Er ist durchaus ambitioniert, er ist umfangreich, er ist an schlussfähig, und er kommt auch zum richtigen Zeitpunkt.
Er kommt deswegen zum richtigen Zeitpunkt, weil sich viele Schulen unter der Regierungszeit der CDU schon lange heim lich darauf vorbereit haben und dort schon längst entsprechen de Konzepte vorhanden und erprobt sind.
Das Gesetzgebungsverfahren ist inhaltlich und zeitlich den noch eine sehr, sehr ehrgeizige Angelegenheit gewesen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kultusministerium ha ben einen guten Job gemacht. Dafür möchte ich mich an die ser Stelle ausdrücklich bedanken.
Deutlich weniger euphorisch bin ich dann, wenn ich mir die Debatte der letzten Monate vergegenwärtige, und zwar so wohl vom Inhalt als auch vom Stil her.
Veränderungen sind einfach schwierig. Ich bin es, meine Da men und Herren, zwischenzeitlich leid, nach all den Ver gleichsstudien die soundso vielte Diskussion über das Ran king von Baden-Württemberg zu führen. Baden-Württemberg hat in vielen Bereichen mittlere, gute und durchaus auch sehr gute Kennzahlen,
Aber eines sticht doch ins Auge: Das ist die Grundmotivati on, eine Schule der Vielfalt anzustreben, nämlich die zigfach und immer wieder aufs Neue festgestellte Tatsache, dass es die soziale Herkunft ist, die den Bildungserfolg wesentlich beeinflusst – nicht auch, sondern gerade in Baden-Württem berg. Das verlangt nach einer deutlichen Reaktion.
Es freut mich, dass vom Handwerkskammertag bis hin zu Bundesbildungsministerin Annette Schavan, die ein zweizü
giges Bildungssystem fordert, eine immer größere Anzahl von Persönlichkeiten und gesellschaftlichen Gruppierungen Ver änderungen wollen – aus unterschiedlichen Gründen: aus hu manistischen, aus sozialen, aus gesellschaftspolitischen und durchaus auch aus ökonomischen Gründen.
So steht z. B. auch für Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Ber telsmann Stiftung, fest, dass das gegliederte Schulsystem ge scheitert sei, weil es von der unrealistischen Annahme ausge he, dass die verschiedenen Schulformen ein homogenes Um feld erreichen würden.
Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschafts forschung, spricht davon, dass das dreigliedrige Schulsystem die Dreiklassengesellschaft des 19. Jahrhunderts reflektiere
und wir damit weltweit nahezu allein stünden, dass dieses Sys tem die Ungleichheit vergrößere, ohne den Durchschnitt zu verbessern.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen – Abg. Claus Schmiedel SPD: Recht hat er! – Abg. Karl Zimmermann CDU: Wir brauchen ein 103-glied riges Schulsystem, nicht nur ein dreigliedriges!)
Ich nenne ein anderes Beispiel aus dem Bereich „Ideologie produktion“, wenn Sie so wollen. In der Denkschrift der Evan gelischen Kirche in Deutschland mit dem Titel „Gerechte Teil habe“ aus dem Jahr 2006 liest man – Zitat –:
Das Bildungssystem versagt nicht nur gegenüber den so zial und kulturell schlechter Gestellten – es trägt vielmehr zu ihrer Schlechterstellung bei, indem es Kinder aus den betreffenden Milieus nicht hinreichend individuell fördert und fordert.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen – Zuruf von der SPD: Recht hat er! – Zuruf des Abg. Claus Schmiedel SPD)
Ein letzter Hinweis findet sich in den Worten von Folkert Doe dens, dem Leiter des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Universität Hamburg:
Nicht das Sortieren und Trennen nach Begabungen ist Aufgabe der Schule; vielmehr gilt es, junge Menschen durch eine Vielfalt begabender Lernwege in gemeinsa men Bildungsgängen individuell zu fördern – dies ent spricht nicht nur dem Recht auf umfassende Bildung ei nes jeden Menschen, es ist auch zum Wohle der demokra tischen Kultur und der Belange des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen – Abg. Claus Schmiedel SPD: Sehr guter Mann! – Abg. Karl Zimmermann CDU: Wie viele kirchliche Schulträger haben denn einen Antrag auf Einrichtung einer Gemeinschaftsschule gestellt? Ich kenne gar keine!)
Nein, sie unterstützen unseren Gesetzentwurf. Genau das wollen wir. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU, genau das als ideologisch motiviert bezeichnen, dann
Die Gemeinschaftsschule ist eine Angebotsschule. Sie möch te in besonderer Weise Möglichkeiten für Kinder und Jugend liche bieten, damit sie zum bestmöglichen Bildungserfolg kommen, ohne sie auf unterschiedliche Schultypen zu vertei len, die nachweislich eine soziale Wertigkeit besitzen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe, u. a. Abg. Karl Zimmermann CDU: Die wollen Bürgernä he! Das wird nicht einmal hier praktiziert!)
Die Gemeinschaftsschule ist ei ne Schule der Chancengleichheit bei gleichzeitiger Leistungs orientierung. Sie soll zu allen Abschlüssen führen, indem al le Bildungsstandards integriert werden. Die Lernprozesse wer den anders organisiert. Hochindividualisierte und kooperati ve Lernformen wechseln sich ab. Die Schüler erledigen soge nannte Lernjobs und fügen sie in Kompetenzraster ein, und die Lehrerinnen und Lehrer verstehen sich als Lernbegleiter.
Weil jetzt schon mehrfach davon gesprochen wurde, dass dann Lehrerinnen und Lehrer „nur noch“ Lernbegleiter seien, sage ich Ihnen: Auch Kinder und Jugendliche sind in erster Linie Subjekte ihrer eigenen Lernprozesse. Das Wort „bilden“ gibt es im deutschen Sprachgebrauch nur in intransitiver Form als „sich bilden“. Solche Prozesse zu initiieren und zu begleiten ist das zentrale Element von Reformpädagogik, von humanis tischer Psychologie und demokratischer Kultur.
Die Gemeinschaftsschule ist gerade keine Einheitsschule, son dern eine Schule der Vielfalt. Sie ist nicht leistungsnivellie rend, sondern sie ist leistungsdifferenzierend mit alternativen, individuellen Formen der Leistungsbemessung, wodurch No ten sukzessive an Bedeutung verlieren werden.
Es stimmt, es braucht einiges, damit Gemeinschaftsschulen gelingen können. Es bedarf Lehrerinnen und Lehrer, die am einzelnen Kind orientierte Lernprozesse initiieren und beglei ten und nicht nur Fächer unterrichten. Es bedarf einer Schul verwaltung, die sich nicht als obrigkeitsstaatliche Entschei dungsinstanz, sondern als professionelle Begleitung versteht. Es bedarf einer intensiven Zusammenarbeit mit den Eltern, und es bedarf kommunaler Rückendeckung, damit die not wendigen Rahmenbedingungen für Lernlandschaften und für einen Ganztagsbetrieb geschaffen oder verbessert werden kön nen. Denn nur so entstehen Zeit und Raum für das Lernen von allen Akteuren, und das sind nicht nur die Schülerinnen und Schüler.
Damit, meine Damen und Herren, wird schnell klar: So etwas kann man nicht verordnen. Es muss von unten wachsen. Die politische Aufgabe besteht darin, die notwendigen Rahmen bedingungen herzustellen, ein Unterstützungs- und Begleit system zu etablieren und die lokalen Prozesse in regionale Schulentwicklungsplanungen einzubetten. So wird Gemein schaftsschule in der Diskussion über ihr Konzept zum Aus gangspunkt von Schulentwicklungsprozessen weit über diese spezielle Schulform hinaus, zum Kristallisationspunkt, zum Impulsgeber für eine Entwicklung hin zu individueller Förde rung mit Auswirkungen auf die gesamte Schullandschaft und alle Schularten.
Meine Damen und Herren, ein Zitat des deutschen Reform pädagogen Georg Kerschensteiner – Namensgeber von vie len Schulen, hauptsächlich von beruflichen – lautet:
Ich meine, ja: einen individuellen, einen sozialen, einen öko nomischen und für viele Gemeinden auch einen infrastruktu rellen Mehrwert, mehr individuelle Förderung und größere persönliche Erfolge durch individuelle Lernwege ohne Schul wechsel, mehr lernen voneinander, übereinander und mitein ander – trotz unterschiedlicher Voraussetzungen –, mehr Ge meinschaftsbezug und demokratische Mitwirkung, mehr So zialraumorientierung, Elternmitwirkung und eine Veranke rung der Schule als wichtiger infrastruktureller Bestandteil des Gemeinwesens.
Das ist eine Menge. Die dafür bereitgestellten Ressourcen nennen die einen „viel zu wenig“, und andere bezeichnen sie als „Privilegierung“.