Protokoll der Sitzung vom 13.11.2014

Sehr verehrter, lieber Herr Schulz, liebe Frau Schulz, Herr Ministerpräsident Kretschmann, mei ne Damen und Herren der Landesregierung, liebe Kollegin nen und Kollegen des Landtags, liebe im Jahr 1989 amtieren de Mitglieder der Landesregierung und des Landtagspräsidi ums! Namentlich begrüße ich Herrn Minister a. D. MayerVorfelder, Herrn Landtagspräsident a. D. Schneider, Herrn Landtagspräsident a. D. Straub, Herrn Staatssekretär a. D. Schlauch sowie die liebe Frau Exkollegin Christa Vossschul te.

Und natürlich: Liebe Gäste aus dem ganzen Land BadenWürttemberg!

Zunächst herzlichen Dank dem Südwestrundfunk für diese Videogeschichtsstunde in vier Minuten zur Einstimmung. Herzlichen Dank ebenso unserem Kollegen Dr. Rösler für die Fotosequenzen auf den Bildschirmen in der Eingangshalle als „visueller Aperitif“ – alles Bilder, die er selbst am 9. Novem ber 1989 in Berlin aufgenommen hat.

Viele der Filmstücke und Schnappschüsse sind historische Do kumente. Die Motive haben wir oft gesehen, und doch ziehen sie uns jedes Mal neu in den Bann – mit der Gefahr freilich, dass sie unsere Wahrnehmung buchstäblich fesseln, dass nicht Abgebildetes, weil nicht Abbildbares, vom Erkennen ausge schlossen bleibt.

Kurt Tucholsky schrieb einst – wie ich finde, mahnend –:

Es gibt hunderttausend Fotografien, die den besten Schil derer übertreffen – das ist die Regel. Es gibt Beschreibun gen, die die Bilder übertreffen – aber das ist selten.

Wir erleben heute eine dieser raren Ausnahmen – auch dank einer unverwechselbar profilierten Persönlichkeit, dank Ihnen, lieber Herr Schulz, und Ihrer lieben Gattin. Ich begrüße Sie herzlich im Landtag von Baden-Württemberg und heiße Sie in Stuttgart willkommen.

(Beifall)

Wir freuen uns sehr, und wir wissen es zu schätzen, dass Sie mit uns „25 Jahre Mauerfall – 25 Jahre friedliche Revolution in der DDR“ feierlich begehen, vier Tage nach dem 9. No vember. Sie haben mir berichtet, Sie seien in den letzten Wo

chen häufig in dieser Sache als Zeitzeuge unterwegs gewesen, und das sei heute im Reigen der Veranstaltungen der letzte Termin. Dass dies bei uns in Stuttgart, in Baden-Württemberg stattfindet, darüber freuen wir uns mit Ihnen gemeinsam. Wenn nicht bei diesem Schicksalsdatum, wo dann ist der „Epi log“ eines Jubiläums der „Prolog“ unserer Zukunft?

Sie, lieber Herr Schulz, werden uns zeigen, dass wir trotz al ler Bilder das Beeindruckende einer außergewöhnlichen Schil derung brauchen:

damit wir, die Zuschauer von einst, die Gesinnung, die Ge

mütslage, sprich die wahren Triebkräfte wenigstens ansatz weise nachempfinden können;

damit wir begreifen, warum der Freiheitswille und der

Wunsch nach Demokratie gesiegt haben;

damit uns bewusst wird, was wir ideell bewahren müssen,

nämlich den Antrieb, der Menschen stark genug machte – über den kantschen Grundgedanken hinaus –, den Ausgang aus einer unverschuldeten Unmündigkeit zu suchen und ihn – im übertragenen Sinn wie buchstäblich – auch durch zusetzen.

In Ihnen, lieber Herr Schulz, wuchs seit 1968 – seit Ihrem ers ten Engagement in Oppositionsgruppen – jenes sperrige Auf begehren gegen Indoktrination, Bevormundung und Willkür, das 1989 immer mehr Bürgerinnen und Bürger der DDR da zu brachte, sich nicht mehr wegzuducken, sich nicht mehr zu verstecken, ihre Rechte und Lebenschancen einzufordern, sich dem real existierenden Sozialismus offen zu verweigern.

Sie können einen authentischen Eindruck vermitteln von je nem Geist, der sich gleichermaßen in einem Höchstmaß an Zivilcourage wie in einem durch nichts zu frustrierenden Durchhaltewillen äußerte, vom Geist der Montagsdemonstra tionen, der Friedensgebete, der leuchtenden Kerzen, der Mahnwachen, von jenem Geist, der am 9. Oktober 1989 in Leipzig 70 000 nicht furchtlose, aber ihre Furcht überwinden de Menschen befähigte, allein durch Entschlossenheit die Übermacht der Staatsorgane in Ohnmacht zu verwandeln und dem SED-Regime so gewaltfrei das Rückgrat zu brechen.

Sie, lieber Herr Schulz, Jahrgang 1950, sind Diplom-Ingeni eur der Lebensmittelchemie und Lebensmitteltechnologie. Sie arbeiteten als wissenschaftlicher Assistent an der HumboldtUniversität zu Berlin, bis Sie 1980 wegen Ihrer Kritik am Ein marsch der Roten Armee in Afghanistan entlassen wurden. 1981 gründeten Sie den „Pankower Friedenskreis“. 1989 zähl ten Sie zu den Mitbegründern des „Neuen Forums“ und dann zu dessen Vertretern am „Zentralen Runden Tisch“. Im März

1990 schließlich die erste freie Volkskammerwahl: Sie wur den Abgeordneter und Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ab Oktober 1990 gehörten Sie bis 2005 dem Bun destag an, von 2009 bis zum Sommer dieses Jahres dem Eu ropäischen Parlament.

Sie waren nicht nur 1989/1990 ein Gesicht der friedlichen Re volution; Sie sind es – obschon an Kopfhaar und Bart leicht ergraut – wie kaum ein Zweiter geblieben. Für diese Gedenk sitzung gilt damit auf sehr spezifische Weise, dass der Gast ei nes Hauses auch dessen Zierde sein kann. Denn ein paar hun dert Meter Luftlinie von hier zerschlug württembergisches Militär am 18. Juni 1849 die aus der Frankfurter Paulskirche nach Stuttgart „emigrierte“ Nationalversammlung – kein Ruh mesblatt unserer Geschichte. Das heißt: Sie, lieber Herr Schulz, verschaffen zum einen dem bürgerlichen Freiheitswil len und Demokratiestreben heute Vormittag Genugtuung.

Zum anderen erweisen Sie der Badischen Revolution von 1848 die Reverenz, namentlich unserem früheren Kollegen Friedrich Hecker, Mitglied der Zweiten Kammer der Badi schen Ständeversammlung. Wie er später bekundete, hatte er fest daran geglaubt, dass sein Revolutionszug von Konstanz nach Karlsruhe als unaufhaltsam anschwellende Bürgerbewe gung – so wörtlich – „keines Schwertstreichs und keines Schusses“ bedürfe, sondern dass ein breit unterstützter – wie der wörtlich – „wahrer Festzug“ daraus würde.

Der Unrechtsstaat DDR schreckte im Herbst 1989 vor dem fi nalen Unrecht zurück – wohl auch, weil er kein Plazet aus Moskau dazu besaß. Das darf uns aber nicht veranlassen, mil der über das SED-Regime zu urteilen, genauso wenig übri gens wie die letzten, fast skurrilen Bilder seiner Führungsfi guren, die seine Auszehrung widerspiegelten.

Nein, in der DDR diente das geschriebene Recht dem Unrecht. Gesetze waren Instrumente der Unterdrückung. Der Einzelne hatte keinen effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Ge richte. Es gab kein Verfassungsgericht, keine Verwaltungsge richte, noch nicht einmal eine geschützte Privatsphäre. Die Menschenwürde ist antastbar gewesen. Willkür zählte zur Staatsräson. Die natürliche und naturrechtliche Freiheit war verbrecherisch begrenzt – nicht nur nach außen, aber da töd lich durch Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl.

Das alles dürfen wir nicht vergessen – um der Opfer willen: der Opfer an der mörderischen Grenze, der Opfer in den Ker kern, der vom System Drangsalierten. Dem Vergessen weh ren müssen wir aber ebenso um unserer selbst willen. Schon das Unrecht zu relativieren bedeutet, sich zu disqualifizieren – auch weil wir – oft mühsam, ja widerstrebend – einzusehen hatten, dass nicht jedes Unrecht als justiziable Straftat ange sehen werden konnte.

Positiv gesagt: „25 Jahre Mauerfall – 25 Jahre friedliche Re volution in der DDR“ sind eine Aufforderung an alle Bürge rinnen und Bürger, sich nicht nur als Nutznießer, sondern als Trägerinnen und Träger unserer Freiheit, unserer Demokratie und unseres Rechtsstaats zu verstehen. Die Freiheit zur Selbst verwirklichung u n d die Freiheit zur Mitverantwortung, beides muss – und zwar komplementär – wahrgenommen wer den. Freiheit ist keine Lizenz zum Rosinenpicken. Weder mit dem selbstgenügsamen Diogenes und seinen materiell meist nicht so bescheidenen neuzeitlichen Jüngern lässt sich der

Staat unseres Grundgesetzes machen noch mit zynisch-frei schwebenden Finanzjongleuren des „Sekundenhandels“. Un sere politische Aufgabe besteht darin, Menschen von Kindes beinen an für die individuelle wie für die gemeinschaftsbezo gene Dimension der Freiheit zu befähigen und zu ermutigen.

In Diktaturen werden die Bürgerinnen und Bürger entmün digt. In der Demokratie müssen sie aufpassen, dass sie das nicht selbst tun – durch Beliebigkeit, durch Gleichgültigkeit, durch Desinteresse, durch „einfach Spaß haben“ als erstem Existenzzweck. Freiheit gibt keine Glücksgarantie. Freiheit möchte insoweit nur die Zusage sein, dass jede und jeder die Chance hat, die persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln und demokratisch mitwirken zu können. Für diese Zusage bürgen jedoch wir in den Parlamenten und Regierungen: mit der Po litik, die wir konkret machen, und mit dem Menschenbild, von dem wir ausgehen.

Und da sollte uns die Erfahrung leiten, dass es falsch ist, Men schen zu überfordern, dass es jedoch ebenso falsch ist, nichts von ihnen zu erwarten.

Die Sprache täuscht: Wir s i n d frei. Aber Freiheit ist kein bloßer Zustand, sondern ein aktiver Modus. Freiheit liegt im Urteilen und im entsprechenden Tun oder Verzichten.

Das Tun findet zwangsläufig im Wettbewerb statt. Wettbewerb ist eine Erscheinungsform der Freiheit. Anders gesagt: Frei heit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft – sie ge hören zusammen. Wer eine freiheitliche Gesellschaft möch te, muss auch Markt und Wettbewerb wollen. Eine Gesell schaft, in der das Dogma der Gleichheit herrscht, erstarrt und verkrustet. Deshalb dürfen wir „Gleichheit“ und „Gerechtig keit“ nicht synonym verwenden.

Aber das ist bloß die Hälfte. Ebenso müssen wir dafür eintre ten, dass die Bürgerinnen und Bürger in mehr vertrauen kön nen als in Justiz, Polizei, Verwaltung und die klassischen In stitutionen. „Gute Regierungsführung“ ist notwendig, aber nicht ausreichend. Nimmt gegenseitiges Überlisten als ge schäftliche und soziale Erfolgsformel überhand, zerfällt eine Gesellschaft. Nachhaltig entwickeln kann sie sich nur, wenn Integrität, Zuverlässigkeit, „Treu und Glauben“ erkennbar hochgehalten werden – beginnend in Wirtschaft und Politik.

Wir alle kennen Theodor Adornos Satz: „Es gibt kein richti ges Leben im falschen.“ Ich denke, wir sollten ihn auch um gekehrt lesen: als Aufruf, in einer freien Gesellschaft kein fal sches Leben im richtigen zu führen! Rechtschaffenheit – die ser schöne und wörtlich genommen sehr plastische Begriff ist in unserem Wortschatz und damit in unserem Alltag oft ein Stück weit nach hinten durchgereicht worden: als zu sperrig, als zu wenig gewieft. Genau deswegen jedoch – genau wegen dieser unbequemen Assoziationen – kündet er von etwas Ent scheidendem, nämlich davon, dass Freiheit nicht von Charak terfestigkeit dispensiert.

Auch in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen er scheint es meist anstrengend, gegen den Strom zu schwim men, an Grundwerten, Überzeugungen, ja Idealen festzuhal ten, sie nicht opportunistisch preiszugeben. Und, keine Fra ge: Gerade in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwe sen grenzt es bisweilen an Selbstschädigung, Redlichkeit zu praktizieren. Aber wie mikroskopisch klein sind solche „Stra pazen“ verglichen mit dem, wozu diejenigen bereit und fähig

waren, die vor 25 Jahren durch die friedliche Revolution in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR den waffenstar renden Ostblock aus den Angeln gehoben, die so die Welt epo chal verändert und als Inbegriff am Abend des 9. November 1989 ab 19 Uhr die Berliner Mauer in eine „Kletterwand“ ver wandelt haben.

Politisch und gesellschaftlich erhält sich Freiheit dadurch, dass auf dem Fundament fester Überzeugungen kontrovers diskutiert wird. Ruhe ist n i c h t erste Bürgerpflicht! Und wir alle können im eigenen Umfeld – in Behörden, Unterneh men, Vereinen – dazu beitragen, ein dafür gedeihliches Kli ma zu pflegen, also ein Klima, in dem Meinungsvielfalt und Widerspruch nicht lediglich geduldet werden, sondern er wünscht sind, ein Klima der intellektuellen Toleranz. Und: „Toleranz ist“ – ein zweites Mal mit Worten Tucholskys ge sagt – „der Verdacht, dass der andere Recht hat.“

Oder pro domo gesprochen: Wenn Parteien und Parlaments fraktionen positiv streiten, deutet das nicht auf Fehler in der politischen Praxis oder gar in unserem freiheitlichen System hin, sondern darauf, dass unsere Demokratie lebt. Die Gering achtung der Parteien in der Weimarer Republik spielte erwie senermaßen den Nazis in die Hände. Trotzdem tauchen im mer wieder Verkäufer simpler Lösungen auf, die damit ihr „Süppchen kochen“, dass sie schlicht negieren, wie diffizil die Entscheidungsprozesse in unserer hochkomplexen Welt zwangsläufig sind. Freiheit ist aber keine Konzession für Po pulisten, Demagogen oder gar Hetzer! Ihnen auf den Leim zu gehen hieße, zu kapitulieren, hieße, sich der Freiheit nicht als würdig zu erweisen. Freiheit lebt davon, dass Menschen – dass wir – nicht kapitulieren, weder vor Problemen – und seien sie noch so groß! – noch vor Dämonen – und seien sie noch so mächtig!

Das Gelingen der friedlichen Revolutionen vor 25 Jahren ist auch ein Sieg für all jene gewesen, die in unserer Geschichte als Einzelne, als Gruppe oder als Partei Unfreiheit, Unrecht und Willkür die Stirn geboten haben, die mit voller Konse quenz standhaft geblieben sind.

Einen dieser Einzelnen haben wir unter uns: Sie, Herr Dr. Hoffmann. 1950 leisteten Sie als 20-jähriger Student in ihrer sächsischen Heimat Widerstand gegen die Menschenrechts verletzungen des DDR-Regimes. In der Folge wurden Sie aus Ihrem Alltag heraus von der Staatssicherheit verhaftet, an die Rote Armee ausgeliefert, wegen „antisowjetischer Hetze“ zu nächst zum Tode verurteilt, dann zu dreimal 25 Jahren Arbeits- und Besserungslager „begnadigt“ und nach Workuta ver schleppt. Nach drei Jahren Sklavenarbeit sind Sie 1955 in die Bundesrepublik entlassen worden. In Karlsruhe fanden Sie ei ne neue Heimat.

Der Zufall wollte es, dass Sie den 9. November 1989 in Ber lin miterlebt haben. Ihre Gefühle an diesem Abend, die Emp findungen, die Sie sicher zu Tränen gerührt haben – wir kön nen sie nicht einmal erahnen. Umso dankbarer sind wir Ihnen, dass Sie den für Sie beschwerlichen Weg zu uns auf sich ge nommen haben, um anschließend Schülerinnen und Schülern der Kaufmännischen Schule Heidenheim Ihre Lebens- und Leidenserfahrungen weiterzugeben. Auch Sie, Herr Dr. Hoff mann, vermitteln, was Bilder nicht wirklich sagen können. Herzlichen Dank dafür.

(Beifall)

9. November 1989 – der wohl glücklichste Tag zumindest un serer jüngeren Geschichte, einzigartig für alle, die ihn erlebt haben. Es gibt nur eines, was dem Miterleben emotional gleichkommt – und das ist, am 9. November 1989 geboren worden zu sein, so wie unsere charmante musikalische Mit gestalterin heute Vormittag, so wie Sie, Frau Mahela Reich statt. Auch an Sie ein herzliches Willkommen!

(Beifall)

Was der 9. November nicht nur Ihnen, sondern uns allen ins Stammbuch geschrieben hat, lässt sich nicht besser sagen als mit Mahatma Gandhis Postulat:

Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für die se Welt!

Das gilt überall. Auch bei uns in Baden-Württemberg.

Herzlichen Dank.

(Beifall)

(Mahela Reichstatt spielt das Klavierstück Nr. 3 „Al legro“ aus den drei Klavierstücken opus post. D 946 von Franz Schubert.)

(Beifall)