Protokoll der Sitzung vom 18.02.2016

Zweitens: Der große wichtige Komplex „Beziehungen des NSU nach Baden-Württemberg“ konnte in der verbliebenen Zeit mit Ausnahme kleinerer Teilkomplexe nicht mehr begon nen werden.

Wir haben eine interne Sammlung möglicher Ansatzpunkte aus der bisherigen Ausschussarbeit, die dafür von Bedeutung sein könnten: über 100 Personen, 25 Bands, über 20 Organi sationen, sechs Firmen, ebenso viele Rockergruppierungen, sieben Szenetreffs und neun herausgehobene rechtsextreme Veranstaltungen.

Damit zusammen hängt auch die Frage nach weiteren An schlagszielen und Aufenthalten von NSU-Mitgliedern in Ba den-Württemberg. Ebenso sollten wir damit die Frage verbin den: Wie überhaupt erfolgte die Rekrutierung und Radikali sierung gerade bei den Personen im Umfeld des NSU mit Be zügen nach Baden-Württemberg? Waren die vorhandenen Strukturen der Präventionsarbeit nicht effektiv genug?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vieles erinnert uns heute an die rechte Gewalt der Neunzigerjahre. Genau zu diesem Zeit punkt haben sich Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe im Hass gegen Flüchtlinge radikalisiert, und an schließend sind sie in den Untergrund gegangen. Heute erle ben wir eine gewaltige Zunahme rechtsextremer Straftaten. 2015 ist die Zahl dieser Straftaten um 30 % auf 13 850 gestie gen. Darunter gab es 921 rechtsextreme Gewalttaten mit fast 700 Verletzten. Dies war eine Verdopplung. Das heißt, wenn Sie das umrechnen, ereignen sich bei uns täglich 37 rechtsex treme Straftaten, davon drei bis vier rechtsextrem motivierte Gewalttaten, meist mit fremdenfeindlichen Motiven. Verge genwärtigen Sie sich das alle einmal. Ich hätte mir fast 70 Jah re nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs nicht vorstellen können, dass so etwas in der Bundesrepublik Deutschland möglich ist.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das BKA und der Verfassungsschutz gehen mittlerweile so gar von einer wachsenden Gefahr durch einen neuen rechts extremen Terrorismus aus. Eine kleine, aber wachsende ge sellschaftliche Minderheit radikalisiert sich. Das Bundeskri minalamt fürchtet eine weitere Zunahme rechtsextremer Ver brechen. Die Hemmschwelle für Gewalt und schwere Straf taten sinkt. Das bedroht unsere Gesellschaft insgesamt.

Einer unserer Sachverständigen hat dem Land Baden-Würt temberg dringend empfohlen, ein Programm gegen Rechtsex tremismus aufzulegen, in dem wir nicht nur Projekte unter stützen, sondern in die Regelstrukturen von Bildung und Er ziehung hineinkommen. Dies wird viel Geld kosten, und des halb sollten wir im neuen Landtag dringend über ein solches Programm in Baden-Württemberg reden.

Gegen Verunsicherung, gegen Angst, aber auch gegen Ver schwörungstheorien müssen wir weiter die besonnene, gründ liche und überparteiliche Aufklärung setzen. Dies gilt gerade

für die Bereiche des NSU-Komplexes, die in unserem Land noch nicht vollständig ausgeleuchtet sind. Wir müssen wei terhin gemeinsam das schärfste Schwert des Parlaments da für einsetzen, Licht ins Dunkel zu bringen. Das sind wir den Opfern und ihren Angehörigen, aber auch allen, die bei uns neu ihre Heimat gefunden haben, schuldig.

Aus diesem Grund werde ich zusammen mit dem Ausschuss büro den Fraktionen bis Ende Februar den Entwurf eines Ein setzungsbeschlusses für einen neuen Untersuchungsausschuss im neu gewählten Landtag zukommen lassen. Damit soll ein klares Zeichen gesetzt werden: Die notwendige Aufklärungs arbeit geht ohne Zeitverlust weiter. Die personellen und orga nisatorischen Voraussetzungen haben wir dafür bereits in al len Fraktionen und in der Verwaltung geschaffen. Die Akten sind hier, das jetzt angesammelte Fachwissen ist hier. Lassen Sie uns also weiter so zusammenarbeiten, für die Aufklärung und für die Menschen in unserem Land.

Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Meine Damen und Her ren, bevor ich dem Redner von der CDU-Fraktion das Wort erteile, begrüße ich die Badische Weinkönigin Isabella Vetter, die sich hier im Zuhörerraum befindet,

(Beifall bei allen Fraktionen)

sowie die Badische Weinprinzessin Annette Herbstritt. Herz lich willkommen bei uns im Landtag!

(Beifall bei allen Fraktionen – Abg. Friedlinde Gurr- Hirsch CDU: Und nun der Vertreter der CDU!)

Für die CDU-Fraktion erteile ich jetzt Herrn Abg. Pröfrock das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Die Verbrechen des sogenannten Na tionalsozialistischen Untergrunds haben uns alle erschüttert. In Gedanken sind wir heute bei den Opfern und ihren Ange hörigen. Über mehr als ein Jahrzehnt konnten drei Rechtster roristen unerkannt und unentdeckt im Untergrund leben und von dort eine ungeheuerliche Verbrechensserie verüben mit insgesamt neun Morden an Menschen mit Migrationshinter grund, dem Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter und dem Mordversuch am Polizeibeamten Martin A., der den Anschlag nur mit großem Glück überlebt hat; dazu kamen mindestens zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle.

Dass diese Verbrechensserie viele Jahre nicht als rechtsterro ristisch erkannt wurde, dass drei Rechtsterroristen über so lan ge Zeit hinweg unbehelligt im Untergrund leben konnten, da zu haarsträubende Fehler bei der Suche nach dem Trio in Sachsen und Thüringen, fragwürdiges Verhalten von Verfas sungsschützern und V-Leuten und nicht zuletzt allerlei Ver schwörungstheorien haben dazu geführt, dass Vertrauen in un sere Sicherheitsbehörden erschüttert wurde. Diese Verbre chensserie war nicht nur gegen die einzelnen Opfer gerichtet. Es handelt sich vielmehr um einen Anschlag auf unsere De mokratie und auf unseren Rechtsstaat. Dies muss uns alle be stürzen und alarmieren, gerade in der aktuellen politischen Si tuation.

In diesem Untersuchungsausschuss sind wir daher die uns ge stellte Aufgabe mit großer und ungekannter Einigkeit ange gangen. Das ist einmalig in der Geschichte der Untersu chungsausschüsse in Baden-Württemberg, und es ist ein deut liches Zeichen dieses Hauses: Demokraten stehen zusammen, wenn es darauf ankommt.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Im Ausschuss wurde zwar immer wieder kontrovers disku tiert, aber immer sachbezogen. Das ist alles andere als selbst verständlich, insbesondere wenn man sich die Vorgeschichte des Ausschusses noch einmal betrachtet. Aber ich möchte die Gutachtenaffäre nicht noch einmal aufwärmen, durch die die Grünen die Enquetekommission zum Scheitern brachten.

Was wir in den vergangenen 15 Monaten geschafft haben, ist allein vom Umfang schon beachtlich; der Vorsitzende hat da rauf hingewiesen. Hierfür möchte ich den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss aus allen Fraktionen Dank sagen. Mein besonderer Dank gilt dem Ausschussvorsitzenden, der mit großem persönlichen Einsatz und auch fast immer mit der gebotenen Gelassenheit

(Vereinzelt Heiterkeit)

die Sitzungen geleitet hat.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen und des Ausschusssekretariats möchte ich an dieser Stelle mei nen Dank aussprechen. Sie haben in den letzten Wochen und Monaten bis an die Grenze der Belastbarkeit und darüber hi naus gearbeitet. Dafür herzlichen Dank!

(Beifall bei allen Fraktionen)

Ob sich dieser Untersuchungsausschuss nun gelohnt hat, das hängt ein Stück weit auch von der Erwartungshaltung ab. Wer mit der Erwartungshaltung frei nach dem Motto „Jetzt klärt der Untersuchungsausschuss endlich den Mord an Michèle Kiesewetter auf“ heranging, ist möglicherweise heute ent täuscht. Wer aber mit der realistischen Erwartungshaltung an diese Aufgabe heranging, genau zu überprüfen, ob und, wenn ja, wo baden-württembergische Behörden Fehler gemacht ha ben, der muss feststellen, dass wir eine sehr gute Arbeit ge leistet haben und ein wirklich vorzeigbares Ergebnis haben. Der Ausschuss hat deutlich mehr geschafft, als ihm manche vorher zugetraut haben.

Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Arbeit der 15 Monate in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Lassen Sie mich daher einige wichtige Aspekte herausgreifen.

Wir haben uns intensiv mit dem Todesfall von Florian H. be schäftigt, der sich im September 2013 auf dem Cannstatter Wasen in seinem Fahrzeug verbrannt hat. Florian H. hatte schon vor dem Auffliegen des NSU behauptet, er wisse, wer Michèle Kiesewetter ermordet habe. Wir mussten leider er hebliche Unzulänglichkeiten in den polizeilichen Ermittlun gen aufdecken. Im Ergebnis deutet jedoch nichts darauf hin, dass bei seinem Tod Fremdverschulden im Spiel gewesen sein könnte, und erst recht nicht, dass dieser Todesfall irgendetwas

mit Michèle Kiesewetter und dem Mord auf der Theresien wiese zu tun haben könnte.

Dass die in diesem Fall unzureichende Ermittlungsarbeit aber nicht typisch für die Polizei in Baden-Württemberg ist, haben wir – das sei der Vollständigkeit halber auch erwähnt – am Fall Arthur C. gesehen, der im Jahr 2009 ebenfalls unter un geklärten Umständen in seinem Fahrzeug verbrannte. Die Ar beit der Polizei in diesem Fall war geradezu vorbildlich – das war übrigens vor der Polizeireform.

(Heiterkeit der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit war die Aufarbei tung der Mitgliedschaft von zwei baden-württembergischen Polizisten im Ku-Klux-Klan. Der Ausschuss musste leider feststellen, dass die disziplinarische Aufarbeitung dieser Vor gänge viel zu lange gedauert hat und zu völlig unbefriedigen den Ergebnissen geführt hat.

Um den Mordanschlag auf der Theresienwiese auf die Poli zeibeamtin Michèle Kiesewetter und ihren Streifenkollegen Martin A. ranken sich sehr viele Spekulationen, Mutmaßun gen und Verschwörungstheorien. Dadurch hat sich bei vielen das Gefühl eingeschlichen: Da muss in den Ermittlungen un heimlich viel schiefgelaufen sein. Tatsächlich haben wir auch einige Ermittlungsfehler festgestellt. Ich will nur die unterlas sene Auswertung des E-Mail-Kontos oder die Wattestäbchen spur erwähnen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Soko „Parkplatz“ hat insgesamt über 5 000 Spuren abgearbeitet. Wenn man sich die Relation der Fehler zu den bearbeiteten Spuren anschaut, haben nach meiner Meinung unsere Justiz- und Sicherheitsbehörden in diesem Fall insgesamt gute Arbeit geleistet.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Nikolaos Sakel lariou SPD)

Keine einzige der 5 000 Spuren hat zu den tatsächlichen Tä tern, nämlich dem NSU-Trio, geführt. Es ist eine bittere Er kenntnis, ja. Aber ich fürchte, wenn die NSU-Terroristen nicht im November 2011 letztlich zufällig aufgeflogen wären, wä re der Mordanschlag auf der Theresienwiese vermutlich bis heute nicht aufgeklärt.

Im Ergebnis hatten wir im Ausschuss nicht den geringsten Zweifel daran, dass die NSU-Terroristen tatsächlich die Täter waren. Was wir nicht abschließend klären konnten, war, ob es weitere Unterstützer aus Baden-Württemberg gab.

Eine Erkenntnis unserer Ausschussarbeit möchte ich beson ders hervorheben: Sie wissen, dass Michèle Kiesewetter eben so wie die Terroristen aus Thüringen stammt. Immer wieder wird spekuliert und unterstellt, Michèle Kiesewetter müsse selbst Bezüge zur rechtsextremistischen Szene gehabt haben. In gleicher Weise hat man den Opfern der Ceska-Mordserie, die alle einen Migrationshintergrund hatten, über Jahre unter stellt, sie müssten Bezüge zur organisierten Kriminalität ha ben. Keines der Opfer des NSU kann sich gegen solche Vor würfe mehr wehren, und die Familien der Opfer werden durch solche Unterstellungen noch einmal zum Opfer gemacht.

Für mich ist es daher ganz wichtig, dass wir bei der intensi ven Befassung mit dem Fall Kiesewetter keinen einzigen be lastbaren Hinweis gefunden haben, dass sie tatsächlich irgend

welche Bezüge zur rechtsextremistischen Szene gehabt haben könnte. Ich bin mir sicher, das ist auch für die Familie von Frau Kiesewetter ein wichtiges Zeichen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Zwei Punkte möchte ich noch kurz ansprechen, die uns gleich zu Beginn der Arbeit beschäftigt haben. Das eine ist der Vor wurf der unzureichenden Aktenzulieferung durch die Landes regierung an den Untersuchungsausschuss des Bundestags. Dieser Vorwurf, Herr Innenminister, hat sich leider zum Teil bestätigt. Auch in unserem Ausschuss hat sich gezeigt, dass das LfV eine ganz eigene Auslegung unserer Beweisbeschlüs se vorgenommen und uns Akten zunächst nicht vollständig vorgelegt hat. Wir mussten daher sogar einen eigenen Sach verständigen ins LfV schicken, der sich vor Ort alle Akten an geschaut hat. Im Ergebnis – das gehört zur ganzen Wahrheit dann auch dazu – hat der Bundestagsuntersuchungsausschuss und haben auch wir am Ende des Tages alle Akten vollstän dig erhalten.

Der andere Punkt ist der Vorwurf, in deutschen und badenwürttembergischen Sicherheitsbehörden gebe es einen struk turellen oder gar institutionellen Rassismus. Vermeintlicher Kronzeuge in der öffentlichen Diskussion ist ein Zitat aus den Ermittlungsakten. Dieses lautet – ich zitiere –:

Die Psychologen betonten, dass es sich bei S. um einen typischen Vertreter seiner Ethnie handele, das heißt, die Lüge ein wesentlicher Bestandteil seiner Sozialisation darstelle.

Wenn man das liest, kann man schon den Eindruck rassistisch geprägter Voreingenommenheit haben. Tatsächlich handelt es sich hierbei aber um die Meinung eines serbischen Psycholo gen, der zu einer Vernehmung eines Verdächtigen in Serbien hinzugezogen wurde. Aus der Akte ergibt sich auch eindeu tig, dass es sich gerade nicht um die Meinung der baden-würt tembergischen Ermittler handelte.

Hier wird entweder aus Böswilligkeit oder aus Unkenntnis oder deswegen, weil einfach einer beim anderen abschreibt, ein Verdacht in den Raum gestellt, der bei genauerer Überprü fung haltlos ist.

Für die CDU-Fraktion ist daher wichtig, festzustellen, dass sich in den gesamten Ermittlungsakten an keiner Stelle Hin weise auf einen strukturellen Rassismus gefunden haben. Aus meiner ganz persönlichen Sicht handelt es sich bei diesem Vorwurf vielmehr um den Ausdruck eines tief sitzenden Miss trauens gegenüber der Polizei aus bestimmten Kreisen.

Ich will an dieser Stelle auch noch einmal an die Verantwor tung der Medien appellieren, nicht jedem Gerücht, nicht je der Theorie ungeprüft hinterherzulaufen und ihre Berichter stattung regelmäßig kritisch zu hinterfragen.

Diese Frage ist auch in diesen Tagen wieder aktuell gewor den, als wir von einem weiteren bedauerlichen Todesfall er fahren mussten. Offenbar hat sich der Verlobte der Zeugin aus dem Komplex Florian H. vor wenigen Tagen das Leben ge nommen. Das Tragische an dieser Geschichte ist, dass die Zeugin selbst wenige Wochen nach ihrer Vernehmung vor un serem Ausschuss durch eine Lungenembolie ums Leben kam.