Derzeit nehmen Deutschland und Schweden die Hälfte aller Flüchtlinge in der EU auf. Das ist auf Dauer nicht tragbar. Deshalb sage ich klipp und klar: Wer sich in Europa der Auf nahme von Flüchtlingen verweigert, der tritt die europäischen Werte mit Füßen, der handelt verantwortungslos, der riskiert ein Scheitern Europas.
Wir brauchen ein Europa, das nationale Egoismen überwin det und die Kraft zum gemeinsamen Handeln findet, ein Eu ropa, das Zuwanderung steuert, ein Europa, das Ordnung und Offenheit in eine gelungene Balance bringt.
Die europäischen Beschlüsse von letzter Woche zur Vertei lung von 120 000 Flüchtlingen per Quote, die Einrichtung von „Hotspots“ und die stärkere Unterstützung des Welternäh rungsprogramms genauso wie die Aufstockung der Nothilfe durch die Bundesregierung sind die ersten richtigen Schritte, aber auch noch nicht mehr. Wir brauchen eine europäische Strategie zur Stabilisierung der fragilen Lage in vielen Län dern. Und zur Bekämpfung der Fluchtursachen brauchen wir ein entschlossenes Agieren der internationalen Staatengemein schaft.
Wir müssen den Balkan wirtschaftlich voranbringen und sta bilisieren. Wir müssen die Zusammenarbeit mit der Türkei in tensivieren. Minister Schmid ist ja gerade wieder zu einer De legationsreise dorthin aufgebrochen. Wir müssen Flüchtlings lager vor Ort im Libanon und in Jordanien stärker unterstüt zen. Wir müssen Grundversorgung gewährleisten, damit die Menschen dort nicht wegziehen, nicht weiterziehen müssen. Eine politische Lösung für Syrien muss konsequent angegan gen werden, und die vielen Probleme und Konflikte in Afrika muss die internationale Staatengemeinschaft stärker in den Blick nehmen. Das mahnen wir an, und das fordern wir ein. Denn wir – das Land und die Kommunen – stehen in der Pflicht, die Menschen, die in Not zu uns kommen, gut unter zubringen und zu integrieren.
Ohne europäische Solidarität und ohne entschlossenes inter nationales Handeln werden wir eines Tages nicht mehr gefor dert, sondern überfordert sein. Und dann können wir unserer Aufgabe nicht mehr gerecht werden – oder zumindest nicht mehr in dem Maß, wie es unser eigener Anspruch ist. Deswe gen unterstützt die Landesregierung ausdrücklich die Bemü hungen der Bundeskanzlerin auf europäischer und internati onaler Ebene in dieser Richtung.
Europa muss also endlich entschlossen handeln und die Flucht ursachen international wirksam bekämpfen. Jeder muss im Rahmen seiner Zuständigkeit seinen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen leisten. Das gilt auch für uns.
In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die bei uns in Baden-Württemberg Zuflucht suchen, dramatisch er höht. 2011 waren es 5 000 Flüchtlinge, 2012 8 000, 2013 14 000, 2014 26 000. 2015 werden es laut Prognosen 100 000 Flüchtlinge sein. Allein im September sind mehr Flüchtlinge nach Baden-Württemberg gekommen als im ganzen Jahr 2014.
Auf diesen dramatischen Anstieg waren wir nicht, war nie mand im Bund und in den Ländern ausreichend vorbereitet. Aber die Landesregierung handelt, und zwar früh, koordiniert und geschlossen.
Baden-Württemberg hat als erstes Bundesland im Oktober 2014 einen Flüchtlingsgipfel mit allen relevanten Akteuren aus Politik und Gesellschaft einberufen.
Wir haben im Juli dieses Jahres einen zweiten Gipfel folgen lassen, noch bevor die Bundesregierung ihren ersten über haupt geplant hatte. Wir haben eine Lenkungsgruppe im Land eingerichtet, in die die kommunalen Landesverbände einge bunden sind. Diese entscheidet schnell und handelt entschlos sen. Wir sind durch Staatssekretär Klaus-Peter Murawski im Koordinierungsstab von Bund und Ländern vertreten und stimmen uns in allen operativen Fragen eng mit der Bundes regierung und den anderen Ländern ab.
Wir haben in kürzester Zeit neue Erstaufnahmeeinrichtungen in Ellwangen, Meßstetten, Heidelberg, Neuenstadt, Weingar ten, Hechingen, Karlsruhe, Hardheim, Immendingen, Sigma
ringen, Mannheim, Sinsheim, Donaueschingen, Offenburg, Freiburg, Villingen-Schwenningen, Bruchsal, Wertheim, Sas bachwalden, Philippsburg und Rottenburg geschaffen, und wir planen weitere in Herrenberg, Tübingen und Schwäbisch Hall. Mit weiteren Standorten sind wir in Verhandlungen.
Im Jahr 2012 hatte das Land nur eine Landeserstaufnahme stelle, die in Karlsruhe, mit 900 Regelplätzen. Heute haben wir eine Regelkapazität von rund 23 500 Plätzen – eine Ver sechsundzwanzigfachung in weniger als drei Jahren! Damit haben wir die Zielmarke, die wir uns beim zweiten Flücht lingsgipfel im Juli für das Jahr 2016 gesetzt hatten, schon heu te deutlich übertroffen. Auch bundesweit liegen wir bei den Erstaufnahmekapazitäten ganz vorn.
Wir haben zahlreiche neue Stellen in den Erstaufnahmeein richtungen geschaffen, um die steigende Zahl der Flüchtlinge organisatorisch bewältigen zu können. Wir haben die Polizei gestärkt, 16 neue Verwaltungsrichter eingestellt und pro hun dert Flüchtlinge eine Sozialarbeiterstelle geschaffen.
Darüber hinaus schaffen wir im Haushaltsvollzug rund 250 weitere Stellen für die Erstaufnahmeeinrichtungen und die Re gierungspräsidien und werden diese nun im Nachtragshaus halt abbilden. Damit gewährleisten wir die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge. Wir verbessern und intensivieren die Rückkehrberatung und beschleunigen die Rückführung abgelehnter Asylbewerber.
Zudem werden wir eine neue Abteilung „Bevölkerungsschutz und Krisenmanagement“ im Innenministerium einrichten, zu sätzliche Stellen im Integrationsministerium schaffen und auch im Regierungspräsidium Karlsruhe eine zusätzliche Ab teilung „Aufnahme, Unterbringung, Verteilung“ einrichten. Wir stellen zusätzliche Mittel für die Mehrarbeitsvergütung bei der Polizei bereit.
Außerdem schaffen wir mindestens zwei weitere Kammern an den Verwaltungsgerichten. Damit leisten wir unseren Bei trag, um die Durchschnittsdauer der Verfahren des einstwei ligen Rechtsschutzes in Asylstreitigkeiten auf möglichst zwei Wochen zu verkürzen, wie es sich Bund und Länder beim Flüchtlingsgipfel zum Ziel gesetzt haben.
Wir haben die Flüchtlingspauschale für die Kommunen von rund 10 000 € im Jahr 2010 auf 13 260 € aufgestockt. Im nächsten Jahr steigt sie sogar auf knapp 14 000 € – so stark unterstützt kaum ein anderes Land seine Kommunen.
Mit den kommunalen Landesverbänden haben wir einver nehmlich vereinbart, die Liegenschaftsausgaben für dieses und das vergangene Jahr voll zu erstatten. Was die künftige Ausgestaltung der Finanzierung angeht, sind wir mit den kom munalen Landesverbänden im Gespräch. Diese wollen sich bis Ende dieser Woche auf eine gemeinsame Position verstän digen. Wir sind offen für ihre Wünsche und Vorschläge.
Ein weiterer Schritt ist die neue zentrale Registrierungsstelle in Heidelberg, die wir gerade einrichten. Dort werden in Zu kunft bis zu drei Viertel aller Flüchtlinge, die zu uns kommen, innerhalb weniger Tage registriert, erkennungsdienstlich be handelt und medizinisch untersucht. Außerdem können sie
dort ihren Asylantrag stellen. Die Flüchtlinge mit guter Blei beperspektive werden danach direkt an die Kommunen ver teilt. Diejenigen mit schlechter Bleibeperspektive kommen in eine der Erstaufnahmeeinrichtungen.
Bereits in Heidelberg werden wir eine Rückkehrberatung durchführen, um auch hier zu beschleunigen. Mit Heidelberg haben wir in der Erstaufnahme ein Konzept aus einem Guss. Dieses neue baden-württembergische Modell ist bundesweit einmalig, wird sehr beachtet
Neue Wege wollen wir auch bei der Gesundheitsversorgung gehen. Führende Ärztevertreter haben uns angeboten, dass Ärzte im Ruhestand in Zukunft in den Erstaufnahmeeinrich tungen freiwillig mithelfen, um die Gesundheitsversorgung zu gewährleisten – ein tolles Angebot, wie ich finde.
In der kommenden Woche werden wir im Lenkungskreis mit den Ärztevertretern und der AOK beraten, wie wir diesen Vor schlag in die Praxis umsetzen können.
Kurz gesagt: Wir handeln koordiniert, entschlossen und mit ganzer Kraft, um unserer Verantwortung möglichst gerecht zu werden.
Natürlich läuft aufgrund der Größe der Herausforderung nicht immer alles sofort rund. Wir stoßen immer wieder an Gren zen.
Die Erstaufnahmeeinrichtungen sind aufgrund der Entwick lungen der letzten Wochen trotz der Versechsundzwanzigfa chung der Kapazitäten mit derzeit über 32 000 Menschen überfüllt. Verwaltung und Polizei arbeiten am Anschlag. Wir alle arbeiten im Krisenmodus und fahren auf Sicht.
In einer solchen Notsituation muss man einfach schnell ent scheiden und handeln können. Wir können natürlich nicht – wie in normalen Zeiten – immer alle recht- und frühzeitig in formieren und einbinden, wie wir uns das wünschen würden. Das ist unmöglich, wenn beispielsweise nachts unerwartet ein Zug mit 700 Menschen ankommt.
Wir betreiben Krisenmanagement. Es geht nun einmal leider nicht nach den Regeln der Diplomatie. Wir gehen aber prag matisch und lösungsorientiert vor.
So haben wir z. B. mit dem Flüchtlingsaufnahmegesetz 2013 beschlossen, dass pro Flüchtling statt 4,5 m2 wie bisher nun 7 m2 zur Verfügung stehen sollen. Natürlich haben wir diese Regel ausgesetzt, weil es nicht anders geht.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja, klar! Das haben wir gleich gewusst! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD: Sie haben die Flüchtlingszahlen nicht gewusst! – Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Völlig daneben!)
Große Erstaufnahmeeinrichtungen sind nicht ideal, aber es geht derzeit nicht anders. Es ist besser, in Zelten zu übernach ten als auf der Straße.
Aber die Lage spitzt sich weiter zu. Allein seit dem 5. Sep tember kamen über 27 000 Flüchtlinge in Baden-Württem berg an. Derzeit nehmen wir täglich rund 2 000 Flüchtlinge auf, und es werden immer mehr. Allein aus Bayern werden uns täglich knapp 1 000 Personen zugewiesen. Deshalb wer den wir ab sofort bis zu 4 500 Personen wöchentlich an die Kreise zuweisen müssen – 1 000 mehr als zuletzt.
Wir haben es bisher geschafft, alle Flüchtlinge unterzubrin gen. Ich würde behaupten: Das ist im Ländervergleich nicht schlecht. Das ist ein gewaltiger Kraftakt, eine gewaltige Ge meinschaftsleistung von Land und Kommunen.
Dafür möchte ich mich bei allen recht herzlich bedanken, bei den Kommunen, den Landkreisen, den Oberbürgermeistern und Bürgermeistern, den Landräten, den Regierungspräsiden ten, den beteiligten Ministerien, den Mitgliedern unseres Len kungskreises und natürlich allen Mitarbeiterinnen und Mitar beitern des Landes. Herzlichen Dank an alle für diesen gro ßen geleisteten Kraftakt!
Ganz besonders bedanken möchte ich mich natürlich bei den Städten und Gemeinden, in denen Erstaufnahmeeinrichtun gen angesiedelt sind. Wir wissen, dass diese Kommunen ak tuell aufgrund leider nicht vermeidbarer Überbelegungen be sonderen Belastungen und wirklich auch großem Stress aus gesetzt sind. Diese Städte und Gemeinden und vor allem die Mitarbeiter dieser Einrichtungen leisten für unser ganzes Land wirklich Außergewöhnliches. Dafür einen besonderen Dank!
Aber auch den vielen Tausend ehrenamtlichen Helfern, die sich oft bis zur Erschöpfung und manchmal darüber hinaus engagieren, dass wir die Menschen ordentlich unterbringen und versorgen können, gilt mein großer Dank; denn ohne die ses Engagement – das muss man ehrlich sagen – wären wir gar nicht in der Lage, die Herausforderung zu bewältigen. Da her unterstützen wir die ehrenamtlichen Helfer auch mit ei nem Förderprogramm zur Unterstützung und zum Aufbau von lokalen Bündnissen der Flüchtlingsarbeit in Höhe von 2 Mil lionen €, mit einem Programm der Landesstiftung, das ehren amtliche Helferkreise unterstützt, aber auch mit unserem Hand buch für Flüchtlingshilfe und mit Onlineangeboten, die die ehrenamtlichen Helfer mit ganz praktischen Hilfestellungen bei ihrer Arbeit unterstützen.
Ein wichtiges Angebot ist auch das Ombudswesen an den Lan deserstaufnahmeeinrichtungen. Dieses richtet sich an Flücht linge und ehrenamtlich Tätige, aber vor allem auch an Nach barn und Einheimische. Sie können dort Sorgen und Ängste vorbringen, und es wird dann nach Lösungen für die vorge brachten Probleme gesucht. Darüber hinaus haben wir eine landesweite Ombudsstelle beim Integrationsministerium ein gerichtet, die schnell und informell Beschwerden und Anre gungen aufnehmen und die zuständigen Behörden einschal ten kann.