Protokoll der Sitzung vom 20.06.2012

Das Betreuungsgeld ist zumindest in der geplanten Form im wahrsten Sinn des Wortes kein liberales „Kern“-Anliegen. Wir würden in dieser Frage sicherlich anders entscheiden, wenn wir im Bund allein regieren würden.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU, der Grünen und der SPD – Abg. Georg Wacker CDU: So stark sind Sie nicht! – Abg. Jörg Fritz GRÜNE: Lieber nicht!)

Aber wir bleiben vertragstreu. „Pacta sunt servanda“ – Ver träge sind einzuhalten –, lautet ein alter Rechtsgrundsatz,

(Zuruf der Abg. Muhterem Aras GRÜNE)

der auch in einer Regierungskoalition gilt.

Weniger klar erscheint mir dagegen, warum die SPD selbst im Jahr 2009 in der Koalition mit der CDU im Bund das Be treuungsgeld mit beschlossen hat und nun nichts mehr davon wissen will, sondern sich an die Spitze der Betreuungsgeld gegner stellen möchte.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU)

In Ihrer Gegnerschaft verhalten Sie sich jetzt dermaßen fun damental, dass jede konstruktive Auseinandersetzung über die Ausgestaltung des Betreuungsgelds unmöglich wird. Den Vor schlag, es z. B. den Ländern zu überlassen, ob sie das Geld des Bundes als Betreuungsgeld an die Betroffenen auszahlen oder in den Ausbau der Kindertagesbetreuung investieren wol len, brauchen wir hier erst gar nicht einzubringen, weil er spä testens im Bundesrat von Ihrer rot-grünen Mehrheit gekippt würde.

Da ich fürchte, dass wir hier nicht weiterkommen, gehe ich nun zur Situation der frühkindlichen Bildung und Betreuung in Baden-Württemberg über.

Der Ausbaustand in unserem Land ist, gemessen an dem in den übrigen westdeutschen Flächenländern, mit etwas mehr als 20 % durchschnittlich. Für das Erreichen des 34-%-Ziels müssen wir noch erhebliche Anstrengungen unternehmen.

Im Blick behalten sollten wir auch, dass von insgesamt 297 Millionen € Bundesgeld für Baden-Württemberg bislang An träge mit einem Volumen von 269 Millionen € gestellt, aber nur 142 Millionen € ausbezahlt wurden. Hier gilt es aufzupas sen, dass die Kommunen in Baden-Württemberg nicht durch den Rost rutschen, wenn sie spät noch einen Antrag einrei chen.

Zu bedenken ist aber auch, dass der nach Landkreisen sehr unterschiedlich hohe Ausbaustand vor allem auch die örtlich wohl sehr unterschiedlichen Bedarfssituationen widerspiegelt. Während in den Universitätsstädten und den städtischen Zen tren von einem relativ hohen Bedarf an Betreuungsplätzen auszugehen ist, ist er in manchen ländlichen Gebieten entspre chend niedriger.

Unser Appell als Liberale lautet in diesem Zusammenhang auch: Vergesst die Tagesmütter nicht! Für viele junge Eltern stellen die Tagesmütter bzw. die Tageseltern eine Betreuungs form dar, die ein hohes Maß an persönlicher Zuwendung und an Flexibilität in der Betreuung bietet. Vor allem dort, wo zur zeit nicht ausreichend Betreuungsplätze zur Verfügung gestellt werden können, können die Tagesmütter flexibel Kapazitäten aufbauen.

Während die institutionelle Betreuung häufig hohe Investiti onen erforderlich macht, kommt die Kindertagesbetreuung hier mit sehr viel weniger aus. Den Kommunen stehen in aus reichendem Maß Mittel zur Verfügung, sodass sie dringend aufgefordert sind, den vom KVJS empfohlenen Satz in Höhe von 5,50 € pro Stunde zu bezahlen bzw. die Sätze entspre chend anzupassen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU)

Das Ziel sollte sein, dass Kindertagespflege und Kindertages stätte als gleichwertige Alternativen für die Kinderbetreuung anerkannt werden. Für eine echte Wahlfreiheit müssten nach Auffassung der FDP/DVP Betreuungsgutscheine eingeführt werden, die unabhängig von der Betreuungsform eingelöst werden können.

Die Tagesmütter haben in den vergangenen Jahren in vorbild licher Weise eine regelrechte Qualitätsoffensive unternommen und vor allem ein anspruchsvolles Qualifizierungsprogramm für angehende Tagesmütter auf den Weg gebracht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU)

Aus Sicht der FDP/DVP ist das der richtige Weg. Er darf auch bei aller gebotenen Eile beim Ausbau der institutionellen Be treuungsangebote nicht unter den Tisch fallen.

Als Liberaler bin ich aber skeptisch, dass Qualitätsfortschritt in erster Linie durch engmaschige Vorschriften und Standards zu erreichen ist, die sich in der Praxis häufig als Motivations hemmnisse erweisen. Sicher müssen einige Mindestanforde rungen erfüllt sein. Aber hier kann dennoch der Grundsatz gel ten: Weniger ist mehr.

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Das ist die Auf kündigung des Rechtsanspruchs!)

Zu einer ehrlichen Betrachtung der Qualitätsentwicklung ge hört hier aber auch ein Blick auf die Entlohnung der Erziehe rinnen, bei der man die hohen Anforderungen an die Tätigkeit und die sie ausübenden Personen berücksichtigen muss.

Den Kommunen zum Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige zusätzliche Mittel in erheblichem Umfang bereit zustellen, ist zweifellos hilfreich und auch ein notwendiger Schritt gewesen. Ich möchte aber auch noch einmal betonen, dass es auch andere Wege gegeben hätte, die Mittel bereitzu stellen, als dafür gerade diejenige Steuer zu erhöhen, die jun ge Familien beim Erwerb eines Eigenheims zahlen müssen.

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Was macht Schwarz-Gelb in Berlin?)

Denn dies ist für viele ohnehin mit sehr hohen Belastungen verbunden. Deshalb hat die FDP/DVP die Erhöhung der Grunderwerbsteuer abgelehnt.

Sorgen bereitet der FDP/DVP eine einseitige Schwerpunkt setzung der grün-roten Landesregierung. Während für den Krippenausbau im U-3-Bereich verhältnismäßig viel inves tiert wird – das sind die schon angesprochenen 315 Millio nen € aus dem Erlös der Grunderwerbsteuererhöhung –, fal len der Ü-3-Bereich und die hierzu von der christlich-libera len Vorgängerregierung auf den Weg gebrachten Qualitätsver besserungen auf der Liste der Prioritäten fast vollständig hin ten herunter, und das trotz der vollmundigen Versprechungen von Grün-Rot im Wahlkampf und im Koalitionsvertrag, hier keine Kosten und Mühen zu scheuen.

Um die einst von allen Seiten so prachtvoll erhobene Forde rung nach einer Verbindlichmachung des Orientierungsplans ist es still geworden. Die Zuschüsse für die Sprachförderung wurden zwar aufgestockt, zu zwei Dritteln allerdings aus Um widmungen aus bestehenden Programmen.

Die Programme „Schulreifes Kind“ und „Singen – Bewegen – Sprechen“ wurden in die Sprachförderung überführt und werden darüber gefördert. Dort gibt es eine Wahlpflicht. Das heißt, die Anbieter müssen sich entscheiden, ob sie SBS oder die Sprachförderung durchführen wollen. Dabei ist SBS auf musikalische Förderung in der Breite angelegt,

(Abg. Andrea Lindlohr GRÜNE: Das Programm hat ja kaum jemand bekommen!)

und die Sprachförderung zielt auf bestimmte festgestellte De fizite ab. Bei dieser Ausgangslage dürfte SBS zukünftig mög licherweise nur noch ein Exotendasein führen.

(Abg. Andrea Lindlohr GRÜNE: Das war in der Brei te gar nicht da!)

Zugleich ist auch die Sprachförderung weit von einer best möglichen Aufstellung entfernt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Für die Landesregie rung erteile ich Herrn Staatssekretär Dr. Mentrup das Wort.

Sehr geehrter Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich erst einmal herzlich für die Möglichkeit bedanken, dass wir hier noch einmal in die Diskussion über dieses Thema einsteigen. Denn neben dem Thema Betreuungsgeld geht es auch um den weiteren Ausbau im U-3-Bereich. Da hat sich in diesen Mo naten auch in Baden-Württemberg die Situation verändert. Daher gibt diese Debatte die Gelegenheit, hier noch einmal die neue Situation zu erläutern und auch Klarstellungen vor zunehmen.

Die Thematik beruht auf einer besonderen Konstruktion, auf einem politischen Kompromiss, der damals, im Jahr 2008, nur in dieser Zusammenstellung möglich war. Da haben alle Sei ten zu- und abgeben müssen. Es lohnt sich aber, nun einmal zu schauen, welche neuen Ergebnisse und Erkenntnisse es seit 2008 beim Thema Kinderbetreuung und beim Thema Betreu ungsgeld gegeben hat, und sich hier einmal der Gesamtthe matik zu widmen.

Das erste fachliche Ergebnis ist aus unserer Sicht – ich wür de Sie bitten, dass wir das vielleicht zur Grundlage der Dis kussion machen –, dass wir diese unheilvolle Entweder-oderDiskussion über familiäre Förderung bzw. außerfamiliäre För derung aufgeben sollten in Anbetracht der zunehmenden Er gebnisse, dass eine außerhäusliche, eine außerfamiliäre För derung für alle Kinder ein Gewinn ist, egal, ob die Familie selbst in der Lage ist, Bildungsinhalte zu vermitteln, oder nicht.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Zu den aktuellen Ergebnissen, die zu dieser These führen, möchte ich Wolfgang Tietze zitieren, einen bekannten Erzie hungswissenschaftler, der aus einem Zwischenbericht der ers ten nationalen Untersuchung zu Bildung, Betreuung und Er ziehung in der frühen Kindheit im „Deutschlandradio“ berich tet, dass man bei einer Vergleichsstudie, die jetzt aktuell vor gelegt werden soll, festgestellt hat: Ob Kinder in einer Betreu ung außerfamiliär sind oder nicht, macht bei zweijährigen Kindern im Sprachstand keinen Unterschied; aber schon bei den Vierjährigen wird deutlich, dass diejenigen, die außer häuslich mit betreut sind, eine deutlich bessere Sprachkom petenz und eine höhere Sozialkompetenz haben, und zwar erst einmal völlig unabhängig vom Hintergrund des Elternhauses.

Wenn Sie die dpa-Meldung nehmen, die heute über den Ti cker ging, die etwas mit dem Bildungsbericht von Bund und Ländern zu tun hat, der am Freitag vorgestellt wird, dann kön nen Sie in dieser dpa-Meldung lesen, dass Kinder, die vor ih rer Einschulung mindestens drei Jahre lang eine Kita besucht haben, in der vierten Grundschulklasse beim Lesen und beim Textverständnis in der Regel über einen Lernvorsprung von gut einem Schuljahr verfügen. Auffällig sei, dass sich solche erheblichen Lernvorsprünge vor allem bei Kindern aus prob lematischen Elternhäusern oder aus Familien mit Migrations hintergrund fänden.

Hier steht auch, dass wesentliche Profiteure vom Kita-Besuch vor allem auch die Kinder aus Familien mit höherem Bil dungsniveau sind, weil diese noch zusätzlich etwas lernen. Aber umso wichtiger ist dieses Bildungsangebot für die an deren Kinder, die zu Hause nicht diese Unterstützung bekom men; denn da geht es nicht um einen additiven Effekt, son

dern um einen substituierenden Effekt. Wenn wir diesen nicht mehr haben, dann haben diese Kinder erst recht den Anschluss an das Lernniveau und an die Entwicklungsmöglichkeiten, die dann beim Beginn der Schulzeit nötig sind, verpasst.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Jetzt gibt es eine hoch aufgepeitschte Diskussion über das Be treuungsgeld und dessen Auswirkungen. Aber auch da sind einige Ergebnisse ziemlich klar. Es gibt eine OECD-Studie „Jobs for Immigrants“, die die Situation in Norwegen unter sucht hat. Sie ist am 11. Juni 2012 vorgestellt worden. In ihr ist festgestellt worden, dass die Quote der Zuwanderinnen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, nach Einführung des Betreuungsgelds um 15 % gesunken ist. Daher gibt es hier ei nen unmittelbaren Zusammenhang: In dem Moment, in dem es Betreuungsgeld gibt, sinkt die Bereitschaft, in diesem Fall vor allem der Frauen aus Zuwandererfamilien, sich dem Ar beitsmarkt zur Verfügung zu stellen.

Eine zweite Studie – eine Studie, die von der Friedrich-EbertStiftung in Auftrag gegeben wurde – vergleicht die Erfahrun gen in Finnland, Norwegen und Schweden. Diese Studie ist vom April 2012. Auch da ergibt sich ein deutlicher Zusam menhang zwischen dem Betreuungsgeld und der Beschäfti gungsquote von Müttern, und es gibt einen deutlichen nega tiven Zusammenhang zwischen dem Betreuungsgeld und der Nachfrage nach öffentlicher Kinderbetreuung, und auch da wieder, vor allem in Finnland, von Eltern mit Migrationshin tergrund.

Dann gibt es eine ganz spannende Studie vom Forschungsin stitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn, eine IZA-Studie, die die Situation in Thüringen untersucht hat, wo man 2006 ein Be treuungsgeld eingeführt hat, das in der Höhe etwa dem ent spricht, was jetzt bundesweit diskutiert wird. Diese Studie heißt: „Taxing Childcare: Effects on Family Labor Supply and Children“. Dort wird Folgendes festgestellt: Geringqualifi zierte haben ein deutlich größeres Problem, wieder in den Ar beitsmarkt zurückzukehren, je länger ihr Ausstieg ist. Diese Probleme nehmen zu, wenn man aufgrund des Betreuungs gelds diesen Zeitpunkt noch weiter nach hinten verschiebt. Die Einführung des Betreuungsgelds in Thüringen hat dazu geführt, dass die Betreuungsquote bei den unter Dreijährigen um 11 % zurückgegangen ist und die familiäre Betreuung al ler Kinder insgesamt um 20 % zugenommen hat.

Diese Studie stellt auch fest, dass Kinder überdurchschnitt lich von der qualifizierten außerhäuslichen Betreuung profi tieren, vor allem auch die Mädchen, und dass dies vor allem für drei Arten von Haushalten zutrifft: für Haushalte von Al leinerziehenden, für Haushalte mit niedrigem Bildungsstand und für Haushalte mit niedrigem Einkommen. Genau in die sen drei Haushaltsarten ist aber der stärkste Rückgang des Zu gangs zur Betreuung durch die Einführung des Betreuungs gelds festzustellen.

Spannend ist auch, dass sich das nicht nur auf das unter drei jährige Kind auswirkt. Wenn sich eine Person entschließt, dann lieber auf den niedrig qualifizierten Job oder den Nied riglohnjob zu verzichten, dann wird auch oft das Kind, das äl ter als drei Jahre ist, ebenfalls abgemeldet und aus der Betreu ung herausgenommen. Das heißt, es gibt nicht nur einen ne gativen Effekt für das unter dreijährige Kind, sondern auch für Geschwisterkinder.

Es gibt auch den Effekt, dass diese Kinder auch aus sonstigen Betreuungskonstellationen herausgenommen werden, also auch aus Betreuungszeiten, die durch Nachbarn, durch be freundete Familien, durch andere erbracht werden. Wenn das dann eben die Familien sind, die selbst nicht in der Lage sind, die Bildungsvoraussetzungen und die sozialen Kompetenzen zu vermitteln, dann führt dies dazu – das zeigt diese Studie ganz deutlich –, dass diesen Kindern Möglichkeiten, Bildung und damit Bildungsgerechtigkeit zu erfahren, verloren gehen, weil man mit einem Betreuungsgeld einen Anreiz gerade für diese Mütter – es sind oft die Mütter – setzt, auf eine zusätz liche Erwerbstätigkeit zu verzichten.

Denn das Betreuungsgeld hat zwei Effekte: Ich bekomme auf der einen Seite das Betreuungsgeld, und ich kann auf der an deren Seite auch noch die deutlich steigenden Betreuungskos ten im Kita-Bereich einsparen. Das ist oft natürlich wesent lich attraktiver als der geringe Verdienst, den diese Frauen an sonsten erhalten. Wenn dann auch noch das vierjährige Kind abgemeldet wird, dann ergibt sich daraus ein weiterer Effekt.