Werner Schulz: Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident – lieber Winfried Kretsch mann –, meine sehr verehrten Damen und Herren! Landauf, landab wurde in den letzten Tagen und Wochen fast bis zum Überdruss an die Ereignisse vor 25 Jahren erinnert: als Mau ern fielen und der Eiserne Vorhang verschwand, der sich mitt lerweile so harmlos anhört, als sei dies die Sicherheitsvorrich tung eines großen Staatstheaters gewesen. Doch es war kein Deus ex Machina, sondern eine Erhebung im Osten Europas, die das Ende der Teilung Deutschlands, Europas und des Kal ten Krieges erzwang. Es war die Zeit, als Politbüros und Zen tralkomitees kommunistischer Parteien wie Kartenhäuser zu sammenbrachen, Regierungen stürzten, politische Systeme und letztlich ganze Staaten verschwanden.
„Ein Jahrhundert wird abgewählt“, überschrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash damals seinen Bericht aus den Zentren Mitteleuropas – ein Jahrhundert der Extreme.
Es war das Annus mirabilis, das Wunderjahr, als vielen der Mund offen blieb und man das Wort Waaaaahnsinn freude trunken mit fünf a schrieb – nicht wie heute, wo uns der nor male Wahnsinn in seiner schrecklichsten Form erreicht, wenn wir die schlimmen Bilder aus der Ostukraine, aus Syrien und aus Kobane sehen.
1989 war das Jahr, in dem sich die Ereignisse überstürzten, die Realität die Fantasie überholte. Jeder, der heute behaup tet, er hätte kommen sehen, was geschah, lügt oder biegt sich die Geschichte zurecht.
Helmut Kohl hat uns gerade und offenbar nicht ganz freiwil lig wissen lassen, er hätte das geahnt; denn die DDR sei plei te gewesen. Es sei falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hät te die Welt verändert. Die Vorstellung, die Revolutionäre im
Osten hätten in erster Linie den Zusammenbruch des Regi mes erkämpft, sei einem Volkshochschulhirn entsprungen.
Bedauerlicherweise spricht da die Bitterkeit eines Mannes, der plötzlich vom Sockel des Kanzlers der Einheit gerissen wurde und heute uneinsichtig im Schatten des Denkmals vom unbekannten Spender steht. Leider betreibt er mit solchen He rablassungen die Selbstbeschädigung seiner Verdienste um die deutsche Einheit, die er zweifellos hat.
Dass der demokratische Aufbruch als Systemzusammenbruch verkannt wurde, erklärt allerdings, warum so viele Gestal tungschancen im Zuge der deutschen Einheit verpasst und ver patzt wurden. Im Bonner Kanzleramt hatte man nicht die Wie dervereinigung auf dem Schirm, sondern plante den Gegen besuch zum Staatsbesuch von Erich Honecker von 1987 und damit die faktische Anerkennung der DDR. Niemand war auf die revolutionäre Situation und ihre Folgen vorbereitet.
Zwar betrieb Infratest, wie unlängst zu erfahren war, über Jahrzehnte eine akribische Meinungsforschung zur Stim mungslage in der DDR. Die Bundesrepublik hatte sogar ein Ministerium für innerdeutsche Fragen, nur keines für gesamt deutsche Antworten.
Und in der DDR existierten ganze Bibliotheken pseudowis senschaftlicher Literatur, die den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus beschrieben, aber leider nicht, wie man von dort zurückfindet.
Doch der epochale Umbruch 1989 war kein spontanes Ereig nis, kein plötzlicher Zusammenbruch, sondern hatte eine lan ge Vorgeschichte. Kurzgefasst könnte man sagen: Was lange gärt, wird Mut. Denn Bürgermut gehörte dazu, im Herbst 1989 auf die Straße zu gehen, um gegen Unfreiheit, Bevormundung, Willkür, Lüge und gegen ein bis an die Zähne bewaffnetes Re gime zu demonstrieren.
Die kommunistischen Staaten Osteuropas sind nicht zusam mengebrochen oder implodiert. Ohne den Bürgeraufstand in den Ländern des Ostblocks, ohne das mutige Aufbegehren hät te es das Ende dieser Diktaturen niemals gegeben. Gesell schaften brechen nicht einfach zusammen; das zeigen China, Nordkorea oder Kuba. Revolutionen vollziehen sich nicht im Selbstlauf. Sie ereignen sich – wie Lenin bei Marx abgeschrie ben hat – immer dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen, wenn Menschen rebellisch wer den und den Mut fassen, etwas zu tun und zu wagen, wozu sie lange nicht bereit waren.
In der DDR wechselte vor 25 Jahren die Angst die Seite, be kamen es plötzlich die mit der Angst zu tun, die jahrelang Angst verbreitet hatten. Es war der späte und entscheidende Moment einer fortwährenden Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System und seiner inneren Zerrüttung. Den unter Stalin gegründeten Ostblockstaaten hat es von Anbeginn an demokratischer Legitimation gefehlt. Deswegen standen die Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung im Mit telpunkt der Ereignisse, hofften viele darauf, 1989 auch in Mittel- und Osteuropa die Verwirklichung der Ideale von 1789
zu erleben: einen dauerhaft stabilen Rechtsstaat mit der Ga rantie von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Nicht der Wunsch nach Verbesserung der materiellen Lebensverhältnis se, sondern vor allem die Überwindung unfreier politischer Verhältnisse waren Kern und Ziel der Proteste. Insofern fand die wahre und folgenreiche Gedenkfeier des 200. Jahrestags der Französischen Revolution nicht in Paris, sondern 1989 im Osten Europas statt.
Sicher, die KSZE, die Entspannungspolitik, die russischen Dissidenten, KOR, die Charta 77, Solidarnosc, der polnische Papst, Gorbatschow, die Bürgerrechtler, das „Neue Forum“, die Grenzöffnung in Ungarn – das alles hat eine Rolle gespielt. Wobei – das sei an dieser Stelle der Legendenbildung zum Trotz gesagt – heute viele übersehen, dass Gorbatschows Re formpolitik nicht nur aus freien Stücken und gutem Herzen kam. Seine Machtübernahme war bereits ein Ergebnis der tie fen Systemkrise.
Als sich im Frühjahr 1989 die ruhmreiche Rote Armee ge schlagen aus Afghanistan zurückzog, waren die Grenzen der militärischen Intervention deutlich geworden. Trotzdem ver suchte Gorbatschow noch Anfang 1991, die Unabhängigkeits bewegungen in Litauen und Lettland mit Gewalt zu stoppen. 14 Menschen wurden am „Blutsonntag“ in Vilnius von russi schen Panzern zerquetscht. Ein Wegbereiter der deutschen Einheit, wofür er heute gefeiert wird, war er allenfalls wider Willen. Die Standpauke, die er am 8. Oktober 1989 dem SEDPolitbüro hielt, hatte nicht die Öffnung der Mauer zum Inhalt, sondern die Mahnung, sich seiner Reformpolitik anzuschlie ßen. Mit Glasnost und Perestroika wollte Gorbatschow das System stabilisieren und nicht den Warschauer Pakt und die Sowjetunion auflösen. Das erklärt auch heute sein Verständ nis für Putins aggressive Großmachtpolitik. Er war vom Mau erfall genauso überrascht wie alle anderen Großpolitiker die ser Welt. Dass er dennoch die deutsche Einheit zugelassen hat, dafür gebührt ihm nach wie vor Dank.
Doch der gewaltlose Ablauf war nicht vorgesehen. Im Gegen teil! Mit Internierungslagern für 85 000 Menschen war alles auf den Ausnahmezustand vorbereitet, um eine Wiederholung des 17. Juni im Keim zu ersticken. Und selbst als alles gelau fen war, die Grenze schon offen war, gab es den erneuten Ver such, die in der DDR stationierte Rote Armee zu provozieren. Plötzlich tauchten am 28. Dezember 1989 nationalistische und antisowjetische Schmierereien am Treptower Ehrenmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten in Berlin auf. Die Täter blieben im Dunklen. Indizien deuteten darauf hin, dass es die Stasi selbst war. Eine Spur führte nach Dresden, woher der neue Ministerpräsident kam, der die Stasi als Amt für Natio nale Sicherheit erhalten wollte. Der Dresdner KGB-Chef Pu tin ließ alle Akten verbrennen, und der Dresdner Stasi-Chef Böhm nahm sich im Februar 1990 das Leben, sodass wir die Wahrheit wohl nie erfahren werden.
Die SED/PDS trommelte am 3. Januar 1990 eine große De monstration von über 200 000 Genossen zusammen, um die angeblich faschistische Gefahr zu bannen. Im Fackelschein warnte der neue Vorsitzende Gysi vor einer Rückkehr des Fa schismus, der durch die einströmenden Neonazis aus dem Westen – weil der „Antifaschistische Schutzwall“ gefallen war – und aus dem dort ewig fruchtbaren Schoß käme. Es war und ist dieser verlogene Antifaschismus, der uns den 17. Juni als
faschistischen Putsch einredete, die Mauer zum „Antifaschis tischen Schutzwall“ verklärte und heute den demokratischen Aufbruch in der Ukraine als faschistische Revolte diffamiert.
Dabei haben die vielen auf dem Kiewer Maidan wochenlang in klirrender Kälte friedlich ausgeharrt, um die Rückkehr nach Europa und ein Ende der Korruption zu fordern. Leider muss ten wir sehen, dass es auch anders kommen kann, als wir es in Deutschland erlebt haben, dass Hände, die Kerzen gehal ten und mit Begeisterung die Europafahne geschwenkt haben, zur Selbstverteidigung auch Steine und Molotowcocktails werfen können.
Die frühen Warnungen des unlängst verstorbenen Philosophen Wolfgang Leonhard belegen, dass die DDR von Anfang an ei ne Lüge mit drei Buchstaben war. Keine Deutsche Demokra tische Republik – denn dafür fehlte sowohl die nationale als auch die demokratische Legitimation –, sondern genau be trachtet standen die drei Buchstaben für ein „Demagogisches Diktatur-Regime“.
dass der Sinn von Politik Freiheit ist, fehlte diesem Staat von Anbeginn und auf Dauer die Sinngebung.
Bereits die erste Wahl zur Volkskammer 1950 war eine Farce und dreiste Fälschung. Die Leipziger Studenten Herbert Bel ter, Gerhard Ryschka und Axel Schröder, die dagegen mit Flugblättern protestierten, wurden zum Tode verurteilt und 1951 in Moskau hingerichtet. Ihr mutiger Widerstand gegen die zweite totalitäre Diktatur auf deutschem Boden ist ver gleichbar mit dem, was Hans und Sophie Scholl taten – nur dass wir diesen antikommunistischen Widerstand kaum ken nen und er längst nicht denselben Stellenwert in unserem Ge schichtsbewusstsein gefunden hat.
Ich erwähne das, weil 1989 die routinemäßig gefälschte Kom munalwahl – dieses unglaublich lächerliche Zettelfalten – der Ausgangspunkt anschwellender Proteste war.
Zweifellos befand sich die DDR auch wirtschaftlich in einer angespannten Lage, nicht vor dem Zusammenbruch. Wie lan ge das noch hätte dauern können, war am Zustand von Rumä nien abzulesen. Das belegt ein Papier von Gerhard Schürer, dem Chef der Staatlichen Plankommission, das als „Geheime Verschlusssache“ verteilt wurde und im Dezember vernichtet werden sollte. Danach waren Industrie und Infrastruktur stark verschlissen, sollte der Konsum um 30 % reduziert werden und alles zu Devisen „umgerubelt“ werden, was nicht niet- und nagelfest war.
Doch nicht nur der Ausverkauf der Substanz, sondern vor al lem der Verlust von Humankapital, die Abstimmung mit den Füßen, war katastrophal. So wurde das Kopfsteinpflaster Leip ziger Straßen – säuberlich gewaschen – nach Aachen verkauft. In Leipzig lief dafür der Spruch: „Ich wollt’, ich wär’ ein Pflasterstein, dann könnt’ ich schon im Westen sein!“
Ohne den Mut der Ostdeutschen hätte es die Wiedervereini gung nicht gegeben. Der kleinere, bedrängte Teil unseres Vol kes hat für das Ganze Geschichte geschrieben. Aus den Rinn salen von Bürgerrechtsgruppen erwuchs im Zusammenhang mit denen, die das Land verlassen wollten, der breite Strom einer Bürgerbewegung, nahm die Zahl der Bürger in einem Land ohne Bürgerrechte unaufhörlich zu. Wahr ist aber auch: Nicht alle waren daran beteiligt. Etliche haben es als Konter revolution betrachtet, argwöhnisch verfolgt und noch heute die Faust in der Tasche. Doch letztlich war der lange Atem der Opposition stärker als der lange Arm der Stasi.
Der enorme Druck und Freiheitswille in der DDR hat zum Durchbruch der Angst- und Schweigemauer und letztlich der Berliner Mauer geführt. Es war nicht mehr die eigenständige Entscheidung der SED-Führung, sondern eine erzwungene. Die SED lief der Entwicklung hinterher. Mir hat damals ein SED-Funktionär erzählt, dass er seine für den Sonderpartei tag vorbereitete Rede fünfmal umschreiben musste, um sie der aktuellen Lage anzupassen. Darum war der Mauerdurch bruch nicht nur das Versehen eines schusseligen Politbüromit glieds und seiner gestammelten Worte: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Ohne den 7. Okto ber 1989, die große Leipziger Montagsdemonstration, hätte es den 9. November 1989 in Berlin nicht gegeben und nicht den 3. Oktober 1990. Ohne die gesteigerte Bereitschaft, auf die Straße zu gehen, hätte es den Andrang an den Grenzüber gängen nicht gegeben, wäre die frisch errungene Freiheit nicht sofort getestet und die Selbstbefreiung vollendet worden.
In der Terminologie Lenins, des Altmeisters der organisierten Revolution, war das eine Revolution neuen Typs: eine Revo lution ohne Gewalt, ohne theoretisches Konzept und ohne Avantgarde, der gleichzeitige Aufbruch etlicher Oppositions gruppen ohne Drahtzieher und Rädelsführer. Wenn es einen Anführer gab, dann war es die Stadt Leipzig – keine „Helden stadt“, eine nach Sowjetkultur klingende Übertreibung. Viel leicht erkennt man die Helden eher daran, dass sie keine sein wollen.
Es war eine Revolution, bei der Kerzenwachs und kein Blut floss, Demonstranten Transparente statt Waffen in den Hän den hielten, kein Sturm auf die Bastille erfolgte, sondern die gewaltfreie Besetzung der Stasizentralen, die Akteure nicht auf die Barrikaden gingen, sondern an die runden Tische, dem Sturz der Nomenklatura kein Wohlfahrtsausschuss und kein „Thermidor“ folgten, sondern frei gewählte demokratische Parlamente.
Der friedliche Ablauf entfaltete eine enorme zivilisatorische Kraft, die im Dominoeffekt ein totalitäres System mit seiner verquasten Ideologie zum Einsturz brachte. Vom „Runden Tisch in Polen“, der friedlichen Revolution in der DDR, der samtenen in der CSSR bis zur singenden im Baltikum war dies ein eindrucksvoller Beitrag zur Bürgergesellschaft, das Errin gen von Freiheit und Bürgerrechten, ohne dass dafür andere Menschen geschlachtet wurden. Das haben die Völker Osteu ropas selbst bewerkstelligt, nicht die Großpolitiker dieser Welt.
Die friedliche Revolution war aber im Kern auch eine protes tantische Revolution. Denn der bahnbrechende Ruf „Keine
Gewalt!“ ist die prägnanteste Zusammenfassung der Bergpre digt, der revolutionärsten Stelle im Evangelium. Ausgerech net im Müntzer-Jahr, das Erich Honecker Anfang 1989 anläss lich des 500. Geburtstags des Reformators mit der Verkün dung einleitete, dass die Mauer noch in 50 oder 100 Jahren stehen werde, sollte das Monstrum fallen – allerdings nicht durch das Gewaltrecht des Guten, das Müntzer predigte, sondern eher durch den zivilen Widerstand im Sinne Bonhoeffers und des Gründungsmotivs der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“.
Überwiegend waren evangelische Kirchen das Basislager der Revolution, nie Gewerkschaftsgebäude, Rat- oder Kulturhäu ser oder Universitäten. Von den Friedensgebeten, die sich oft zu Bürgerforen ausweiteten, ging es direkt auf die Straße – mit einer Mischung aus entschlossenem Ernst, protestanti schem Gestus und geradezu entwaffnender Vernunft und Dis ziplin, welche die Aggressionsgefahr gebannt hat.
Zugleich war es auch eine humane Revolution. Die alte Machtelite kam weitgehend ungeschoren davon. Die SED ver lor ihre führende Rolle, ohne dass dafür Köpfe rollten. „Sta si in die Produktion, nicht in die Koalition“, hieß die Devise. Die SED rettete sich und ihr Vermögen. Heute fordert die Lin ke zu Recht Schadensersatz von Bankern und Spekulanten, ohne der Logik zu folgen, dass Gleiches auch für die Verant wortlichen eines Staatsbankrotts zutrifft.
Es ist höchste Zeit, die Wende – diese von Egon Krenz erfun dene Rettungsformel – durch den Begriff der friedlichen Re volution zu ersetzen. Auf die Straße gingen nicht die Fans von Egon Krenz. Sein Gesicht, das noch im Sommer die chinesi sche Lösung androhte, wurde zur Karikatur mit der Unter schrift: „Großmutter, warum hast du so lange Zähne?“
und sein Name zu ironischen Forderungen wie „Auflösung der Krenz-Truppen“ oder „Blumen statt Krenze“, wahlweise mit K oder G geschrieben.
So richtig es ist, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, so wahr ist es auch, dass die Vergangenheit oft zum Prüfstein der Gegenwart wird. Gerade erleben wir eine bizarre Diskussion über den Begriff „Unrechtsstaat“. Manche meinen, damit wür de die DDR dämonisiert und man würde dem wirklichen Le ben in diesem Staat nicht gerecht. Doch schon die Ablehnung und verschwiemelte Umschreibung dieses Begriffs reiht sich ein in die dummschlaue „Ostalgysi“, die Drei-V-Betrachtung der Vergangenheit: Verdrängung, Verklärung und Verharmlo sung. Wurde nach der NS-Diktatur die Unfähigkeit zum Trau ern festgestellt, trifft man heute nach der SED-Diktatur vor allem auf die Unwilligkeit des Sichinfragestellens. Oder was war ein Rechtsanwalt in einem Unrechtsstaat?
Es geht nicht darum, das Leben in der DDR zu entwerten, son dern darum, den Charakter des Systems zu benennen und die jenigen zu würdigen, die darunter gelitten und bürgerliche Standfestigkeit bewiesen haben.
Heute erleben wir eine DDR, die es so schön nie gegeben hat. Natürlich gab es auch anständiges Leben im falschen System. Doch das sollten wir sehr gut auseinanderhalten. Denn dort, wo die DDR vornehmlich als Erinnerung ihrer privaten All tagsseiten fortlebt, verblasst häufig die Unrechtsnatur des Sys tems. Immer recht hatte – wie im Lied besungen – allein die Partei. Den Bürgern blieb nur die Möglichkeit von Eingaben, um wie im Feudalismus die Herrschenden darum zu bitten, dass kleine Ungerechtigkeiten, Mängel und Missstände besei tigt werden. Doch es war nicht nur die Willkür kleiner und großer Funktionäre, wie das jetzt nach 25 Jahren – welch ir rer Erfolg parteiinterner Aufarbeitung! – in die Präambel ei nes Koalitionsvertrags Eingang finden soll, den, wie wir alle wissen, wichtigsten Teil eines solchen Vertrags.
Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist keine Generalverdammungs keule, kein Gesslerhut oder Gesinnungs-TÜV oder was man sonst alles an kreativer Abwehr hören und lesen kann. Ich fin de ihn treffend für einen Staat, der von einer Parteinomenkla tura beherrscht wurde, der keine freien Wahlen zuließ, keine Gewaltenteilung, kein Verfassungsgericht, keine unabhängi ge Justiz und keine freie Presse hatte.