Herr Abgeordneter, ich freue mich, dass wir in der Beurteilung der bereits gelebten Praxis in Baden-Württem berg einig sind. Auch das Kultusministerium ist der Ansicht, dass wir keine Erprobung des gemeinsamen Unterrichts brau chen. Deswegen sprechen wir zwar sehr wohl von Erpro bungsregionen, wollen dort aber nicht die Unterrichtsmodel le erproben, sondern die rechtlichen, die finanziellen und die Strukturauswirkungen intensiv beobachten und daraus Schlüs se für die Änderung des Schulgesetzes ziehen.
Ich will deutlich sagen: Wir sind uns einig in der Einschät zung, dass der gemeinsame Unterricht nicht erprobt werden muss.
Zu Ihrem letzten Punkt, dem zieldifferenten Unterricht: Er ist bereits heute in vielen Fällen gelebte Praxis. Sie haben dan kenswerterweise die hohe Zahl der gemeinsam beschulten Ju gendlichen noch einmal erwähnt. Hier haben wir in vielen, vielen schon heute gelebten Unterrichtssituationen selbstver ständlich bereits eine Zieldifferenzierung, wie wir auch eine Methodendifferenzierung haben. Dies ist bereits möglich und wird dann mit der Änderung des Schulgesetzes, die bereits terminiert ist, auch in der Fläche abgesichert werden.
Sie haben gefragt: Was sagen wir den Eltern, die für das nächste Schuljahr für ihr Kind die beste Lösung finden wol len? Das wird nicht in 100 % der Fälle tatsächlich die Beschu lung in der allgemeinen Schule sein. Es geht ja immer um die beste Lösung im Einzelfall.
Ich darf wiederholen, was ich vorhin ausgeführt habe: Bereits mit Beginn des nächsten Schuljahrs sind alle Staatlichen Schulämter als Moderatoren für die Bildungswegekonferen zen aufgerufen und stehen zur Verfügung, sodass es keine Ver knüpfung zwischen der Änderung des Schulgesetzes und ei nem deutlichen Ausbau der gemeinsamen Beschulung gibt.
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass die Änderung des Schulgesetzes ein Nachvollziehen der rechtlichen Regulato rien sein wird. In der gelebten Praxis werden wir ab dem Herbst eine deutliche Ausweitung erfahren. Die ersten Hin weise, die wir von Schulen haben, die sich interessieren, die sich sozusagen bereit erklären, jetzt schnell einzusteigen oder auszubauen, sind sehr vielversprechend. Wir bekommen Rückmeldungen von den Eltern, dass sie bereits jetzt, in den letzten vier Monaten der Diskussion der Thematik, auch hier im Hohen Haus, erlebt haben, wie sich die Einstellung aller Beteiligten ändert. Also die Antwort für die Eltern ist: Es be ginnt mit dem nächsten Schuljahr.
Mai 2009, angekündigt, dass die Sonderschulpflicht in BadenWürttemberg abgeschafft und ein Elternwahlrecht eingeführt wird. Es war natürlich nie die Rede davon, dass es vier Jahre dauern würde, bis das Schulgesetz dann tatsächlich geändert werden soll.
Nun hat Staatssekretär Wacker in der Debatte vor wenigen Wochen im Schulausschuss und im Plenum gesagt, dass die Sonderschulpflicht differenziert abgeschafft werde, dass sie in einem ersten Schritt in Modellregionen abgeschafft werde. Das ist auch in den Protokollen so vermerkt.
Deshalb ist meine Frage: Wenn schon die Sonderschulpflicht insgesamt nicht erst in drei Jahren abgeschafft werden soll, weshalb wird sie nicht zumindest in den Modellregionen auf gehoben, wie das vor wenigen Wochen von Staatssekretär Wa cker angekündigt wurde? Denn das würde in der Tat die Mög lichkeit geben, zu prüfen, inwieweit die Eltern sehr verant wortungsbewusst mit ihrem Elternwahlrecht umgehen. Das wäre also ein erster wichtiger Schritt. Das wäre eine Mindest forderung, die man in diesem Zusammenhang erheben könn te.
Die zweite Frage ist: Eltern von Kindern mit Behinderungen haben in der Regel vielfältige Erfahrungen mit ihren Kindern gemacht. Sie wissen als Experten am besten, was sie ihren Kindern zutrauen können, wo sie Grenzen setzen müssen, was sie ihren Kindern zumuten können und was nicht. Glauben Sie nicht, dass es wichtig ist, diesen Eltern auch das Signal zu geben: „Ihr bekommt die Elternwahlfreiheit, weil wir wissen, dass ihr als Expertinnen und Experten gut mit dieser Situati on umgeht“?
Ich möchte noch hinzufügen: Das Elternwahlrecht würde mehr bedeuten als runde Tische in der Vergangenheit. Die Bil dungswegekonferenzen sind faktisch – da würde mich Ihre Meinung interessieren – nichts weiter als die Fortsetzung der runden Tische, die es ohnehin gegeben hat, sodass sich das, was jetzt eingeführt wird, unwesentlich von dem unterschei det, was wir schon in der Vergangenheit hatten, und die Eltern immer wieder in die Nachfragesituation und in die Rolle der Bittsteller gedrängt werden.
Frau Abgeordnete, ich freue mich, dass wir auch hier einig sind. Die von Ihnen beschriebene Situation eines Bitt stellertums der Eltern muss der Vergangenheit angehören. Deswegen ist die Aufgabenstellung für die Bildungswegekon ferenzen von einer klaren Aussage determiniert und dominiert. Die Aussage lautet: Der elterliche Erziehungsplan ist Richt schnur, und nur wenn zwingende Gründe entgegenstehen, kann der elterliche Wille im Einzelfall eventuell nicht umge setzt werden.
Die zwingenden Gründe müssen aber tatsächlich in sehr ge nau definierten Fällen bewiesen werden. Wenn Sie es juris tisch ausdrücken mögen: Hier gibt es dann die Beweislastum kehr. Das ist natürlich ein ganz entscheidender Fortschritt ge genüber der Situation, die wir heute haben. Dies gilt sowohl innerhalb als auch außerhalb von Erprobungsregionen. Es ist der dezidierte politische Wille und auch die Handlungsleitli
nie, die das Kultusministerium den Schulämtern vorgibt, dass in der Bildungswegekonferenz der elterliche Wille die Leit schnur ist. Es muss sozusagen umgekehrt bewiesen werden, warum er in einem bestimmten Fall nicht umgesetzt werden kann.
Daher bin ich mit Ihnen völlig einig: Die schulgesetzliche Än derung und Einführung eines absoluten Elternwahlrechts wird zu diskutieren sein, und zwar auf der Basis der Ergebnisse aus den Erprobungsregionen. Aber der elterliche Wille als Richt schnur ist bereits ab sofort die Leitlinie für die Diskussion und die Ergebnisse in den Bildungswegekonferenzen.
Insoweit haben wir, glaube ich, dieses Anliegen, das ich nach haltig unterstütze, umgesetzt. Eltern von behinderten jungen Menschen haben eine solch intensive Betreuungs- und Erzie hungsleistung erbracht, sie sind als Menschen so intensiv ge fordert, dass es nicht sein darf, dass wir sie im staatlichen Schulsystem zu Bittstellern machen
oder ihnen zusätzliche Belastungen aufbürden. Mit dem von uns verabschiedeten Umsetzungskonzept werden wir genau dies als Paradigmenwechsel umsetzen.
Frau Ministerin, gestat ten Sie mir eine weitere Frage. Sie wollen in den Schwer punktschulämtern die neue Situation vertieft ausprobieren. Das Ganze soll vor allem gruppenbezogen realisiert werden. Wir denken auch, dass das der richtige Weg ist, auch mit Blick auf die Ressourcen, die zurzeit zur Verfügung stehen.
Ist der Gruppenbezug auch Voraussetzung für die Unterstüt zung und Förderung außerhalb der Schwerpunktschulämter?
Frau Abgeordnete, der Gruppenbezug, den Sie gera de thematisiert haben, wird ein Element in den Bildungswe gekonferenzen sein, und zwar neben der strikten Einzelfall orientierung, die die Sonderpädagogik von uns verlangt. Jun ge Menschen mit Behinderungen sollten in gar keinem Fall in Klassifikationen gepresst, in Schubladen gesteckt werden. Vielmehr ist der strikte Einzelfallbezug die Voraussetzung für den Erfolg der gemeinsamen Beschulung und für die optima le Förderung von jungen Menschen.
Daneben müssen die Staatlichen Schulämter die Leistung er bringen, die Einzelfälle, die thematisiert werden und die zur Lösung anstehen, auch in Konzeptionen zu gießen, die eine Planung auf örtlicher Ebene ermöglichen. Das kann etwa der Fall sein, wenn sich Gruppen von jungen Menschen ergeben, die als Gruppe sinnvoll zu beschulen sind, was auch eine an dere Organisationsform der Mitnahme der sonderpädagogi schen Förderkompetenz aus der Sonderschule an die allge meinbildende Schule möglich machen könnte.
Aber der Gruppenbezug ist kein Handlungsdogma. Das könn te dem Wunsch der Eltern sowie auch unserem Wunsch ent gegenstehen, dem einzelnen Kind die optimale Lösung zu er
möglichen. Wir werden hier beides im Blick behalten müs sen, aber wir dürfen daraus kein neues Dogma der Gruppen lösung erarbeiten.
Frau Ministerin, ich habe den Eindruck, dass die Opposition die Ansicht vertritt, dass es für die Eltern einen Unterschied macht, ob sie in einer Er probungsregion wohnen oder nicht. Ich habe Sie aber so ver standen, dass es für die Eltern keinen Unterschied macht. Viel mehr dienen die Erprobungsregionen gerade nicht dazu, die Umsetzung hinauszuzögern, sondern sie dienen dazu, Erfah rungen zu sammeln, die dann auch eine rechtssichere Umset zung ermöglichen.
Was für ein Wahlrecht wäre es, das ein Landtag verabschie den würde, wenn danach gar nicht garantiert werden könnte, dass die Eltern wirklich wählen können, weil vor Ort gar nicht genügend Angebote vorhanden wären?
(Abg. Claus Schmiedel SPD: Soll sie jetzt Ihre Vor urteile bestätigen, oder wie? Was sind denn das für Fragen?)
Mir ist wichtig, von Ihnen eine klare Antwort auf folgende Frage zu erhalten: Kann man ein Gesetz verabschieden, wenn vor Ort gerade noch ein Wahlrecht in der Umsetzung ist? An ders ausgedrückt: Hätten wir besser warten sollen, hätten wir den Eltern die Möglichkeiten erst einmal nicht einräumen sol len, hätten wir mit der Umstellung noch zwei Jahre warten sollen, bis alle so weit sind? Das hätte doch sicher niemand gewollt.
Herr Abgeordneter, die Einschätzung und die Erleb nisqualität der Eltern wird hoffentlich völlig unberührt von der Frage bleiben, in welcher Region des Landes die Familie wohnt. Ich wünsche mir, dass Eltern im besten Fall gar nicht merken, ob sie in einer Erprobungsregion wohnen oder nicht. Eltern sollen in dem Paradigmenwechsel, den wir angespro chen haben, vom Ergebnis her die beste Lösung für ihr Kind verwirklicht sehen, und zwar mit aktiver Unterstützung der Staatlichen Schulämter und vor allem auch mit aktiver Unter stützung der allgemeinen Schulen.
Das Thema Inklusion ist kein Thema der Sonderpädagogik, sondern ein Thema der Schulen insgesamt. Insofern gehe ich davon aus, dass mit Beginn des nächsten Schuljahrs das The ma Erprobungsregion kein Thema mehr sein wird und dass wir gleichzeitig im Hintergrund in den Erprobungsregionen die notwendigen Erkenntnisse sammeln, um dann ein vernünf tiges geändertes Schulgesetz zu verabschieden und nicht ein schnell geändertes Schulgesetz, das wir dann wieder nachre parieren müssten.
Letztendlich sagen Sie, Frau Schick, dass es darauf ankommt, eine inklusive Entwicklung ausreichend vorzubereiten, um dann ein fundiertes Gesetz zu machen. In dieser Frage unterscheiden sich unsere Haltungen. Denn wir haben genügend Erfahrungen. Es gibt andere Bun desländer, die bereits weiter vorangeschritten sind, die diesen Weg beschritten haben.
Auch außerhalb der Bundesrepublik gibt es Länder, die die sen Weg praktizieren. Insofern können Sie auch solche Erfah rungen mit aufnehmen. Ihr Argument, man brauche jetzt noch zwei, drei Jahre, sticht eben nicht.
Wir wissen – das traue ich Ihrem Haus sogar zu –, dass Sie das, wenn Sie mit Volldampf daran arbeiten, innerhalb dieser Legislaturperiode noch schaffen. Das ist eine Entwicklung, die Sie hier – –
Ich habe hier großes Vertrauen, Herr Schebesta, in das Kul tusministerium, zumindest in dieser Frage.
Deswegen sage ich Ihnen: Es gibt kein Argument dafür, die inklusive Schulentwicklung noch lange zu erproben. Wir brau chen jetzt eine Entscheidung. Ich hatte Ihnen einen Fall ge nannt; es ist jetzt nicht möglich, ihn zu vertiefen. Aber ich kann Ihnen sagen: Erkundigen Sie sich einmal, was diese El tern mitmachen. Es ist unerträglich, was sie mitmachen.
Ich habe noch eine kurze Frage mit der Bitte um eine Antwort: Wie definieren Sie dann die Rolle der Sonderpädagogik?