Protokoll der Sitzung vom 28.10.2015

Ob schließlich die Selfies der Kanzlerin die Ursache für den Flüchtlingsstrom sind, wie Herr Kollege Rülke das behauptet hat, bleibt zumindest einmal fraglich.

Fraglich ist für uns allerdings nicht die Einrichtung von Tran sitzonen. Denn in Deutschland wird es mit der SPD keine Transitzonen an den Grenzen geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen – Zuruf von der CDU: Wie bitte? – Weitere Zurufe)

Wenn Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Union, diese befürworten, dann sollten Sie uns auch sagen, wie das Ganze umgesetzt werden soll. Es gibt aus meiner Sicht zwei Mög lichkeiten: Entweder die Menschen gehen freiwillig in diese Transitzonen – das ist aber praxisfremd; wir haben offene Grenzen, und ich gehe davon aus, dass sie das nicht tun – oder aber Sie zwingen die Menschen dazu. Dann wird aus einer Transitzone schnell ein Internierungslager, und das wollen wir mit Sicherheit auch nicht.

(Vereinzelt Beifall – Abg. Karl Zimmermann CDU: Das ist eine Kapitulation des Rechtsstaats!)

Dann komme ich auch allmählich zum Ende. Herr Kollege Reinhart, Sie hatten gerade auch wieder angesprochen, dass die grün-rote Regierungsmehrheit sich der Umsetzung des EU-Aktionsplans zur Rückkehr von Flüchtlingen verweigert. Das ist schlicht falsch. Sie haben es aber veröffentlicht.

(Glocke der Präsidentin)

Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Ja. – Das ist schlicht falsch. Vielmehr tut die Landesregierung genau das Gegen teil: Sie forciert nämlich die Maßnahmen zur Rückführung, soweit es in ihrer Macht steht – und auch sehr erfolgreich. Im bundesweiten Ranking steht Baden-Württemberg ziemlich gut da. Wir lehnen vielmehr die Transitzonen ab, und deswegen werden wir auch die Abschiebung weiter so fortführen wie bisher.

Meine Damen und Herren, zum Abschluss: Schwarzmalerei und Panikmache helfen nicht, genauso wenig wie braune Het ze. Ich denke, das Wochenende hat zumindest seitens der EU ein Signal gegeben, dass man verstanden hat, dass man etwas tun muss. Der Grundstein auf europäischer Ebene ist gelegt. Packen wir es an; gemeinsam werden wir es mit Sicherheit schaffen.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Für die Fraktion der FDP/ DVP erteile ich das Wort Herrn Abg. Reith.

Frau Präsidentin, werte Kolle ginnen und Kollegen! Der Umgang mit den Flüchtlingsströ men nach Deutschland ist eine der größten Herausforderun gen, denen sich die Bundesrepublik zu stellen hat. Lieber Kol lege Frey, da brauchen wir keine zehn Jahre. Ich lade Sie gern zu mir in den Wahlkreis ein; da gibt es drei Bedarfsorientier te Erstaufnahmestellen. Wenn Sie diese mit mir besuchen, werden Sie feststellen, dass das mit Abstand die größte Her ausforderung ist, die wir zu bewältigen haben.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Josef Frey GRÜNE)

Es ist wichtig, dass wir Menschen in Not helfen. Fremden feindlichen Ressentiments setzen wir Mitgefühl, Weltoffen heit und Toleranz entgegen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Genauso wichtig ist es jedoch auch, zu erkennen, dass dies mit ganz außergewöhnlichen Herausforderungen verbunden ist. Es wäre naiv, das zu ignorieren. Politik darf nicht nur sa gen: „Wir schaffen das.“ Seriöse Politik braucht einen Plan dafür, wie wir das schaffen. Kriegsflüchtlingen wollen wir so lange Schutz gewähren, bis die Bedrohung von Leib und Le ben in ihrer Heimat vorüber ist. Solange die Bedrohung an hält, droht keine Abschiebung. Für diejenigen Kriegsflücht linge, die dauerhaft bei uns bleiben wollen, ist das Asylrecht jedoch das falsche Instrument. Deutschland braucht ein mo dernes Einwanderungsgesetz, das die chaotische Zuwande rung wieder vernünftigen Regeln unterwirft. Wir brauchen an gesichts unserer alternden Gesellschaft in vielen Berufen Zu wanderer. Aber wir haben ein Recht darauf, uns diejenigen auszusuchen, die wir in unseren Arbeitsmarkt einladen.

(Zuruf: Sehr richtig!)

Die Bundesregierung agiert planlos und hat die Solidarität der europäischen Partner völlig falsch eingeschätzt. Frau Merkel hat eine schwerwiegende Fehlentscheidung getroffen, als sie den Eindruck erweckt hat, Deutschlands Möglichkeiten seien unbegrenzt.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Diese Botschaft ist nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Afrika und in Vorderasien angekommen.

(Abg. Winfried Mack CDU: Woher wissen Sie das?)

„Grenzen auf“ und „Grenzen zu“ – mit diesem Zickzackkurs in der Asylpolitik ist sie ihrem Amtseid nicht gerecht gewor den, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Denn sie hat unsere europäischen Partner vor den Kopf gestoßen. In Deutschland geht unser Staat deshalb organisatorisch in die Knie.

(Zuruf von den Grünen: Was? Wer geht in die Knie?)

Hilft uns da das Papier der Kommission weiter? Ich denke: nur bedingt. Die Mitteilung der Europäischen Kommission enthält Vorschläge für eine Reihe von Maßnahmen, die insbe sondere kurzfristig zur Bewältigung der Flüchtlingskrise er griffen werden sollen. Es gibt auch bereits Pläne zur mittel-

und langfristigen Bewältigung. Aber werden sie auch umge setzt?

Bei der außerordentlichen Sitzung der EU-Innenminister am 22. September 2015 konnte als vorläufige Maßnahme eine Ei nigung zur Umsiedlung von 160 000 Flüchtlingen erzielt wer den. Einen Monat später – da waren es bei Weitem nicht 1 000 – gibt es erste Ergebnisse: 19 Personen wurden bisher umge siedelt. Jetzt sollen weitere 70 Menschen aus Italien in ande re Länder gebracht werden. Italiens Innenminister, Alfano, be tonte dennoch: Die Umverteilung funktioniert.

Angesichts des vereinbarten Zeitplans von sechs Monaten werden also in den kommenden fünf Monaten offenbar je weils ca. 24 000 Menschen umgesiedelt. Kann sich das einer hier im Saal tatsächlich vorstellen? Wie glaubwürdig sind sol che Ziele? Wir brauchen klare und deutliche Ansagen gegen über der Bevölkerung und gegenüber den Flüchtlingen – aber bitte nur solche, die verlässlich sind.

Das eben erwähnte Ziel ist der Verteilmechanismus, auf den man sich auf freiwilliger Basis verständigt hat. Wie soll das dann erst bei Mehrheitsentscheidungen funktionieren? Der Bürgermeister der slowenischen Gemeinde Brezice, Ivan Mo lan, sagte kürzlich in einem SPIEGEL-Interview:

Wenn die deutsche Regierung es wirklich ernst damit meint, dass alle Flüchtlinge willkommen sind, warum schickt sie dann keine Züge direkt nach Kroatien oder hierher, um die Menschen abzuholen? Dann würden die Flüchtlinge nicht mehr leiden, und uns wäre auch sehr geholfen.

So denkt nicht nur Herr Molan. Der Bundesregierung ist viel zu spät klar geworden, dass unsere europäischen Partner das Flüchtlingsproblem für ein rein deutsches Problem halten. Viele meinen, dass Deutschland stark genug ist, das allein zu lösen, und deswegen haben viele EU-Staaten gar kein Inter esse daran, das Problem auf europäischer Ebene zu lösen.

Die Europäische Migrationsagenda beruht auf einem einfa chen Grundsatz: Migranten, die internationalen Schutz benö tigen, zu helfen und Migranten, die in der EU nicht aufent haltsberechtigt sind, zurückzuführen. Zur Umsetzung dieser europäischen Migrationspolitik ist es von entscheidender Be deutung, dass alle Mitgliedsstaaten die jüngst auf EU-Ebene vereinbarten gemeinsamen Vorschriften über Asyl und irregu läre Migration vollständig anwenden. Das tun sie jedoch nicht. Die Kommission kann nur noch Vertragsverletzungsverfah ren einleiten, um entsprechenden Zwang auszuüben. 2013 be trug die durchschnittliche Dauer eines entsprechenden Ver fahrens 27 Monate.

Trotz dieser europäischen Misere müssen wir die Solidarität der Partner einfordern, und zwar noch deutlicher und noch un missverständlicher. Außenpolitische Priorität hat die Verbes serung der Lage der syrischen Flüchtlinge in den Auffangla gern, z. B. in der Türkei, in Jordanien und im Libanon, weil sich sonst weitere Millionen Menschen in Bewegung setzen. Innerhalb Europas muss eine faire Verteilung der Lasten er reicht werden, sonst hat die EU als Verein von Rosinenpickern keine Zukunft.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Wenn wir schon auf die Kontrolle unserer Staatsgrenze ver zichten, brauchen wir zumindest eine funktionierende Kont rolle der EU-Außengrenzen. Dazu gibt es in dem Papier der EU deutliche Aussagen. Die Außengrenze ist nach wie vor der neuralgische Punkt, mit dem die Stabilität der Asyl- und Mi grationspolitik als Ganzes steht und fällt. Gesicherte Außen grenzen ermöglichen die Aufhebung der Kontrollen an unse ren Binnengrenzen im Schengen-Raum und garantieren den freien Personenverkehr.

(Glocke der Präsidentin)

Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Ich komme zum Schluss. – Des halb müssen wir bei der Verwaltung unserer Außengrenzen enger zusammenarbeiten. Das bedeutet eine Stärkung der Agentur Frontex und ihres Mandats sowie die Verwirklichung eines voll funktionsfähigen europäischen Grenz- und Küsten schutzsystems, damit die Außengrenzen der EU besser ge schützt sind und die EU in Krisenzeiten ihre Ressourcen bes ser einsetzen kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Friedrich das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Gestatten Sie mir die Anmerkung: Ich finde es sehr gut, dass der Landtag in al ler Verantwortungsbereitschaft das Thema Flüchtlinge auch in der europäischen und internationalen Dimension diskutiert. Denn uns allen ist wohl bewusst, dass keine lokale, regiona le oder national alleinstehende Maßnahme ernsthaft den Zu strom verringern kann. Vielmehr kann das nur in Gemeinsam keit gelingen.

Wir erleben seit dem Sommer dieses Jahres, dass mit unabge stimmten Maßnahmen von Mitgliedsstaaten wie dem Bau von Grenzzäunen, aber auch dem Durchleiten ohne Registrierung und Betreuung – also mit nationalen Alleingängen – die Hand lungsfähigkeit der europäischen Staatengemeinschaft an ihre Grenzen stößt. Es ist offensichtlich, dass man die Herausfor derungen und die Probleme, die es mit dem Zustrom der vie len Flüchtlinge gibt, nicht auf Kosten des jeweiligen Nach barn lösen kann. Das funktioniert in Europa nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU, der Grünen und der SPD sowie des Abg. Niko Reith FDP/DVP)

Deswegen ist der Ruf nach Solidarität richtig; aber wir müs sen uns in Deutschland auch an die eigene Nase fassen. Wir haben über viele Jahre das Problem bei den Außenstaaten der Europäischen Union abgeladen und es über viele Jahre igno riert, als der Ruf nach Solidarität aus Griechenland oder Ita lien oder anderen europäischen Ländern – übrigens auch Un garn – kam.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Türkei!)

Deswegen: Wenn wir nach Solidarität rufen, müssen wir uns immer bewusst sein, dass wir diese Rufe viele Jahre überhört haben. Das ändert jedoch nichts daran, dass es richtig ist, dass wir jetzt gemeinsam zu solidarischen Lösungen beitragen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Meine Damen und Herren, das ist auch insofern eine bemer kenswerte Situation, als es eigentlich nichts Nationaleres gibt als die Frage von Staatsbürgerschaft und Asylrecht. Es gibt keinen Bereich, in dem die Europäische Kommission so we nig mandatiert ist, um Lösungen zu ermöglichen, wie diesen. Umso bemerkenswerter ist, dass versucht wird und dass es erste Schritte – noch zarte Pflänzchen – gibt, tatsächlich eu ropäische Lösungen für eine europäische Herausforderung zu schaffen.

Aber auch das gehört zur Wahrheit: Bis in den Sommer ist die Bundesregierung, der Bundesinnenminister, mit der Maßga be nach Brüssel in die Räte gefahren, in diesem Themenbe reich möglichst wenig Kompetenzen an die Europäische Uni on abzugeben.