Erste Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktion GRÜNE und der Fraktion der SPD – Gesetz zur Änderung der Ver fassung des Landes Baden-Württemberg – Drucksache 15/216
Meine Damen und Herren, das Präsidium hat folgende Rede zeiten festgelegt: für die Begründung des Gesetzentwurfs fünf Minuten, für die Aussprache zehn Minuten je Fraktion, wo bei gestaffelte Redezeiten gelten.
Zur Begründung des Gesetzentwurfs darf ich Herrn Abg. Sckerl von der Fraktion GRÜNE das Wort erteilen.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir jetzt schwer, sachlich über eine Gesetzesinitiative zu reden. Das plötzliche Ableben des überaus geschätzten Kollegen Dr. Noll macht uns sehr betroffen. Wir werden sein Wirken sicherlich noch ein mal in angemessenem Rahmen würdigen.
Wir legen heute einen Gesetzentwurf zur Reform der Rege lungen zur Volksabstimmung in diesem Land vor. Wir möch ten zu Beginn dieser 15. Legislaturperiode ausdrücklich alle im Landtag vertretenen Fraktionen einladen, auf der Basis ei ner entweder schon erzielten oder aus unserer Sicht jetzt er reichbaren Übereinstimmung gemeinsam einen ersten Schritt zur Stärkung der unmittelbaren Volksbeteiligung an staatli chen Entscheidungsprozessen auf der Ebene des Landes zu machen. Wir möchten diesen Schritt ausdrücklich zu Beginn der Legislaturperiode und nicht an ihrem Ende machen, um ein klares Zeichen an die Bürgerinnen und Bürger zu setzen: Wir haben den Wunsch breiter Bevölkerungsschichten ver standen. Es ist angekommen, dass die Bürgerinnen und Bür ger auch in Baden-Württemberg mehr Mitbestimmung, mehr Mitwirkungsmöglichkeiten wünschen. Zu diesen gesteigerten Beteiligungsmöglichkeiten gehören auch Elemente der direk ten Demokratie.
Wir wollen in der 15. Legislaturperiode gemeinsam – die Be tonung liegt wieder auf „gemeinsam“ – einen Prozess zur Ver besserung der Bürgerbeteiligung auf unterschiedlichsten Ebe nen – von der Kommune bis zum Land – einleiten. Denn wir stehen auch gemeinsam in der Pflicht, dies zu tun.
Wir machen das nicht, weil die neue Landesregierung jetzt die Politik des Gehörtwerdens als ihr Steckenpferd entdeckt hät te.
Vielmehr machen wir das, weil wir das Vertrauen in die De mokratie und in das Parlament stärken wollen und die entstan dene Kluft zwischen Wählerinnen und Wählern einerseits und Gewählten andererseits sowie die damit einhergehende Poli tikverdrossenheit überwinden wollen, meine Damen und Her ren.
Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage: Es gibt ei ne breite Diskussion in diesem Land, an der sich alle mögli chen Personen beteiligen. Auch Wissenschaftler beteiligen sich daran.
Ich habe in der gestrigen Ausgabe der Frankfurter Allgemei nen Zeitung einen sehr interessanten Beitrag von Professor Dr. Vorländer, einem Politikwissenschaftler, gelesen. Das war ein längerer Beitrag. Ich darf daraus mit Genehmigung des Präsidenten einen Satz zitieren. Unter der Artikelüberschrift „Spiel ohne Bürger“ sagt Professor Dr. Vorländer:
Eine demokratische Ordnung kann nur dann als legitim bezeichnet werden, wenn die Bürger den Eindruck und den Glauben haben, am demokratischen Leben hinrei chend beteiligt zu sein...
Man muss diese Einschätzung nicht teilen. Aber an der Er kenntnis, dass die repräsentative Demokratie durch mehr Bür gerbeteiligung und Einbeziehung direktdemokratischer Ele
Ich sage an dieser Stelle auch ganz ausdrücklich: Wir stellen nicht die repräsentative und die direkte Demokratie gegenei nander. Das wäre völlig falsch. Meine Damen und Herren, das Problem ist nicht die repräsentative Demokratie, sondern das Problem ist, dass das Vertrauen in sie geschwunden ist. Wir wollen also nicht die repräsentative Demokratie ersetzen, son dern das Vertrauen in sie wieder dauerhaft herstellen. Dafür brauchen wir aber klare und gute Angebote für eine bessere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Wir glauben, dass wir mit dem heutigen Gesetzentwurf ein solches Angebot ma chen.
Denn wie ist die Realität in Baden-Württemberg? Wir haben in der 13. und auch in der 14. Legislaturperiode darüber dis kutiert, aber leider keinen gemeinsamen Nenner gefunden. Vielleicht schaffen wir das – das ist unsere Hoffnung – jetzt mit diesem Anlauf. Die Realität ist, dass Baden-Württemberg das Bundesland mit den restriktivsten Bestimmungen in Be zug auf direktdemokratische Beteiligungsformen ist. Nur das Saarland war bisher als Schlusslicht immer hinter uns. Es hat sich jetzt aber auf den Weg gemacht, befindet sich in einem Gesetzgebungsverfahren, wird weit nach vorn gehen. Dann hätten wir im wahrsten Sinn des Wortes die rote Laterne. Die wollen wir nicht; wir sollten sie uns auch nicht leisten. Ba den-Württemberg war immer ein Land, das z. B. auf kommu naler Ebene bei der Partizipation, bei der Bürgerbeteiligung eine Vorbildrolle hatte. Baden-Württemberg hat als eines der ersten Länder eine Volksabstimmung durchgeführt, und zwar zum Thema „Staatliche Verfasstheit“, nämlich über die Erhal tung des Landes Baden-Württemberg. Viele erinnern sich da ran. Es passt zu Baden-Württemberg, wenn wir jetzt auch auf Landesebene die direktdemokratischen Beteiligungsmöglich keiten verbessern.
Es gibt Länder, die eine große Vorbildfunktion haben. Dazu gehört Bayern. Es wird deshalb niemand sagen, Bayern sei der Hort der Revolution. Es ist ein konservativ geprägtes Land, vergleichbar mit Baden-Württemberg, aber mit einer sehr guten, sehr ausgeprägten und sehr erfolgreichen direkt demokratischen Tradition. Trotzdem entscheidet dort nicht der Volksentscheid, sondern der Bayerische Landtag.
Genau so verstehen wir das auch. Es wird immer darum ge hen, direktdemokratische Elemente in ganz begründeten Aus nahmefällen, in großen Streitfällen zu haben, damit eine mög lichst breit legitimierte demokratische Entscheidung gefällt werden kann. Dabei haben auch Flächenländer – nicht nur Stadtstaaten – wie Bayern, Hessen und Sachsen liberale, bür gerfreundliche Bestimmungen in ihren Verfassungen, zum Teil ohne Zustimmungsquorum, was die Entscheidung über ein fache Gesetze angeht, oder aber mit Zustimmungsquoren in der Größenordnung von 15, 20, 25 %. Mit einem Zustim mungsquorum von 33 % liegen wir in Baden-Württemberg auch hierbei ganz hinten.
Heute soll also ein erster Schritt erfolgen. Er ist bescheiden, aber er orientiert sich nach dem Verständnis von Grünen und SPD am Machbaren. Ich sage auch gleich dazu: Es ist keine „Lex Stuttgart 21“,
(Widerspruch bei der CDU – Abg. Friedlinde Gurr- Hirsch CDU: So eine Koinzidenz! Warum hat man denn im Dezember nicht zugestimmt? – Zurufe der Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP und Volker Schebesta CDU)
auch wenn es, meine Damen und Herren – darüber können wir ganz ruhig und unaufgeregt diskutieren –, natürlich wün schenswert wäre, wenn die Bürgerinnen und Bürger im Fall einer Volksabstimmung auch bei diesem Thema auf akzeptab le Rahmenbedingungen stoßen würden. Das gilt für Befür worter und für Gegner dieses Projekts gleichermaßen. Die Rahmenbedingungen sind nicht akzeptabel.
(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Volker Schebesta CDU: Die Rahmenbedin gungen waren im Januar nicht anders als jetzt!)
Aber, meine Damen und Herren, der Ansatz geht weit darü ber hinaus. Das Land braucht diesen Aufbruch. Es ist deswe gen keine „Einmal-Verfassungsänderung“, sondern es ist ei ne gestaltende Verfassungsänderung für mehr Bürgerbeteili gung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten.
Wir werden davon profitieren. Lassen Sie uns doch jetzt die letzten Stöckchen, die noch im Wettbewerb verblieben sind, gemeinsam überspringen. Die FDP/DVP hat bereits erklärt, dass das Quorum für sie akzeptabel ist. Das begrüßen wir ganz ausdrücklich.
Bei der CDU, verehrte Kolleginnen und Kollegen, möchte ich ausdrücklich dafür werben, dass wir diesen Schritt gemein sam gehen. Die Zeitenwende, dass Bürgerinnen und Bürger, Parteimitglieder mehr Mitsprache wünschen, spüren Sie der zeit auch in Ihren eigenen Reihen, in denen die Mitgliederbe fragung, die Urwahl gefordert wird.
Verpassen Sie bitte nicht den Zug der Zeit. Steigen Sie mit ein, und lassen Sie uns gemeinsam auf eine gute Reise in ei ne gute repräsentative Demokratie, ergänzt durch gute Ele mente direktdemokratischer Beteiligung, gehen.
Herr Präsident, liebe Kollegin nen und Kollegen! In Baden-Württemberg wird derzeit hef tig gestritten, und auch in der Landesregierung von BadenWürttemberg wird heftig gestritten – über einen Bahnhof.
SPD und Grüne sind auf ihren Wahlkampfplakaten für eine Volksabstimmung eingetreten. Zum Zeitpunkt der Plakatie
zumal sie selbst im Januar dieses Jahres im Ständigen Aus schuss einen Antrag von CDU und FDP/DVP abgelehnt ha ben, in dem es um die Absenkung des Quorums ging. Sie ha ben gesagt, sie wollten diesem Antrag nicht beitreten.
Herr Kretschmann hat dann nach der Wahl gesagt, er wolle keine Volksabstimmung mehr. Der Kandidat der Grünen in meinem Wahlkreis meinte, es sei richtig, dies so zu sehen, denn die Landtagswahl am 27. März sei bereits eine Volksab stimmung zu Stuttgart 21 gewesen. Wenn diese Wahl aber tat sächlich eine Volksabstimmung zu Stuttgart 21 gewesen ist,
dann ist das Thema durch. Denn drei Viertel der Sitze des Landtags von Baden-Württemberg werden von Vertretern von Parteien eingenommen, die für Stuttgart 21 eintreten.
(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Vol ker Schebesta CDU: Betretenes Schweigen bei der SPD! – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Was sagt Herr Drexler?)
Der vorliegende Gesetzentwurf ist auf die anstehende Volks abstimmung zu Stuttgart 21 geradezu zugeschnitten. Anders kann der Umstand nicht erklärt werden, dass dieser Entwurf die Zugangshürden für ein Volksbegehren nicht anspricht. Ei ne Verfassungsänderung wegen eines Einzelfalls – wegen ei nes Bahnhofs! – stellt keinen verantwortungsvollen Umgang mit der Verfassung des Landes Baden-Württemberg dar.