Ein Grund, weshalb viele Kinder mit dem Wiederholen der Klasse gleich die Schule wechseln, ist das Bestreben, der Schmach zu entgehen, den ehemaligen Mitschülern voller Scham auf dem Pausenhof zu begegnen und nicht mehr dazu zugehören. Häufig wird dieses Gefühl der Niederlage noch verstärkt durch die elterliche Enttäuschung darüber, dass das eigene Kind das Klassenziel nicht erreicht hat, wie es so schön
Dabei wissen wir längst, dass sich die Leistungen beim Wie derholen einer Klasse in den meisten Fällen nur punktuell ver bessern. Im ersten Jahr der Wiederholung stellt sich oft eine Besserung der Noten ein. Klar, der Stoff wird zum wiederhol ten Mal gepaukt. Viele Sitzenbleiber drehen aber wenige Jah re später ein weiteres Mal eine Ehrenrunde. Es genügt also nicht, einmal eine Klasse zweimal zu besuchen.
Man muss schon genauer hinschauen, um die Gründe für schlechte schulische Leistungen auszumachen. In den meis ten Fällen sind es nicht mangelnde Fähigkeiten, die die schlech ten Noten produzieren. Oft sind schlechte Noten ein Ergebnis mangelnder Motivation und schlicht des falschen Lernansat zes. Hier kann und muss frühzeitig gegengesteuert werden, denn kein Kind möchte sitzenbleiben oder legt es gezielt da rauf an. Kinder, die im jetzigen System versetzungsgefährdet sind, müssen von den betreuenden Lehrern eng an die Hand genommen werden. Sie brauchen im besten Sinn des Wortes Hilfe dabei, sich selbst helfen zu können, mehr die Hand und weniger die Stirn.
Unser Ziel muss und wird es also sein, durch individuelles Fördern ein Sitzenbleiben überflüssig zu machen. Auch wird es nicht ohne ein enges Miteinander von Schule und Eltern haus gehen.
Oft sind die Gründe für schlechte schulische Leistungen auch im persönlichen Umfeld zu finden: Ich nenne Probleme im El ternhaus, Mobbing durch Mitschüler oder Ähnliches. Dann gilt es für den Lehrer oder für die Lehrerin, sehr genau hinzu schauen. Hier kann auch ein Frühwarnsystem, vergleichbar mit jenem an den Gemeinschaftsschulen, hilfreich sein.
Ausdrücklich betone ich nochmals, dass wir kein Verbot des Sitzenbleibens, also keine entsprechende Schulgesetzände rung, planen. Davon, ohne Sitzenbleiben auszukommen, sind wir mit Ausnahme der Gemeinschaftsschule noch meilenweit entfernt. Was Sie für den Kindergarten und die Grundschule eingeführt haben, setzten wir in der Sekundarstufe fort. Ich werde dazu in der zweiten Runde noch etwas sagen.
Erlauben Sie mir zum Schluss einen Appell, meine sehr ge ehrten Damen und Herren von der Opposition: Stellen Sie Ih re Kampfrhetorik ein.
Verunsichern Sie die Bevölkerung nicht mit verkürzten oder falschen Zitaten. Bleiben Sie einfach auf dem Teppich.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Kol lege Dr. Kern, wenn der Duktus Ihrer Rede nicht ausschließ lich von Polemik und dem Versuch geprägt gewesen wäre, Be hauptungen in die Welt zu setzen oder zu verstärken, die zu keinem Zeitpunkt von mir gemacht wurden, dann müsste ich Ihnen sogar dankbar sein – dankbar dafür, dass Sie mir die Gelegenheit geben, hier und heute die Historie seit dem 16. Februar darzustellen, als die dpa eine bundesweite Ge schichte zum Thema Sitzenbleiben schalten wollte und auf mich – wie im Übrigen auch auf viele andere Kultusminister in Deutschland – zugekommen war.
Auslöser dieser medial angefachten Debatte war der Abschluss der Koalitionsvereinbarung in Niedersachsen. In dieser findet sich eine, so meine ich, richtige und auch politisch nicht ne gativ zu bewertende Passage, nämlich: „Die rot-grüne Koali tion“ will durch eine neue Kultur des Lernens „Sitzenbleiben... überflüssig machen.“ Dazu erging an einem Samstagnach mittag die Meldung – das ist das einzige Zitat, das von mir stammt – – Wenn Sie nur den „Mannheimer Morgen“ lesen, kann es natürlich sein, dass Sie irgendwelchen Gerüchten auf sitzen.
Aber wenn Sie sich ein bisschen Mühe geben würden, wür den Sie sehr schnell feststellen, dass die gesamte Debatte, die Sie hier glauben anfachen oder ins Haus tragen zu können, völlig unsinnig ist. Denn von dem, was Sie gesagt haben, bleibt nichts übrig.
„Das Kultusministerium will deshalb das Sitzenbleiben überflüssig machen. In allen Schularten sollen die Schwä chen durch ein verstärktes individuelles Lernen reduziert werden“, erklärte Stoch. Wir wollen das individuelle Ler nen an allen Schularten ausbauen, um jede Schülerin und jeden Schüler dabei zu unterstützen, den jeweils bestmög lichen Abschluss zu erreichen.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Und den Minister präsidenten, nicht zu vergessen! Biologie, Ethik! – Abg. Peter Hauk CDU: Es gibt auch noch einen Mi nisterpräsidenten! – Weitere Zurufe – Unruhe)
Ich bin jetzt gerade bei Ihnen. – Ich würde mich doch sehr wundern, wenn nicht für jeden von Ihnen gilt, dass Sie zu Be ginn eines Schuljahrs mit dem starken Interesse, mit dem Wil len in Ihre Klasse gehen, dass die Schülerinnen und Schüler, für die Sie verantwortlich sind, die bestmögliche Förderung erhalten, dass Sie mit Ihren Fördermaßnahmen, mit Ihrer pä dagogischen Betreuung jeden Schüler und jede Schülerin er reichen und dass am Ende des Schuljahrs kein Schüler sitzen bleiben muss. Sind wir uns da einig?
Deswegen, Herr Dr. Kern, wundert es mich doch sehr – – Ich sage jetzt einfach einmal: Sie sind jetzt in der ersten Legisla turperiode hier im Landtag.
Denn, Herr Kollege Dr. Kern, ich streite mich gern in der Sa che; das wissen Sie auch. Ich schätze Sie als Gesprächspart ner; auch das wissen Sie. Sie sind in 99,9 % Ihres Lebens ein rationaler Mensch. Aber in 0,1 %, nämlich immer dann, wenn Sie hier vorn stehen, habe ich das Gefühl, dass man Ihnen ir gendetwas gegeben hat, was Sie dazu bringt, dass Sie nicht mehr an der Sache entlang argumentieren. Vielmehr versu chen Sie durch Polemik, durch falsche Behauptungen,
(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: So viel zum Thema Polemik! – Abg. Thomas Blenke CDU: Was machen Sie gerade, Herr Minister? – Weitere Zurufe von der CDU)
Debatten zu führen, die es gar nicht gibt. Wir haben hier vor drei Wochen über das Kooperationsabkommen mit der Bun deswehr gesprochen. Da haben Sie von „Verbannen der Bun deswehr“ gesprochen. Sie haben ein Schreckgespenst an die Wand gemalt, wahrscheinlich um sich dann selbst davor zu gruseln.
Herr Kollege Dr. Kern, Sie sprechen hier oft von „uns Libe ralen“. Als Tradition der Liberalen betrachte ich Offenheit und Freiheit auch im Denken. Warum vermitteln Sie hier den Ein druck, dass Sie es sich verbieten, über manche Dinge nachzu denken? Ich halte das nicht für eine Qualität.
Ich würde mit Ihnen gern – sehr gern – über den richtigen Weg streiten, was die Förderung von Kindern und Jugendlichen an geht, aber bitte nicht mit Behauptungen, die nicht von mir stammen.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Sie wollen es also nicht verbieten!)
Herr Rülke, Sie können ja sprechen, wenn Sie wollen, aber bitte nicht dauernd. Das bringt doch nichts, uns zumindest nicht.
Herr Dr. Kern, kommen wir auf den Ausgangspunkt zurück. Ich habe auch Herrn Dr. Rülkes Pamphlet, das man „News letter“ nennt, gelesen; wie gesagt, von „Abschaffen“ oder „Verbot“ habe ich nie gesprochen.
(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Dann ist es ja gut, dass wir das jetzt feststellen! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD: Das hättet ihr auch selbst feststellen können!)
Das kritische Betrachten des Sitzenbleibens wird oft in einen Zusammenhang mit dem Thema Leistungsfeindlichkeit ge stellt. Auch das ist ein völlig unsägliches Verknüpfen von Din gen, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Denn Sie unterstellen – das ist ein Zitat Ihres Fraktionsvorsitzenden –, dann könne man „jedem Jugendlichen ja sein Abiturzeugnis bereits in die Wiege legen“.
Ich bitte Sie wirklich: Hören Sie auf mit dieser holzschnittar tigen Diskussionskultur. Sie bringt Ihnen nichts, sie bringt für die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit nichts, sie bringt nur eine starke Verunsicherung der Menschen in diesem Land, und das können wir alle nicht wollen. Denn alle Menschen wollen verantwortlich damit umgehen, wie die Zukunftschan cen ihrer Kinder aussehen.
Deswegen – ich habe es ihm vorhin schon angedroht – zitie re ich an dieser Stelle auch gern den Kollegen Helmut Rau. Er hat 2006 sinngemäß genau das Gleiche gesagt, nämlich: Wir müssen alles versuchen, dass die Nichtversetzung die Ul tima Ratio ist. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, um ei ne Versetzung zu erreichen.
(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Ja, wenn man so argumentiert! – Abg. Wolfgang Drexler SPD: Das ist das Gleiche, was wir auch sagen!)
Beispielsweise wurde damals das Versetzen auf Probe einge führt. Ich sage: Das ist der Common Sense. Das ist genau das, was ich gesagt habe. Dadurch, dass wir stärker auf die Schwä chen des einzelnen Schülers eingehen, wollen wir das Sitzen bleiben überflüssig machen.
Dass es in einer Schule für junge Menschen auch Situationen gibt, in denen alle anderen Mittel nicht mehr fruchten, und dann als Ultima Ratio vielleicht sogar ein Wiederholen sinn voll ist, das schließe ich doch nicht aus.