Protokoll der Sitzung vom 28.09.2011

(Zuruf von der CDU: Einheitsbrei!)

Wir werden Hauptschulen eine Perspektive geben und Real schulen unterstützen. Wir geben Eltern ein stärkeres Mitspra cherecht bei der Auswahl der Sekundarschule und stellen da bei qualifizierte und verantwortungsvolle Beratung sicher. Und wir werden die Lehreraus- und -weiterbildung neu jus tieren. Das hat nichts mit „zweiter Klasse“ à la CDU zu tun, sondern im Gegenteil: Wir haben die alte schwarze Dampflok abgekoppelt und lösen für alle Schüler einen Erste-KlasseFahrschein in einem modernen Bildungssystem.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Zurufe von der CDU: Sehr konkret, alles sehr konkret! – Abg. Volker Schebesta CDU: Jetzt wissen wir, was die Re gierung beschließen will! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Oh Herr, vergib ihnen!)

Das Wort für die Frak tion der FDP/DVP erteile ich Herrn Abg. Dr. Kern.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte doch um Ruhe und Aufmerksamkeit für die Redner.

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Her ren! Für einen Liberalen lautet die alles entscheidende Frage in der Bildungspolitik: Wie lassen sich durch Bildung mög lichst viele Chancen für den Einzelnen eröffnen? Auf dieses Ziel werden wir uns hier vermutlich über alle Parteigrenzen hinweg verständigen können. Woran sich die Geister jedoch

scheiden, ist die Frage, auf welchem Weg zusätzliche Chan cen eröffnet werden können und entstehen.

Die Landesregierung plant nun, eine Gemeinschaftsschule einzuführen, in der es keine Klassen mehr, sondern bunt ge mischte Lerngruppen geben soll.

(Zuruf von der CDU: Einheitsbrei!)

Schüler mit Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialempfeh lung sitzen hier zusammen, und der Lehrer bzw. die Lehrerin unterrichtet synchron nach drei Bildungsstandards, eben de nen für Hauptschule, Realschule und Gymnasium.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Genau! Herr Zel ler macht sicher einmal exemplarisch vor, wie das geht! – Zurufe von der SPD, u. a.: Keine Ahnung! – Unruhe)

Hören Sie doch einmal zu! Es wird Sie freuen, was ich jetzt sage. – Meine Damen und Herren, das kann funktionieren, z. B. bei gut vorbereiteten Arbeitsblättern im Rahmen von Freiarbeit. Aber wie verhält es sich, wenn der Lehrer doch ein mal etwas an der Tafel erklären muss? Spätestens hier stößt die Binnendifferenzierung an ihre Grenzen und riskiert, so wohl die stärkeren als auch die schwächeren Schüler eben nicht mitzunehmen.

(Zuruf von der SPD: Nichts verstanden!)

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Es gibt zweifels ohne eine Vielzahl von Konzepten, Lehrkräften und Schulen auch in unserem Land, die mit heterogenen Lerngruppen her vorragend umzugehen verstehen. Diese Konzepte bereichern selbstverständlich die Angebotsvielfalt und geben wertvolle Impulse für unser Schulwesen.

Ihnen aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Grün-Rot – das haben wir gerade eben gehört –,

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja!)

geht es um etwas ganz anderes.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Völlig richtig!)

Sie meinen, man müsse einfach nur alle Schüler eines Jahr gangs in eine Lerngruppe pferchen, dann würden sich die Chancen schon mehr oder weniger von allein gleich verteilen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Bravo!)

Meine Befürchtung ist: Wenn Sie sich auf diesem Irrglauben ausruhen und keine zusätzlichen Anstrengungen unternehmen, um jeden einzelnen Schüler seinen Fähigkeiten und Neigun gen gemäß zu fördern, werden alle, vor allem aber die Schwä cheren, die Leidtragenden sein.

(Zuruf von der CDU: So ist es!)

Deshalb ist es völlig unverständlich und auch unverantwort lich, dass Ihre Koalition bei der neuen Werkrealschule die Ko operation mit den Berufsfachschulen in Klasse 10 kippen will. Dabei hätte gerade dies den Werkrealschulen eine echte Be rufsorientierung ermöglicht und deren Schülern reale Chan

cen auf einen Ausbildungsplatz und später auf einen Arbeits platz gegeben.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Bravo!)

Die FDP/DVP-Fraktion sieht in einem differenziert geglieder ten, vielfältigen und zugleich durchlässigen Schulwesen den besten Weg, um das in der Landesverfassung verankerte Recht eines jeden jungen Menschen – ich zitiere aus Artikel 11 Abs. 1 – „auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung“ zu verwirklichen und jedem eine möglichst individuelle Förderung zukommen zu lassen.

Innere und äußere Differenzierung, die Differenzierung inner halb einer Schülergruppe und die Differenzierung von Grup pen nach Fähigkeiten und Neigungen gehören nach unserer Auffassung zusammen und sind zwei Seiten derselben Me daille. Deshalb ist es schlicht nicht glaubwürdig, zum Zweck der verbesserten Binnendifferenzierung die äußere Differen zierung abzuschaffen, wie es das Wunschziel von Grün-Rot ist.

Die Einführung der Gemeinschaftsschule bedeutet einen An griff auf die vielfältigen Bildungsangebote in Baden-Würt temberg.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das Ende der Re alschule!)

Nicht ohne Grund – das nehmen wir im Gegensatz zu Ihnen ernst – beklagen die Lehrerinnen und Lehrer an den berufli chen Schulen, dass die aktuelle Bildungspolitik der Landes regierung dem beruflichen Schulwesen das Wasser abgraben könnte.

(Zuruf von der SPD: „Könnte“!)

Das betrifft die dort noch immer unzureichende Lehrerversor gung, aber auch die Konkurrenz in Gestalt der Gemeinschafts schule.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Die gibt es doch noch gar nicht! – Zuruf des Abg. Siegfried Lehmann GRÜ NE)

Nebenbei bemerkt: Es gibt mit den beruflichen Gymnasien bereits eine neunjährige Alternative zum achtjährigen Gym nasium.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja!)

Also besteht weder eine Notwendigkeit für eine wie auch im mer geartete Teilrückkehr zu G 9 noch für eine Gemein schaftsschule mit dreijähriger Oberstufe.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU – Zuruf von den Grünen: Thema verfehlt! – Glocke des Präsidenten)

Herr Kollege Dr. Kern, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Lehmann?

Am Ende gern.

Sinnvoller erscheint es da, die knappen Ressourcen des Bil dungsbereichs zunächst für die Beseitigung des strukturellen Unterrichtsdefizits an den beruflichen Schulen zu verwenden,

statt kostenträchtige neue und vor allem unnötige Baustellen aufzumachen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Apropos Ressourcen: Ich befürchte, dass die neue Gemein schaftsschule durch eine einseitige Privilegierung dieser Schul art gegenüber allen anderen Schularten durchgesetzt werden soll. Erste Hinweise darauf finden sich in den Eckpunkten, die wir heute lesen konnten. Für die Gemeinschaftsschule gilt der Klassenteiler von 28, für die übrigen weiterführenden Schul arten bleibt es wohl bei einem Klassenteiler von 30. Denn die Landesregierung hat sich offenbar klammheimlich vom all gemeinen Ziel eines Klassenteilers von 28 verabschiedet.

Auch hat die Gemeinschaftsschule beim Ganztagsschulaus bau wohl Vorfahrt.

Schließlich spricht der Koalitionsvertrag von einem Innova tionspool. Auch hier ist zu befürchten, dass dieser vor allem für diejenigen Innovationen zur Verfügung steht, die ins vor gegebene Weltbild passen. Eine solche Wahlfreiheit, die die Landesregierung propagiert,

(Zuruf von der SPD: Ein Weltbild wie in Schleswig- Holstein!)

ist alles andere als eine echte Wahlfreiheit. Vielmehr werden gezielt ungleiche Ausgangsvoraussetzungen geschaffen, wenn für die Gemeinschaftsschule mehr Ressourcen pro Schüler zur Verfügung stehen als für die anderen Schularten.

Bei näherer Betrachtung erscheint der grün-rote Bürgerdialog gar sehr am goldenen Zügel geführt. Denn wäre es der Lan desregierung tatsächlich um mehr Mitsprache der vor Ort am Bildungswesen Beteiligten gegangen, hätte es zahlreiche Mög lichkeiten gegeben, beispielsweise mehr Kompetenzen in die Eigenverantwortung der Schulen zu delegieren. Doch davon war bisher leider nichts zu merken.

Zweifellos ist nichts so gut, dass man es nicht noch besser ma chen könnte. Weiterentwickeln und optimieren sind hier ge fragt, aber nicht Totalumbau und Auf-den-Kopf-Stellen. Las sen wir die an unserem Bildungswesen Beteiligten – Lehre rinnen und Lehrer, Schüler, Eltern, Schulleitungen, Schulträ ger und weitere – doch einfach einmal ihre Arbeit machen,