Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ar beit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren zu der Mitteilung der Landesregierung vom 25. Oktober 2011
Landtags; hier: Petitionen 14/1398, 14/3130, 14/4053 betr. Heimerziehung/-unterbringung in den Jahren zwi schen 1949 und 1975
richtung, Finanzierung und Verwaltung des Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland“ und Durchführung eines Projekts „Archivrecherchen und historische Aufarbeitung der Heimerziehung zwi schen 1949 und 1975 in Baden-Württemberg“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Präsidium hat für die Aussprache eine Redezeit von fünf Minuten je Fraktion fest gelegt.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es gibt in der Politik auch The men, die es aus Respekt vor den Betroffenen gebieten, dass die Politik nicht die parteipolitische Auseinandersetzung sucht, sondern um einen breiten Konsens bemüht sein sollte.
Meine Damen und Herren, 700 000 bis 800 000 Kinder und Jugendliche lebten zwischen 1949 und 1975 in der Bundesre publik in Heimen. Leider haben einige von ihnen, wie man heute weiß, körperliche, seelische und teils auch sexuelle Ge walt erfahren. Jugendliche mussten teils hart arbeiten. Lohn- und Rentenzahlungen wurden ihnen vorenthalten. Eine große Anzahl Betroffener leidet noch immer unter den Folgen. Auch die Dunkelziffer ist nach wie vor hoch.
Bei aller Schärfe, mit der wir als politisch Verantwortliche die se Ereignisse verurteilen, muss man aber auch bei der Aufar beitung darauf achten, dass die Heimträger und die dort arbei tenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht grundsätzlich verurteilt werden; denn sie leisten schon über Jahrzehnte ei ne wertvolle Arbeit.
Bereits im Frühjahr dieses Jahres haben nach den Kirchen und dem Bund auch wir im Land Baden-Württemberg in einem parteiübergreifenden Konsens die politische Verantwortung für das ehemaligen Heimkindern teils widerfahrene Unrecht übernommen. Die Mittel aus dem eingerichteten Fonds sol len als Ausgleich für Folgeschäden, als Ausgleichszahlungen für nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge, zur Unter stützung der Betroffenen bei der Aufarbeitung der Zeit der Heimunterbringung sowie für die umfassende wissenschaft liche Aufarbeitung der Geschehnisse eingesetzt und verwen det werden.
Dass allerdings die Kosten für die ab 1. Januar 2012 einzu richtenden regionalen Anlauf- und Beratungsstellen von bis
zu 12 Millionen € über den Heimkinderfonds abgerechnet werden sollen, sehen wir nach wie vor kritisch. Wir legen nach wie vor größten Wert darauf, dass hierdurch die unmittelbar für die Betroffenen bereitstehenden Mittel nicht gemindert werden dürfen.
Heimkindervertreter am runden Tisch kritisierten in diesem Zusammenhang auch, dass die Länder von den Beschlüssen abwichen und damit das aufgebaute Vertrauen wieder verlo ren zu gehen drohe. Frau Djurovic beispielsweise, die selbst als Opfer der Heimerziehung am runden Tisch „Heimerzie hung“ sitzt, mahnt zu Recht das noch immer fehlende Gespür für das große Unrecht an. Ich denke, deshalb sollten wir von politischer Seite unseren Teil dazu beitragen, dass dieser Ein druck nicht weiter besteht.
Betroffene selbst halten es für ein vollkommen falsches Sig nal, wenn Geldgeber für den Aufbau der Beratungsstrukturen nun als Erste in die Fondskasse greifen.
Bundesweit sind 100 Millionen € für individuelle Hilfen vor gesehen, 20 Millionen € für Rentennachzahlungen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind uns vermut lich absolut darin einig, dass bei diesem hochsensiblen The ma äußerst respektvoll, klug, umsichtig und einfühlsam vor gegangen werden muss, um überhaupt die Menschen zu er muntern, die Beratungsstellen aufzusuchen. Viele Menschen, die ohnehin schon traumatisiert sind und mit ihrem Trauma möglicherweise ihr ganzes Leben lang zu kämpfen haben, brauchen großen Mut, um aus der Anonymität herauszutreten, sich zu öffnen und das Unrecht anzuzeigen.
Deshalb, Frau Ministerin, ist es Aufgabe der Regierung, si cherzustellen, dass genügend Mittel im Fonds zur Verfügung stehen. Daher muss das Land frühzeitig Verhandlungen mit allen Beteiligten aufnehmen und eine Erhöhung der Ausstat tung des Fonds anstreben, sofern dies notwendig erscheint.
Was wir noch gar nicht wissen, ist – ich habe es eingangs ge sagt –, wie viele ehemalige Heimkinder überhaupt ein Anrecht auf eine Zahlung haben bzw. wie hoch die Dunkelziffer ist.
Da es aber auch uns, der CDU-Fraktion, um eine schnellst mögliche Umsetzung zum 1. Januar 2012 geht, haben wir im Sozialausschuss, nachdem Sie von den Regierungsfraktionen dort unseren weiter gehenden Antrag mehrheitlich abgelehnt haben, Ihrem Antrag auf eine Begrenzung der Kosten für die Anlauf- und Beratungsstellen und die weiter gehende Betreu ung auf maximal 5 % der Mittel zugestimmt. Das wollen wir auch heute so tun.
Herr Präsident, sehr geehr te Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der runde Tisch zur Aufarbeitung der Geschichte der Heimerzie hung hat unermessliches Leid ans Licht gebracht, Leid, das über Jahrzehnte hinweg vielen Tausend Kindern zugefügt wur de, nicht zuletzt auch in Baden-Württemberg.
Zu den Schlussfolgerungen des runden Tisches gehören eine Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei De likten an Kindern, ein Augenmerk auf Prävention und eine be grenzte Entschädigung für die Betroffenen, nicht zuletzt – der Kollege hat es erwähnt – bei den Rentenanwartschaften. Da für stellen Bund, Länder und Kirchen je 40 Millionen € für ei nen Entschädigungsfonds bereit. Manche Opfer hätten an die ser Stelle mehr erwartet. Das ist verständlich. Das ist aber der Kompromiss, der auf Bundesebene erreichbar war.
Wesentlich ist aus unserer Sicht das Recht der Opfer auf ihre eigene Geschichte. Das ihnen zugefügte Unrecht sowie das Recht auf Akteneinsicht, auf Beratung und auf Vermittlung von therapeutischen Hilfen werden anerkannt. Zur Umsetzung im Land hat der Landtag im Februar einen Beschluss gefasst.
Die neue Landesregierung hat dazu zügig intensive Gesprä che auch mit Opfervertretern aufgenommen. Dabei ist ein Pro blem aufgetaucht; darüber haben wir in den vorangegangenen Debatten bereits diskutiert. Anlauf- und Beratungsstellen, wie sie der runde Tisch vorsieht, sind einerseits mit Mitarbeitern des Kommunalverbands für Jugend und Soziales (KVJS) fach lich gut aufgestellt und sehr schnell umsetzbar. Andererseits war der Rechtsvorgänger des KVJS, das Landesjugendamt, als Heimträger auch ein Mittäter. Deshalb gibt es gegenüber dem KVJS – auch wenn dies mit den heute handelnden Per sonen nichts zu tun hat – als Beratungsträger große Vorbehal te seitens der Betroffenen.
Wir haben das verstanden und intensiv um eine Lösung ge rungen, die von den Betroffenen akzeptiert werden kann. Die Lösung sieht so aus, dass in den Anlauf- und Beratungsstel len auf Landesebene zwar Mitarbeiter des KVJS mitarbeiten, aber nicht in den Räumen des KVJS, sondern an einem unab hängigen Ort tätig sind.
Die unabhängige Arbeit überwachen und begleiten wird ein eigens für die Beratungsstellen eingerichteter Beirat. Seine Zusammensetzung soll im Rahmen eines weiteren runden Ti sches im Land besprochen werden. Wir gehen davon aus, dass dann alle Akteure – Betroffene und auch Kirchen und Politik – im Beirat vertreten sein werden.
Der oder die Vorsitzende des Beirats soll eine Persönlichkeit sein, die auch bei den Opferverbänden Vertrauen genießt. Die se Persönlichkeit soll zudem die Funktion einer Ombudsfrau bzw. eines Ombudsmanns übernehmen. Sie soll die Arbeit eng begleiten und sowohl gegenüber dem Ministerium als auch gegenüber dem KVJS unabhängig agieren können – im Sin ne eines Beschwerdemanagements, einer Aufsichtsfunktion und ganz klar anwaltschaftlich für die Betroffenen.
Die Beratungsstellen sind z. B. für die Annahme von Entschä digungsanträgen und für Beratung in diesem Zusammenhang, für die Begleitung bei Akteneinsicht und die Vermittlung von therapeutischen Hilfen zuständig.
Wir erwarten, dass der KVJS alsbald eine detaillierte und kon sensfähige Konzeption für die Anlauf- und Beratungsstellen vorlegt. Klar ist für uns auch: Falls die personellen Kapazitä ten nicht ausreichen, werden die Beratungsstellen aufgestockt bzw. administrativ entlastet.
Die Finanzierung der Beratungsstellen aus den Mitteln des Opferfonds wurde kritisiert, weil dadurch die Entschädigungs
mittel geschmälert werden. Der Kollege hat es erwähnt. Auf den ersten Blick ist dies verständlich. Bedenken Sie aber bit te, dass die Opferentschädigung eine Aufgabe ist, deren Wahr nehmung sehr bewusst zwischen Bund, Ländern und Kirchen gedrittelt wurde. Deshalb sollte nicht nur das Land, sondern sollten alle drei Seiten an der Finanzierung der Umsetzung beteiligt werden.
Wir werden sicherstellen, dass die Mittel des Fonds auf jeden Fall ausreichen. Deshalb hat der Sozialausschuss des Land tags auf unseren Antrag hin beschlossen, dass das Land mas siv für eine Aufstockung des Fonds eintritt, falls sich abzeich nen sollte, dass die Mittel nicht ausreichen.
Die andere Begrenzung hat der Kollege auch genannt: Maxi mal 5 % der Mittel sollen für diese Beratungs- und Anlauf stelle verwendet werden.
Eine Situation, in der die Mittel nicht ausreichen, ist theore tisch vorstellbar, weil wir die Zugänge bewusst so niedrig schwellig ansetzen wollen, dass möglichst viele Opfer zu ih rem Recht kommen.
Ich komme zum Schluss. Zu den Aufgaben, die uns der run de Tisch übertragen hat, gehört auch die Prävention. Wir hal ten es für wichtig, dass der schon angesprochene Beirat mit Ombudsfrau bzw. Ombudsmann hierfür Vorschläge erarbei tet, die wir, der Landtag, zielstrebig beraten und umsetzen sollten; denn es geht neben der Bewältigung der Vergangen heit vor allem um eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft – für alle Kinder in Baden-Württemberg.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Die Schilderungen des Abschlussberichts des runden Tisches „Heimerziehung“ sind sehr bedrückend. Allein die Umstände, aufgrund derer früher eine Heimeinweisung vorgenommen wurde, sind aus dem heutigen Blickwinkel kaum nachvollziehbar. Unordnung, Un beherrschtheit, Pflichtvernachlässigung, unsittsame Kleidung oder Gebärden, Aufenthalt an unsittlichen Orten wie Tanzbars konnten bereits zum Aktivwerden des Jugendamts führen. Al leinerziehende Mütter und Mütter unehelicher Kinder standen unter dem Generalverdacht, sittlich und moralisch nicht ge festigt zu sein und damit das Kindeswohl zu gefährden.
Natürlich – das muss auch festgestellt werden – gab es viele gute und engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Heimen, aber es gab leider auch die anderen.
Der Abschlussbericht weist gleich zu Beginn auf zwei Inter pretationsmöglichkeiten hin: auf die einer Rechtsverletzung nach zeitgenössischen Maßstäben und die einer Regelverlet zung nach heutigen Maßstäben.
Zuerst einige Sätze zur ersten Kategorie der Bewertung: Ei nes der größten Probleme war, dass die Jugendlichen mit ih rer Einweisung in die Heime faktisch ihre Rechte verloren ha ben. Sie hatten damit keine Möglichkeit, etwas an der Heim
unterbringung oder den Rahmenbedingungen zu ändern. Das war auch dann nicht möglich, wenn selbst nach damaligen Maßstäben massiv gegen Recht verstoßen wurde. Man muss festhalten, dass dies tausendfach vorkam.
Nun zur zweiten Kategorie der Bewertung, den Regelverlet zungen nach heutigen Maßstäben: Dieser Punkt gibt mir noch mehr zu denken. Ich frage mich, wie hier in Baden-Württem berg in 50 Jahren bewertet wird, wie wir heutzutage mit be stimmten gesellschaftlichen Gruppen umgehen. Niemand von uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat damals Verantwor tung getragen. Aber wir tragen heute Verantwortung, Verant wortung dafür, dass wir feststellen, dass damals in Tausenden von Fällen Unrecht geschehen ist, Verantwortung dafür, dass wir die Betroffenen um Verzeihung bitten, und Verantwortung dafür, dass wir Betroffene entschädigen und ihnen helfen, mit den Schäden, die ihnen damals zugefügt worden sind, besser umzugehen.
Der Landtag von Baden-Württemberg hat bereits zu Beginn dieses Jahres einen Beschluss dazu gefasst. Damals geschah dies allerdings ohne eine öffentliche Debatte.