Protokoll der Sitzung vom 01.10.2015

Ein wichtiges Angebot ist auch das Ombudswesen an den Lan deserstaufnahmeeinrichtungen. Dieses richtet sich an Flücht linge und ehrenamtlich Tätige, aber vor allem auch an Nach barn und Einheimische. Sie können dort Sorgen und Ängste vorbringen, und es wird dann nach Lösungen für die vorge brachten Probleme gesucht. Darüber hinaus haben wir eine landesweite Ombudsstelle beim Integrationsministerium ein gerichtet, die schnell und informell Beschwerden und Anre gungen aufnehmen und die zuständigen Behörden einschal ten kann.

Ein pragmatischer Humanismus – das leitet unser Handeln im Hinblick auf die Flüchtlinge im Land. Das ist unser Anspruch; gemeinsam sind wir ihm bisher in Baden-Württemberg ge recht geworden.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch und Günther-Martin Pauli CDU)

Wir, das Land, werden die Herausforderung allein nicht be wältigen können; nur in einer Verantwortungsgemeinschaft von Europa, Bund, Ländern und Kommunen können wir die Aufgabe meistern.

Deshalb war ich über Wochen in intensiven Gesprächen und Verhandlungen mit der Bundeskanzlerin und den Ministerprä sidentinnen und Ministerpräsidenten der anderen Länder. Wir haben uns früh mit konkreten Vorschlägen in die Verhandlun gen eingebracht und letztlich eine Menge durchsetzen kön nen. Aber auch wir haben natürlich Kompromisse gemacht. Denn es ist so: In Zeiten der Krise – so sehe ich es jedenfalls – ist ein Geist der Kompromissbereitschaft unerlässlich, in Zeiten der Krise muss gemeinsames Handeln vor politischer Profilierung stehen. Konsensorientierung und weniger Kon fliktbereitschaft ist hier angesagt.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie des Abg. Günther-Martin Pauli CDU)

Deshalb bin ich froh, dass wir uns beim Flüchtlingsgipfel in Berlin auf ein Gesamtpaket verständigen konnten, ein Paket, das unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht wird, das politisch breit getragen wird und das vor allem Ergebnisse bringt, die uns voranbringen.

Im Einzelnen: Im Jahr 2015 wird der Bund die Länder und die Kommunen um 1 Milliarde € zusätzlich entlasten und mit den beschlossenen Maßnahmen im Jahr 2016 um mindestens 4 Milliarden €. Der Bund wird sich nun endlich dauerhaft, strukturell und dynamisch an den Kosten der Unterbringung und der Versorgung der Flüchtlinge beteiligen, und zwar in Form einer Pauschale von 670 € monatlich für jeden Flücht ling von der Registrierung bis zum Abschluss des Verfahrens. Dadurch werden die Länder und die Kommunen dauerhaft um Milliarden entlastet. Das ist ein ganz wichtiger Fortschritt, um den wir lange und hart gekämpft haben.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Der Bund wird die Begleitung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge verbessern und hierfür jährlich 350 Millionen € bereitstellen. Ebenfalls wird der Bund die Mittel für den so zialen Wohnungsbau um 500 Millionen € jährlich für die Jah re 2016 bis 2019 aufstocken, und die durch den Wegfall des Betreuungsgelds frei werdenden Mittel werden für Maßnah men zur Verbesserung der Kinderbetreuung an die Länder ge geben.

Das A und O bei der Bewältigung der aktuellen Flüchtlings situation ist die Verfahrensdauer. Derzeit dauert ein Asylver fahren im Schnitt fünf bis sechs Monate. Mit der Kopplung der Pauschale vom Bund an die Verfahrensdauer ist endlich ein Anreiz geschaffen worden, diese Verfahren zu verkürzen und die dafür notwendigen personellen Voraussetzungen im BAMF zu schaffen. Auch das ist ein wichtiger Fortschritt.

Wenn wir hier jetzt eine Beschleunigung hinbekommen, wer den die Erstaufnahmeeinrichtungen entlastet; die Flüchtlinge werden nicht so lange in Ungewissheit gelassen, und der An reiz, nach Deutschland zu kommen, wird für die, die keine Bleiberechtsperspektive haben, drastisch verringert. Abge lehnte Bewerber hätten schneller Klarheit und würden schnel ler in ihre Heimat zurückkehren oder zurückgeführt. Jene, die bleiben können, könnten schneller integriert werden und schneller in Arbeit kommen.

Beschlossen wurde auch, dass die Länder künftig Asylbewer ber für bis zu sechs Monate in den Erstaufnahmeeinrichtun gen unterbringen können. Bisher lag die Höchstdauer bei drei Monaten. Das ist sehr wichtig, um dem Wunsch der Kommu nen nachkommen zu können, möglichst nur noch Flüchtlinge mit einer Bleibeperspektive oder abgeschlossenem Asylver fahren an sie weiterzuverteilen.

Teil des Pakets ist auch ein gesteuerter Zugang zu Arbeit und Ausbildung für Menschen vom Balkan, für die das Asylrecht zu 99 % eine Sackgasse bildet, übrigens schon bevor ihre Län der zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden.

(Zuruf: Genau!)

Künftig dürfen die Menschen, die einen Arbeits- oder Ausbil dungsvertrag vorweisen können, in Deutschland arbeiten oder eine Ausbildung aufnehmen. Davon haben beide Seiten etwas. Hoch motivierte Menschen vom Balkan bekommen bei uns eine Chance, z. B. in der Pflege und in Mangelberufen. Die Unternehmen profitieren, da sie in einigen Bereichen auf Ar beitskräfte und Azubis aus dem Ausland angewiesen sind. Das ist ein wichtiger Schritt, um Druck aus dem Asylsystem zu nehmen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Auch bei der Gesundheitskarte ist jetzt die Zeit des Verzö gerns und Aussitzens endlich vorbei. Flüchtlinge müssen künftig nicht mehr zuerst zum Amt gehen, bevor sie einen Arzt aufsuchen, und das ist gut. Denn das bisherige Prozedere war für die Flüchtlinge belastend und für die Verwaltungen vor Ort ein überflüssiger bürokratischer Aufwand. Deshalb wird das auch von den kommunalen Landesverbänden begrüßt.

Ich möchte aber noch einmal klar sagen, dass mit der Gesund heitskarte keine Ausweitung des Leistungskatalogs einher geht. Verbessert wird jedoch künftig der Impfschutz für Flüchtlinge, und anerkannte Asylbewerber erhalten einen bes seren Zugang zu psychologischer Betreuung. Das ist ein gu ter Schritt; denn gerade Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern sind oft traumatisiert. Zukünftig können auch Flüchtlinge mit einer medizinischen Ausbildung in die medizinische Erstver sorgung anderer Asylsuchender in den Aufnahmeeinrichtun gen eingebunden werden. Sie können also selbst mit anpa cken. Auch das ist ein gutes Ergebnis.

(Beifall bei den Grünen und der SPD, des Abg. Gün ther-Martin Pauli CDU sowie der Abg. Dr. Friedrich Bullinger und Andreas Glück FDP/DVP)

In Zukunft haben Asylbewerber mit einer guten Bleibepers pektive von Anfang an Anspruch auf aktive Arbeitsmarktför derung sowie auf Sprach- und Integrationskurse. Das ist ein wirklicher Paradigmenwechsel.

Außerdem wird es Bauerleichterungen für Flüchtlingseinrich tungen geben, um die Unterbringung von Asylbewerbern zu erleichtern. Das habe ich mit meinem Kollegen Scholz aus Hamburg schon einmal durchgesetzt. Das wird nun weiter fortgesetzt.

Der mit dem Taschengeld abgedeckte Bedarf soll künftig – sofern mit vertretbarem Verwaltungsaufwand möglich – in Erstaufnahmeeinrichtungen in Form von Sachleistungen ge deckt werden. Hierfür kommen auch Wertgutscheine infrage, mit denen die Flüchtlinge bargeldlos einkaufen können.

Vollziehbar Ausreisepflichtige, die sich ihrer Rückführung ent ziehen, bekommen künftig keine Leistungen nach dem Asyl bewerberleistungsgesetz mehr, sondern nur noch das unbe dingt Notwendige. Diese Verschärfung greift nicht, wenn die Person unverschuldet – beispielsweise weil sie krank ist – an der Ausreise gehindert wird.

Im Übrigen kürzt Baden-Württemberg schon bisher Personen das Taschengeld, die sich einer Abschiebung entzogen haben. Baden-Württemberg liegt in Deutschland bei den Abschiebun gen im oberen Drittel. Auch bei uns – wie in ganz Deutsch land – wird derzeit nur ein Teil der Flüchtlinge, deren Asyl antrag abgelehnt wurde, auch tatsächlich zurückgeführt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein wichtiger Grund sind feh lende Pässe.

Daher ist die von mir schon lange geforderte und jetzt geplan te Schaffung einer Passersatzbeschaffungsstelle richtig. Dar über hinaus wird uns der Bund bei der Rückführung aus den Erstaufnahmeeinrichtungen zukünftig durch die Bundespoli zei unterstützen. Durch diese Maßnahmen werden wir bun desweit vorankommen.

Albanien, das Kosovo und Montenegro werden zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Der Bund wird sich gleichzeitig ak tiv für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Si tuation der Minderheiten, vor allem der Roma, auf dem West balkan einsetzen, und die Liste der sicheren Herkunftsstaaten wird alle zwei Jahre überprüft.

Damit dieses umfassende Gesamtpaket möglich wurde, muss ten alle Seiten Kompromisse eingehen. Das ist eine veritable Leistung. Parteiübergreifend haben sich die Ministerpräsiden tinnen und -präsidenten aller Länder und die Bundeskanzle rin zusammengefunden und sich geeinigt. Dieser Konsens der demokratischen Parteien in dieser sensiblen Frage ist ein Wert an sich.

(Beifall bei den Grünen und der SPD, der Abg. Fried linde Gurr-Hirsch und Helmut Rau CDU sowie Dr. Friedrich Bullinger und Andreas Glück FDP/DVP)

Wir sind kompromissfähig, wir nehmen unsere Verantwor tung wahr, wir handeln gemeinsam. Das ist ein wichtiges Si gnal nach innen, aber auch in Richtung Europa.

Deswegen wird Baden-Württemberg den Ergebnissen des Gipfels im Bundesrat zustimmen. Davon, dass im Gesetz steht, was wir verhandelt haben, gehe ich natürlich selbstre dend aus.

Meine Damen und Herren, die größte Herausforderung und zugleich größte Chance liegt allerdings noch vor uns, nämlich

die Integration. Ein kraftvolles Krisenmanagement ist uner lässlich, aber wir dürfen dabei das Entscheidendere nicht ver nachlässigen: eine engagierte und vorausschauende Integrati onspolitik. Auch dafür sind unsere Beschlüsse vom Gipfel letzter Woche ein gutes Signal. Denn eines hat die Vergangen heit klar gezeigt: Ob Zuwanderung ein dauerhafter Erfolg oder eine dauerhafte Belastung wird, hängt entscheidend davon ab, ob die Integration von Menschen, die zu uns kommen, gelingt.

Was wir auf dem Feld der Integration in den kommenden Mo naten und Jahren tun, ist daher eine ganz entscheidende Fra ge für die Zukunft unseres Landes. Sie entscheidet darüber, ob die, die heute zu uns kommen, in Zukunft Hartz IV bezie hen oder ob sie z. B. als Rettungssanitäter Leben retten, bei Daimler die neue S-Klasse entwickeln oder als Fußballer den VfB wieder erfolgreich machen –

(Heiterkeit – Beifall bei den Grünen und Abgeordne ten der SPD sowie des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Die kommen auf anderen Wegen! – Weitere Zurufe)

kurz: ob aus Flüchtlingen Leistungsempfänger oder Leistungs träger werden.

Ich war im Silicon Valley, wie Sie wissen. Da habe ich u. a. auch Apple besucht, das wertvollste Unternehmen an der Bör se, eine unvorstellbare amerikanische Erfolgsgeschichte. Was viele nicht wissen: Der Vater von Steve Jobs war Syrer. 1954 wanderte er in die USA aus. Natürlich ist dies eine einmalige Geschichte, aber sie zeigt dennoch, welche Chancen – auch wirtschaftlicher Art – in der Zuwanderung stecken. Wer weiß, vielleicht steckt in einem der vielen Flüchtlingskinder, die zu uns kommen, ein neuer Steve Jobs, der sein Erfolgsunterneh men dann nicht im Silicon Valley, sondern in einem Schwarz waldtal gründet.

(Beifall bei den Grünen sowie der Abg. Johannes Sto ber und Nikolaos Sakellariou SPD – Oh-Rufe – Wei tere Zurufe)

Deshalb dürfen wir die großen Fehler, die in der Vergangen heit bei Fragen der Integration gemacht wurden, in Zukunft nicht wiederholen.

Dabei sehe ich vor allem zwei große Fehler, die wir zukünf tig vermeiden müssen. Der eine geht – wenn man die histori schen Ursprünge etwas vereinfacht betrachtet – eher auf das Konto des linken Lagers, der andere eher auf das Konto des rechten.

Der erste große Fehler war eine zu große Toleranz gegenüber Verhaltensweisen, die mit den Werten unserer Verfassung nicht vereinbar sind.

(Beifall bei den Grünen und der FDP/DVP sowie Ab geordneten der CDU und der SPD)

Die Lehre daraus ist: Wer zu uns kommt, den müssen wir auch fordern.

(Beifall bei den Grünen, der SPD und der FDP/DVP sowie Abgeordneten der CDU – Oh-Rufe von der CDU)

Der zweite große Fehler war es, den Menschen keine vollum fänglichen Zugänge in unsere Gesellschaft, in unsere Kultur zu eröffnen, ja sie zum Teil sogar zu versperren. Damit mei ne ich etwa den Zugang zu unserer Sprache, aber auch den Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Lehre daraus ist: Wer zu uns kommt, den müssen wir auch fördern.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Wir müssen Integration als das sehen, was sie ist: nämlich ein komplexer Prozess, der die Gesellschaft und die Individuen verändert. Diese Veränderung muss aktiv gestaltet werden. Dabei sind beide Seiten gefordert: die Mehrheitsgesellschaft und die Migranten.

(Abg. Winfried Mack CDU: Wer ist denn die Mehr heitsgesellschaft?)

Wir geben einen Vertrauensvorschuss, wir investieren in die Zukunft der Menschen, die zu uns kommen, wir leben eine Willkommenskultur, aber wir erwarten im Gegenzug Leis tungsbereitschaft, Anstrengung, Verantwortungsbereitschaft und Integrationswillen – darauf kommt es an.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU)

Also: Integration fordern und Integration fördern, das ist – auf eine Formel gebracht – unsere Leitlinie. Ich bin mir sicher, mit einer solchen Haltung, wenn wir sie immer klar benennen und leben, können wir Zuwanderung zu einer Erfolgsge schichte machen.