Protokoll der Sitzung vom 13.11.2014

Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist keine Generalverdammungs keule, kein Gesslerhut oder Gesinnungs-TÜV oder was man sonst alles an kreativer Abwehr hören und lesen kann. Ich fin de ihn treffend für einen Staat, der von einer Parteinomenkla tura beherrscht wurde, der keine freien Wahlen zuließ, keine Gewaltenteilung, kein Verfassungsgericht, keine unabhängi ge Justiz und keine freie Presse hatte.

Er ist eher mild für einen Staat, der kollektive Freiheitsberau bung betrieb, um einen fragwürdigen Gesellschaftsentwurf an unterdrückten und eingesperrten Menschen umzusetzen; wo auf Republikflucht ohne Haftbefehl und Gerichtsurteil die To desstrafe stand, die an der Grenze sofort vollstreckt wurde, wenn der Aufforderung, stehen zu bleiben, nicht Folge geleis tet wurde; in dem man apodiktisch eine Weltanschauung ver passt bekam, ohne dass man sich die Welt anschauen konnte.

Nicht einmal die Gedanken waren frei in einem Staat, der ei ne alle Lebensbereiche überwachende Geheimpolizei und ein perfides Spitzelsystem unterhielt, der politische Gefangene – taxiert nach Alter und Qualifikation – wie Leibeigene in den Westen verkaufte, mit Zwangsadoption über ihre Kinder ver fügte oder aufsässige Jugendliche in Jugendwerkhöfe steck te, der aus Prestigegründen Sportler dopen ließ. Oder was muss man noch alles aufzählen, um einen Staat, der keine de mokratische Legitimation hatte und in dem grobes Unrecht herrschte, als Unrechtsstaat zu bezeichnen?

Sicher, auch in der alten Bundesrepublik gab es lange Zeit um strittene Einschränkungen und Verbote. Noch heute stoßen wir auf Ungerechtigkeiten. Nicht nur Bärbel Bohley musste er kennen, dass Rechtsstaat und Gerechtigkeit nicht identisch sind. Doch wer versucht, den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Unrechtsstaat und Rechtsstaat zu verwischen, als gäbe es nicht schwarz und weiß, und betont, die DDR sei nur grau gewesen, eine kommode Diktatur mit etlichen Errungenschaften, der versucht, das Geschichtsbild über ein totalitäres Regime zu retuschieren. Diesen Versuch hat es mit dem Hinweis auf den Bau von Autobahnen schon einmal gegeben – und Sie wissen, wie lange wir gebraucht ha ben, um diesen Irrtum auszuräumen.

Deswegen sollten wir dem Bundespräsidenten dankbar sein, dass er die Wertegrundlagen unserer offenen Gesellschaft ver teidigt und die Relativierung von Unrecht nicht durchgehen lässt.

(Beifall)

Der künftige Ministerpräsident von Thüringen fühlte sich, wie er sagte, als Christ missachtet – von einem evangelischen Pas tor vor dem Altar mit brennender Kerze. Nun hat er bislang nicht gerade als Christ um Vertrauen geworben. Offenbar konnten ihm seine Genossen, die jetzt so vehement seine Her kunft betonen, auch nicht sagen, dass es ein Interview in der Gethsemanekirche war – einst Zentrum der friedlichen Revo lution, die ihm die Karriere vom Gewerkschaftsfunktionär zum Fraktionschef der Linken ermöglicht hat.

Klar, er war nicht in der SED. Leider verschweigen das aber die meisten Biografien in seiner Fraktion. Sie lesen sich eher wie das Wunschbild der Linken: geboren im Wendeherbst, aufgewachsen an den runden Tischen, politisiert von den so zialen Ungerechtigkeiten und der Siegerjustiz der westdeut schen Annexion. Warum stehen sie nicht zu ihren Lebensläu fen, die angeblich durch die deutsche Einheit entwertet wur den, und verantworten sich endlich dafür, dass es keine Sta si-, sondern eine SED-Diktatur war? Wir müssen endlich vom Schild und Schwert auf die Verantwortungsträger zu sprechen kommen.

Und was ist die christliche Botschaft, wenn man mit rotem Keil an der Jacke und Marx-Miniatur in die thüringische Staatskanzlei einziehen will?

(Beifall)

Ist das ironische Anspielung, Politfolklore oder Traditionsbe kenntnis?

Der rote Keil über dem i der Linkspartei – viele wissen das nicht oder finden es belanglos – geht auf den russischen Ma ler El Lissitzky und sein Propagandaplakat „Schlagt die Wei ßen mit dem roten Keil“ zurück, was den Bolschewiki mit der Zerschlagung der bürgerlichen Gesellschaft, der Bauernschaft und der orthodoxen Kirche gelungen ist. El Lissitzky starb, noch bevor ihn die Säuberungen treffen konnten. Seine Frau und sein Sohn wurden nach Sibirien verbannt.

Heute erleben wir mit Putin und seinem völkischen Nationa lismus die Folgen dieser roten Keile. Ich finde, 1920 konnte man das Symbol tragen, aber heute – 2014 – verbietet sich das.

Was Karl Marx anbelangt, kann man darüber streiten, ob Le nin und Stalin seine Ideen nur entstellt oder eher zur Kennt lichkeit gebracht haben. Marx hat das Gespenst des Kommu nismus in die Welt gesetzt. Er, der rechthaberische Philosoph, der keinen Philosophen neben sich gelten ließ, war davon überzeugt, dass er das Entwicklungsgesetz der Menschheit ge funden hatte. Und weil ihm die Sache nicht schnell genug ging, hat er die Diktatur des Proletariats entworfen.

Deswegen darf man ihn von der Verantwortung für das, was in seinem Namen geschehen ist, nicht freisprechen. Es war ei ne brutale Idee. Für seine kommunistische Gesellschaft ver langte er den neuen Menschen. Der alte sei – ich habe Marx ausgiebig gelesen – „Kehricht“, „Gesindel“. „Das jetzige Ge schlecht“ – so schrieb er – „hat nicht nur eine neue Welt zu erobern; es muss untergehen, um den Menschen Platz zu ma chen, die einer neuen Welt gewachsen sind.“ Das durfte Sta lin durchaus als Handlungsanleitung für seinen „Archipel Gu lag“ verstehen und Ulbricht für sein Sozialismus- und Erzie hungsexperiment hinter Mauer und Stacheldraht.

Stasichef Mielke motivierte seine Tschekisten gern mit MarxZitaten. Schon in den Statuten des Bundes der Kommunisten, die Marx und Engels verfasst haben, waren revolutionäre Wachsamkeit und die Eliminierung verdächtiger Subjekte und Klassengegner gefordert.

Ich weiß nicht, ob der nachlassende Geist der 68er zur milden Nachsicht auf die Wirkungsgeschichte des Kommunismus ge führt hat. Als Weltanschauung war er jedenfalls ein großer Irr tum und in der praktischen Umsetzung ein großes Verbrechen.

(Beifall)

Aber als Traum von und Sehnsucht nach einer besseren Welt gehört er noch immer zum Repertoire von Demagogen.

Deswegen ist es mehr als ein Skandal, dass eine Partei, die um Vertrauen wirbt und angeblich das Grundgesetz achtet, ei ne kommunistische Plattform unterhält und neue Wege zum Kommunismus erkundet.

(Beifall)

Die Linkspartei ist nicht mehr die SED und keine totalitäre Bedrohung. Aber sie hat aus dem ökonomischen Fiasko, dem falschen Menschenbild und der falschen Sozialpolitik wenig gelernt. Nach wie vor gehört die Systemüberwindung zum Programm.

Gewiss, das wird in Thüringen nicht zu machen sein. Dort wird bei aller Sorge das christliche Abendland nicht unterge hen; das versuchen im Moment ganz andere Fanatiker. Ich ha be auch kein Problem damit, dass eine Koalition, die durch demokratische Wahlen zustande kommt, letztlich zu akzep tieren ist, auch wenn ich sie falsch finde. Aber einige Fragen sollten im Voraus unmissverständlich geklärt werden. Was in Thüringen und den anderen ostdeutschen Bundesländern an Problemen bestand und noch abgetragen und geleistet werden muss, hat vor allem mit dem Erbe der SED-Diktatur und we niger mit den Verwerfungen infolge der deutschen Einheit zu tun.

(Beifall)

Unsere Zukunft entscheidet sich auch in der Auseinanderset zung mit der Vergangenheit – und das ist keine Marotte von vergnatzten Bürgerrechtlern.

Die Spaltung Deutschlands, dieses Narrativ, lässt sich am bes ten über Geschichten erfahren. In der letzten Zeit konnte man auf allen Kanälen sehen und hören und in den Medien lesen, was Menschen damals bewegt hat, wo sie am 9. November waren, was sie dachten, fühlten und erlebt haben. Das zeigt einfach: Die Geschichte brodelt und qualmt noch.

Auch in meinem Leben waren Mauerbau und Mauerfall zwei einschneidend prägende und unvergessliche Erlebnisse. Ich wollte es mir in diesen Tagen eigentlich verkneifen, darüber zu reden – habe es auch überall getan –, aber hierher passt es irgendwie; denn den Bau der Mauer habe ich in Baden-Würt temberg erlebt, in Hemsbach an der Bergstraße. Wie jedes Jahr zuvor verbrachte ich dort bei meiner Großmutter einen Teil meiner Schulferien. Mein Vater kam, um mich abzuholen. Doch diesmal war es anders. An einem Sonntag im August 1961 nahm er mich mit in den Dorfgasthof. In der Ecke lief

ein Schwarz-Weiß-Fernseher mit bedrohlichen Bildern, die nach Krieg aussahen. Die aufgebrachten Männer sprachen vom Russen, der jetzt Berlin einnehmen wird, und vom Ami, der sich das nicht gefallen lässt.

Danach bin ich mit meinem bestürzten Vater wochenlang durch Baden-Württemberg gereist, nach Ulm, Bruchsal, Kon stanz, Bad Mergentheim, Tübingen und Stuttgart. Er hatte hier ab 1927 nach seiner Schusterlehre als Berufssoldat unter Er win Rommel gedient und, wie er sagte, noch viele alte Kame raden. Sie alle rieten ihm ab, in die DDR zurückzufahren. Er sollte abwarten, wie sich die Sache entwickelt, und nicht in die Falle gehen.

Letztlich war es mein dringender Wunsch, nach Sachsen zu meiner Mutter und meiner Schwester zurückzukehren. Mitte September fuhren wir dann in einem völlig leeren Interzonen zug zurück nach Leipzig, voll bepackt mit Westproviant für die nächsten Jahre. Das Bild ist mir deswegen noch so in Er innerung, weil die Züge in den Westen übervoll waren und ich auf der Hinfahrt die ganze Zeit im eng gedrängten Gang auf dem Koffer sitzen musste. Die Grenzpolizisten waren total verwundert und betrachteten uns wie Aliens. Es war eine ver blüffende Bewegung gegen den Strom.

Wenige Jahre später starb der Bruder meines Vaters, mein On kel Karl, der eine Metzgerei in Weinheim hatte, dann seine Schwester, meine Patentante Paula. Es war die Zeit der völli gen Abschottung, in der es selbst für Beerdigungen keine Be suchsreisen gab.

Im Sommer 1966 wurde meine Schwester bei versuchter Re publikflucht in Ungarn verhaftet; das Paneuropäische Pick nick lag noch in weiter Ferne. Die Ungarn sperrten den WestCousin, der die Flucht organisieren wollte, ins Gefängnis und konfiszierten sein Auto. Meine Schwester brachte Monate spä ter ein Kind in Untersuchungshaft zur Welt, kam frei, weil mein Schwager alles auf sich nahm und dafür acht Jahre Zuchthaus erhielt.

Mein Vater ist davon krank geworden und frühzeitig während meiner Abiturprüfung 1968 gestorben. Später starben meine Großmutter und andere Verwandte. Erst ab 1990 konnte ich deren Gräber aufsuchen.

Das ist nur ein kleines Beispiel von den Tausenden – mein persönliches –, wie Familien zerrissen wurden. Mich hat das und die Niederschlagung des Prager Frühlings damals in die Opposition getrieben.

Die Erinnerung an die Mauer verblasst. Für Jugendliche, wel che heute die Mauerreste in Berlin suchen, scheint die Tei lungsgeschichte so weit zurückzuliegen wie die Reste von Pompeji. Das belegen Umfragen, aber auch eine bezeichnen de Episode:

Eine Bundestagsbesuchergruppe – Schüler aus Bayern; aber sie hätten auch aus jedem anderen Bundesland kommen kön nen, auch aus Ostdeutschland – fragte mich, wo denn früher mal die Mauer stand. Das kann man am Reichstag nur noch anhand von Pflastersteinen erkennen, die im Boden eingelas sen sind. Daraufhin kam prompt die Frage, warum denn der Bundestag so nah an die Mauer gebaut wurde.

(Heiterkeit)

Die Mauer ist weg und hat zum Glück ihren Schrecken ver loren. Wir müssen allerdings aufpassen, dass der Todesstrei fen nicht zur Berliner Eventmeile mit Kunst- und Lichtinstal lationen mutiert

(Beifall)

und im Nachhinein nur noch als bunte Graffitiwand oder East Side Gallery erscheint, in deren rostiger Armierung – im Kon trast zur Scheidungsquote – heute die allseits beliebten, an sonsten Brücken und Geländer beschwerenden Treueschlös ser hängen.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Wichtig für eine lebendige Erinnerung und konsequente Er innerungskultur bleibt eine politische Öffentlichkeit, die sich erinnern will.

Wir müssen das Wort von der Unglaublichkeit des Mauerbaus ernst nehmen. Ansonsten wird schon bald niemand mehr glau ben, dass so etwas inmitten einer Großstadt errichtet wurde. Ulbrichts Jahrhundertlüge, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen, hat bereits die satirische Fortsetzung gefun den: Niemand habe die Absicht, einen Flughafen zu eröffnen.

(Heiterkeit)

Aber Sie können hier auch „Bahnhof“ einsetzen, wenn Sie wollen.

(Heiterkeit und Beifall)

Hegel hat behauptet, dass sich jede historische Konstellation zweimal ereignet. Das ist mir durch den Kopf gegangen, als ich gelesen habe, dass die Verteidiger von Rastatt – Sie haben es angesprochen, Herr Landtagspräsident –, die für die erste deutsche Verfassung kämpften, hier in der Nähe 1849 den an rückenden preußischen Truppen entgegenriefen: „Wir sind das Volk!“ Doch der König von Preußen befahl: „Gegen Demo kraten helfen nur Soldaten.“

Was 1848/1849 scheiterte, gelang 1989: eine friedliche Revo lution für Freiheit und Einheit. Es war ein langer Weg von der Frankfurter Paulskirche bis zur Leipziger Nikolaikirche für die parlamentarische Demokratie. Dem Geschichtsverlauf ge recht werdend müsste es in unserer Nationalhymne eigentlich lauten: Freiheit und Recht und Einigkeit sind des Glückes Un terpfand. Noch besser wäre eine neue Hymne in der Verbin dung von Brecht und Beethovens „Ode an die Freude“ gewe sen, eine Melodie, die immerhin bis 1960 die Hymne der ge meinsamen Olympiamannschaft war.

Noch ist der Ruf „Wir sind das Volk!“, dieser Anspruch auf direkte Demokratie, nicht erfüllt, ist die im Grundgesetz ver briefte Machtausübung des Souveräns durch Wahlen und Ab stimmungen im Bund nicht verwirklicht. Es ist nicht nur Po litikverdrossenheit, wenn viele nicht zur Wahl gehen. Oft ist es auch die unproblematische Form des Egalseins, wenn man nur alle vier Jahre zwei Kreuze machen darf und ansonsten nicht gefragt wird.

Das euphorische Glücksgefühl des Mauerfalls konnte nicht von Dauer sein. 25 Jahre danach lässt sich die Lage der Nati on mit drei Worten beschreiben: deutsch, aber glücklich.

Wir haben Erstaunliches erreicht. Mit enormer finanzieller und personeller Unterstützung aus den alten Bundesländern ist in Ostdeutschland ein nationales Aufbauwerk entstanden. In der DDR hieß das mal NAW und bestand am Ende nur noch aus unbezahlter Arbeit für den Bezug einer Plattenbauwoh nung. „Ruinen schaffen ohne Waffen“, lautete die sarkastische Beschreibung des Städteverfalls.