der Patientenwille auch am Lebensende, wenn der Mensch nicht mehr in der Lage ist, über sich selbst zu bestimmen, von seinem Betreuer, seinem Bevollmächtigten und insbesondere den Ärzten berücksichtigt werden muss.
Dieser Beschluss des BGH wurde von den Ärzten, den Bevollmächtigten und den Betreuern teilweise nicht berücksichtigt. Aus diesem Grund musste immer wieder das Vormundschaftsgericht angerufen werden. Im jetzigen Gesetz wird endlich, nach sechsjähriger Debatte im Bundestag und Debatten in verschiedenen Gremien, mehr Rechtssicherheit für die Menschen in unserem Land geschaffen. Es wird aber auch Rechtssicherheit für Patientenverfügungen geschaffen, die bereits erstellt worden sind. Im Gesetz ist geregelt, dass diese Patientenverfügungen nach wie vor Gültigkeit haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie ist denn die Situation? Sie gehen heute zu einem Arzt. Der untersucht Sie und kommt nach gründlicher Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Sie operiert werden müssen. Dann haben Sie natürlich die Möglichkeit, in diese Operation, in diese – streng wörtlich gesehen – „Körperverletzung“ einzuwilligen, oder Sie sagen: Nein, ich bin damit nicht einverstanden.
Was passiert aber – das ist die große Frage –, wenn ich zu diesem Zeitpunkt, wenn der Arzt mich untersucht, gar nicht mehr in der Lage bin, über mich selbst zu bestimmen, wenn ich die Einwilligungsfähigkeit nicht mehr habe? Dann, meine Damen und Herren, musste der Arzt bisher den sogenannten mutmaßlichen Willen erforschen.
Das war natürlich außerordentlich problematisch. Da sind wir uns absolut einig. Im Zweifel haben sich die Ärzte dann häufig für die Fortsetzung des Lebens, für weitere Behandlungsmaßnahmen entschieden. Dies war für alle Beteiligten, insbesondere für den Patienten, teilweise problematisch und auch qualvoll. Auch war es rechtlich außerordentlich umstritten, ob die Patientenverfügung Wirksamkeit entfaltet hat und, wenn ja, welche. Oft musste das Vormundschaftsgericht angerufen werden.
Meine Damen und Herren, nun hat der Bundestag Rechtssicherheit geschaffen, auch für acht Millionen Menschen, die bereits eine Verfügung errichtet hatten. Das Gesetz sieht im Einzelnen vor: Die Patientenverfügung muss schriftlich abgefasst werden. Die Patientenverfügung ist verbindlich, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung, wenn der Patientenwille der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation entspricht. Der Betreuer, der Bevollmächtigte trifft die Entscheidung über die Durchführung und Fortdauer der ärztlichen Behandlung, nachdem Arzt und Betreuer den Patientenwillen erörtert und festgestellt haben. Nur noch in Konfliktfällen entscheidet das Vormundschaftsgericht.
Durch die Änderung ist sichergestellt, dass die Behandlungsfeststellung in einer Patientenverfügung für alle bindend ge
worden ist, also auch für die Ärzte, für die Betreuer, für die Bevollmächtigten. Das Gesetz schreibt keine schematische Umsetzung vor. Nur dann, wenn es in der Festlegung der Patientenverfügung und in der konkreten Situation der Erkrankung Probleme gibt, muss das Vormundschaftsgericht noch angerufen werden.
Eine komplizierte ärztliche Beratungspflicht vor der Errichtung der Patientenverfügung oder eine obligatorische Beteiligung des Vormundschaftsgerichts ist nicht Gesetz geworden. Das finde ich gut. Ebenso muss die Patientenverfügung nicht notariell beurkundet werden. Wer will, kann dies natürlich nach wie vor tun.
Meine Damen und Herren, zum Schluss ist anzumerken: Durch dieses Gesetz wird natürlich kein Mensch gezwungen, eine Patientenverfügung zu errichten. Es ist der freie Wille eines jeden Menschen. Jeder kann sich für oder gegen die Patientenverfügung entscheiden. Wenn ein Mensch keine Patientenverfügung hat – das ist meines Erachtens noch die Mehrzahl –, dann muss nach wie vor der mutmaßliche Wille des Patienten ermittelt werden, und das ist natürlich problematisch.
Das Gesetz achtet die höchst persönlich getroffene Entscheidung des Menschen in jeder Phase seines Lebens. Damit wurde meines Erachtens dem Programmsatz in Artikel 1 des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – Rechnung getragen. Es gilt also auch in Zeiten, in denen die Betroffenen nicht mehr einwilligungs- und entscheidungsfähig sind.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Überschrift der Aktuellen Debatte, die die FDP/DVP beantragt hat, heißt: „Endlich Rechtssicherheit durch Patientenverfügungen – Konsequenzen für die Menschen im Land“. Aus dem Beitrag des Kollegen Wetzel haben wir relativ wenig erfahren können, welche Konsequenzen dies jetzt für die Menschen in unserem Land hat. Herr Kollege Noll wird in der zweiten Runde dazu reden.
(Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP – Gegen- ruf des Abg. Claus Schmiedel SPD: Habt ihr euch ab- gesprochen? – Gegenruf des Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP: Ausnahmsweise!)
Worum geht es den Menschen in unserem Land? Zum einen wollen sie, wenn sie in der Situation sind, dass eine Erkrankung eingetreten ist, die unweigerlich zum Sterben führt, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen, kein Leiden im Sterbeprozess stattfindet. Sie wollen Sicherheit, sie wollen Würde, sie wollen eine Schmerzfreiheit, ein Nehmen von Angst in einem Sterbeprozess.
Ändert sich jetzt durch die beschlossene Regelung im Bundestag irgendetwas oder nicht? Ich möchte durchaus ein paar kritische Anmerkungen zu diesem Thema machen. Ich glau
be, dass die Debatte im Bundestag eine sehr gute Debatte war. Der Fraktionszwang war auch aufgehoben.
Nach meiner Meinung sind aber ein paar Zielrichtungen in dem jetzigen Gesetz vorhanden, die keinen allgemeinen Konsens in unserem Land darstellen.
Den Grundsatz, dass eine Patientenverfügung sinnvoll ist und damit auch zu regeln ist, was in der letzten Phase des Lebens passiert, halte ich für richtig. Er wird schon jetzt bei den Ärzten und in den Kliniken angewandt.
Im Übrigen, Herr Wetzel, besteht Rechtssicherheit durch die höchstrichterliche Rechtsprechung. Auch der Eindruck, den Sie vermittelt haben – die Ärzte hätten sich nicht daran gehalten –, trifft nicht zu. Ich kann Ihnen das aus der täglichen Praxis berichten. Ich bin ja noch zu 50 % in der Anästhesie und der Intensivmedizin beschäftigt. Selbstverständlich wird das Recht des Patienten, über das zu bestimmen, was noch gemacht werden soll, eingehalten.
An dem Gesetzentwurf, den der Bundestag beschlossen hat, ist aber sehr kritisch zu beurteilen, dass es keine Reichweitenbegrenzung mehr gibt. Der Patient kann über die Situation hinaus, dass eine Erkrankung unweigerlich zum Tod führt und damit auch lebensverlängernde und Leiden bringende Maßnahmen abgestellt werden können, festlegen, dass für alle anderen Erkrankungen auch geregelt wird, welche ärztliche Therapie er haben will.
Ich glaube, das ist ein falsches gesellschaftliches Signal. Da unterscheiden wir von der Union uns auch von der FDP, weil wir sagen: Wir wollen nicht ein gesellschaftliches Denken, bei dem praktisch nur „Barbie und Kent“ letztlich der Maßstab der Dinge sind. Wir haben in Bezug auf die Pränataldiagnostik eine ähnliche Diskussion auch am Anfang des Lebens. Vielmehr wollen wir, dass auch andere Rechtsgrundsätze – ethisches Handeln, christliches Handeln – in unserem Rechtssystem Beachtung finden.
Ich glaube, dass das auch mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Wir haben auch eine gewisse Schutzpflicht vor Festlegungen, die getroffen werden. Es gibt natürlich das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, aber es gibt kein allgemeines Verfügungsrecht über das eigene Leben.
Deswegen hat der Staat auch eine Schutzaufgabe, indem eben nicht der Eindruck vermittelt wird: Jetzt kann jeder festlegen, welche ärztliche Therapie noch stattfindet. Ist denn jemand, der an Demenz erkrankt ist oder im Wachkoma liegt, schon im Sterbeprozess? Die Kirchen und die Ärzte haben an diesem Gesetz deutliche Kritik geäußert. Sie haben auch deutlich gesagt, dass darin das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen vor den Lebensschutz insgesamt tritt. Damit ist meines Erachtens eine falsche Zielsetzung und Gewichtung des Gesetzes gegeben.
Aber Sie müssen dieses Recht ausgewogen gestalten. Viele Menschen können sich aufgrund der Komplexität der Materie über bestimmte Dinge nicht ausreichend informieren. Wenn in einer Patientenverfügung irgendetwas festgelegt wird und nach 20 Jahren andere medizinische Standards gelten,
diese Patientenverfügung dann aber weiterhin Rechtssicherheit behält, kommen Sie in ein komplexes Verfahren hinein, in dem Sie nach wie vor die aktuelle Lebenssituation beurteilen müssen. Insofern ist durch das Gesetz überhaupt nichts gewonnen. Vielmehr müssen Sie nach wie vor den einzelnen Patienten zusammen mit den Angehörigen unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenssituation beurteilen und dann als Arzt abwägen, welche Therapie Sie treffen oder unterlassen. Insofern ist keine Rechtssicherheit gewonnen, und es ist in meinen Augen eine falsche Zielrichtung gegeben, indem die Bedeutung des Lebensschutzes gesenkt und die des Selbstbestimmungsrechts erhöht wurde.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich möchte mich in dieser Debatte über die Patientenverfügung zunächst einmal dem anschließen, was Kollege Wetzel einführend gesagt hat. Ich finde es erfreulich, dass der Bundestag in seiner Sitzung am 18. Juni nach einem fast sechsjährigen Diskussionsprozess eine für die Menschen in diesem Land, denke ich, ausgesprochen wichtige Entscheidung getroffen hat. Die Entscheidung, die Patientenverfügung auf eine rechtliche Grundlage zu stellen und auch in ihrer Konsequenz für alle Beteiligten durchschaubar und rechtssicher zu machen, ist für die Menschen in unserem Land, die z. B. von der Problematik der Pflegebedürftigkeit betroffen sind, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.