Protokoll der Sitzung vom 20.11.2013

Gegen diese Möglichkeit wird sofort eingewandt, das Parla ment beschließe dann gegen das Volk; ein solches Verhalten würde ein demokratisches Staatssystem nicht ertragen. Im Er gebnis erweist sich dieser Einwand aber nicht stichhaltig. Ein Blick in die Schweiz mit ihren zahlreichen Referenden zeigt bereits, dass in der öffentlichen Meinung Initiativen des Vol kes anders wahrgenommen werden. Dort weiß man, dass sie nicht direkt aus dem Volk kommen, sondern Versuche politi scher Gruppen, Verbände oder Interessengemeinschaften dar stellen, über einen Volksentscheid die eigenen Belange demo kratisch zu fixieren, und dass erst im dritten Takt, dem Refe rendum, tatsächlich „das Volk“ spricht. Bisher haben wir im mer eine Volksinitiative als Akt gesehen, der, wenn er zuläs sig ist, zwingend zur Volksabstimmung führen muss und da mit dem Parlament nur die Nebenrolle eines Kommentators oder Rezensenten der Volksvorlage einräumt. Wenn man aber erkennt, dass Volksinitiativen ihrem Namen nicht immer ge recht werden, sondern letztlich meist Gruppeninitiativen sind, wandelt sich das Bild. Diese Initiativen sind von gleicher Wer tigkeit wie die Gesetzesvorlage einer Fraktion oder der Re gierung, die ins Parlament eingebracht wird. Sie dürfen des halb nach freiem politischem Ermessen von den Abgeordne ten auch gleich behandelt, das heißt auch abgelehnt werden. Eine Volksinitiative entfaltet erst eine das Parlament erdrü ckende Wucht, wenn sie wirklich von einer breiten Mehrheit im Volk getragen wird.

Der Schlüssel zu der von mir vorgeschlagenen politischen Er messensfreiheit des Parlaments, einschließlich einer Ableh nung von Volksinitiativen, liegt daher im Quorum für die In itiativen. Ein Quorum kann zwei Zielen dienen. Als Gewich

tungsschwelle kann es sicherstellen, dass eine Initiative we gen einer hohen Zahl von Unterschriften tatsächlich dem Ge samtvolk zugerechnet werden kann. Dann besitzt es ein gro ßes demokratisches Legitimationsgewicht. Als Ernsthaftig keitsschwelle kann es aber auch lediglich sichern, dass Vor schläge interessierter Kreise eine parlamentarische Erörterung und Beschlussfassung verdienen und folglich vom Landtag wie jeder andere Anstoß zur Beschlussfassung behandelt wer den. Wenn z. B. ein Viertel des Volkes mit seiner Unterschrift eine Initiative unterstützt, könnte man den Landtag verpflich ten, dieser „großen“ Initiative allenfalls einen Alternativent wurf entgegenzusetzen und beide zur Abstimmung zu brin gen, ihm aber einen das Verfahren beendenden Vetobeschluss zu versagen. Ein niedrigeres Quorum für die Initiative würde aber den politischen Willen lediglich einer Interessengruppe aus dem Volk signalisieren und könnte als „kleine“ Initiative das Parlament – auch in den Augen der Öffentlichkeit – be rechtigen, als repräsentative Vertretung der Gesamtheit des Volkes die Vorlage abzulehnen.

d) Nutzen fehlgeschlagener Volksinitiativen

Der Vorschlag einer Ablehnungsbefugnis des Parlaments stößt zum anderen auf den Einwand, eine Initiative, die das Risiko einer Parlamentsablehnung trage, sei von vornherein für die Initianten sinnlos. Auch dieser Vorhalt dürfte nicht zutreffen. Man kann eine Bataille verlieren, aber den Krieg gewinnen. Selbst wenn eine solche Initiative vom Parlament abgelehnt wird, also bereits im zweiten Takt des konkreten Vorlagever fahrens keinen Erfolg hat, entfaltet sie für die Initianten und die öffentliche Meinung Bedeutung. Mit ihrem ausformulier ten Vorlagetext werden politische Sachfragen identifiziert, for muliert und Lösungen dafür in die Köpfe von Politik und Ge sellschaft getragen. Diese Wirkung bleibt auch nach einem ablehnenden Parlamentsbeschluss bestehen. Etliche politische Ideen sind anfangs am Parlamentswillen gescheitert, haben sich dann aber später in der öffentlichen Meinung festgesetzt und großen Erfolg gehabt. Mancher angehende Politiker hat sich in der Schweiz mit einer Volksinitiative öffentlich profi liert, ist dank ihr bekannt geworden und in die Berufspolitik eingestiegen.

e) Dritter Takt einer Volksabstimmung

Der dritte Takt würde nach einem positiven Beschluss des Par laments oder der Formulierung einer Alternativlösung im JaNein-Verfahren dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Dieses vorgeschlagene Referendumsverfahren hat keine Verästelun gen, kennt keine Beteiligung dritter Akteure außerhalb der Ersten Gewalt und bietet klare, stabile und für den Bürger ein sichtige Strukturen, die er annimmt und auch tatsächlich be nutzt. In Baden-Württemberg müssten wir in den Artikeln 59 f. LV dafür nur wenig rändern. Es wäre die Volksbeteiligung von Gesetzesinitiativen auf die Behandlung von Sachfragen zu er weitern, die Möglichkeit eines Ablehnungsbeschlusses des Parlaments vorzusehen, gegebenenfalls noch zwischen „gro ßer“ und „kleiner“ Initiative mit differenten Rechtsfolgen zu unterscheiden.

7. Die direkte Referendumsdemokratie als politischer All

Die Politik verlöre die Furcht vor unstabilen und unprofessi onellen Entscheidungen des Volkes, weil sie selbst weiter par

lamentarisch repräsentativ mitbestimmen würde. Freilich müsste die Politik auch das Volk künftig ernst nehmen, sich dem aktuellen Volkswillen stellen und beherzter selbst zum Referendum greifen. Bisher gilt leider noch ein Satz, den der Präsident des baden-württembergischen Landtags in einer Re de im Sommer treffsicher geprägt hat: „Wir wollen in der Po litik zu Recht immer den Menschen in den Mittelpunkt stel len und wundern uns dann, dass er uns dauernd im Wege steht.“ Wenn sich das Parlament auf die direkte Demokratie einlässt, muss es den Volkswillen, der aus einer Abstimmung hervorgeht, auch respektieren und in sein Kalkül aufnehmen. In der Referendumsdemokratie stünde der Wähler nicht mehr im Weg, sondern würde eingebunden. Im Ergebnis bestünden zwei Beschlüsse des Parlaments und des Volkes, welche die endgültige Entscheidung fester in der Demokratie gründen und Politik „für die Menschen“ machen, also die Aufgabe des Staates in vorzüglicher Weise erfüllen würden. Das vorge schlagene Verfahren würde keinem der beiden Beteiligten die Souveränität über das Verfahren nehmen, da die Beschlüsse beider sukzessiv gefasst, im Ergebnis also addiert werden.

Das dreitaktige Referendumsverfahren hätte den Vorzug, die direkte Demokratie nicht als seltene Ausnahme, sondern als Alltagserscheinung in das politische Leben einzubringen. Es würde zur Identifikation des Bürgers mit seinem Staat und zur aktuellen breiten Legitimation der Entscheidungen führen. Die Gefahr, dass momentaner Volkszorn oder politische Naivität in der Abstimmung den Ausschlag geben würden, wäre ge bannt, denn vor dem Entscheid des Volkes stünde der parla mentarische Beschluss, der in sachlicher Diskussion im Land tag vorbereitet wird, über den die Medien berichten und der zeitlich Gelegenheit gibt, den Volkszorn abkühlen zu lassen. Die Referendumsdemokratie hätte auch eine reale Chance, in der Landesverfassung verankert zu werden, weil das berech tigte Misstrauen von Politik und Parlament in die Rationali tät von Volksabstimmungen wegen der eigenen Vorbefassung mit der Vorlagefrage entfiele.

8. Die Einführung obligatorischer Referenden

Dieses Referendumsverfahren wäre aber nicht nur fakultativ je nach Initiative des Volkes oder des Parlaments vorzusehen, sondern in einigen Fällen auch obligatorisch anzuordnen. Für Verfassungsänderungen bedarf es wegen des pouvoir consti tuant des Volkes stets einer Legitimation durch das Volk. Des halb wäre ein obligatorisches Referendum bei Verfassungsän derungen angebracht; so sehen es z. B. die hessische und die bayerische Landesverfassung vor, und so hatte es auch der Konvent von Herrenchiemsee für das Grundgesetz geplant. Angebracht wäre es auch bei der Übertragung von Hoheits- und Souveränitätsrechten von einem Staat auf andere Hoheits träger; das ist aber weniger ein Thema für eine Landesverfas sung als für das Grundgesetz, wenn der Bund nach Artikel 23 f. GG derartige Rechte dritten Hoheitsträgern überlässt. Auch würde ich ein obligatorisches Referendum anordnen, wenn das Land Kredite aufnehmen will, weil es damit zukünftige Generationen belastet. Der Einwand, bei einer Kreditbremse, die nach Artikel 109 GG und den Landesverfassungen in ei nigen Jahren in Kraft tritt, wäre die Anordnung eines obliga torischen Referendums unnötig, greift nicht durch. Artikel 109 GG lässt eine in der Höhe unbezifferte Ausnahme zur Aufnah me von Krediten für Notsituationen und Katastrophen zu. Mich beschleicht die Sorge, dass dieses konstitutionelle Hin

tertürchen listige Haushaltsexperten veranlasst, in jedem Haushaltsjahr nach Notsituationen zu suchen, um damit un ter der Hand den laufenden Haushalt auf Pump zu finanzie ren. Auch sollte das obligatorische Referendum über die Auf nahme von Krediten hinaus auch auf das Eingehen von Bürg schaften und Gewährleistungen erstreckt werden, denn sie binden nachfolgende Generationen in gleicher Weise wie Kre dite, sobald das von ihnen abgedeckte Risiko eintritt.

9. Die Großzügigkeit in Detailfragen wegen der Möglich

keit parlamentarischen Vetos

a) Entfallen etlicher Detailprobleme

Das vorgeschlagene dreitaktige Verfahren würde die Einfüh rung direktdemokratischer Elemente leichter machen. Es wür den wegen der Notwendigkeit von zwei konformen Beschlüs sen des Parlaments und des Volkes etliche umstrittene De tailfragen entfallen lassen oder problemlos lösen können. Man könnte die Bestimmung der Initiativbefugnisse großzügig ge stalten, weil stets ein Parlamentsbeschluss nachgeschaltet wird, der für Professionalität und Stabilität der Politik sorgt. Das Problem der Beteiligungsquoren würde schwinden, weil der Landtag eine Volksinitiative aufgreift und die Vorlagefra ge in politisch freiem Ermessen durchlassen oder ablehnen kann. Die Frage einer Normierung von Tabugebieten für Volksabstimmungen, z. B. über Haushaltsgesetze, Besol dungsnormen etc., könnte unbeantwortet bleiben, weil das Parlament derartige Gesetzentwürfe stoppen kann.

b) Bleibende Rechtsfragen

Gewiss blieben einige Rechtsfragen noch zu beantworten, z. B. zur zeitlichen Bindungswirkung von Referendumsgeset zen – dürfen sie in der gesamten Legislaturperiode nicht mehr aufgehoben werden, genügt in der Periode eine Zweidrittel mehrheit des Parlaments für die Aufhebung? – oder der Rechtskontrolle durch den Staatsgerichtshof – vorherige Prü fung der Vorlage mit dem Risiko, dass der Staatsgerichtshof zum Akteur statt zum Kontrolleur demokratischen Gesche hens wird, nachherige Prüfung, bei der sich das Landesver fassungsgericht gegen den erklärten Volkswillen stellen müss te, oder Ausschluss einer gerichtlichen Kontrolle wie in der Schweiz, die an den Verfassungsstaat Anfragen richten wür de?

10. Die Kultur des Zuhörens und der Mehrwert des Ge

hörtwerdens

Außer Zweifel steht aber der Mehrwert der vorgeschlagenen dreitaktigen Referendumsdemokratie. Die Stärken der beiden Demokratietypen, nämlich Professionalität, Stabilität, aktuel le Legitimation und Identifikation von Staat und Bürgern, wür den vereint. Dem Volk fiele eine Akzeptanz von Majoritäts beschlüssen zumindest leichter. Die Volksbeteiligung würde den Gesetzen eine größere Dauerhaftigkeit verleihen, zwi schen Parlament und Volk entstünde eine gegenseitige Kultur des Zuhörens und des Gehörtwerdens. In diesem Dialog wür de das Volk die versachlichende Rolle des Parlaments erken nen, die Moralisierung von Entscheidungen durch das Volk würde wohltuend von der Streitkultur im Parlament kontras tiert, das Parlament würde auf das Volk hören statt vordenken de und erziehende Politikeliten bestimmen zu lassen. Letzt lich führt eine dreitaktige Referendumsdemokratie zur Poli tik für den Menschen. Das entspricht Artikel 1 Absatz 2 Satz 1

der Landesverfassung, nach dem der Staat die Aufgabe hat, den Menschen zu dienen. Deshalb rege ich an, dass der ba den-württembergische Landtag in seinen Bemühungen zur Verankerung direktdemokratischer Elemente in der Landes verfassung diese Vorschläge in seine Erwägungen einbezieht. In Artikel 59 f. LV sind schon etliche Schritte in diese Rich tung getan, die restlichen Instrumente sollten nach 60 Jahren erfolgreichen Verfassungslebens in Baden-Württemberg jetzt hinzugegeben werden. Die direkte Demokratie könnte so zum politischen Alltag in wichtigen Fragen des Landes werden. Das wäre ein Ausdruck gelebter Demokratie.

Das Streichtrio der Württembergischen Philharmo nie spielt aus den Goldberg Variationen BWV 988

„Aria und Variatio 1“ von Johann Sebastian Bach.

Gedanken von jungen Menschen zu „60 Jahre Landesver fassung“

Kaltrina Gashi: Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Wolf, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, sehr ge ehrter Herr Professor Dr. Kirchhof, meine sehr geehrten Da men und Herren! Es ist mir eine große Ehre, heute hier sein zu dürfen und Ihnen exemplarisch meine Sicht auf die Lan desverfassung vorzustellen.

Auch wenn es heißt, dass man manche Dinge einfach so an nehmen muss, wie sie sind, weiß ich, dass wir als Mitgestal ter Baden-Württembergs diejenigen sind, die etwas bewegen können. Natürlich bedarf es eines gewissen Bewusstseins, sich dieser Pflicht des aktiven Gestaltens annehmen zu können. Es ist und bleibt das Gleiche: eine Entscheidungssache. Ich kann entscheiden, wann ich aktiv werde. Ich kann entscheiden, ob ich mich informieren will. Ich kann mich einbringen, wenn ich weiß, wie und wo. Ich kann etwas verändern, wenn ich meinen Sinn schärfe und offen für die Belange anderer Men schen bin.

Ja, ich will mein Herz öffnen und aktiv mitgestalten. Ja, ich will anderen helfen und die Welt, wenn auch nur ein bisschen, besser machen. Aber was ich vor allem möchte, ist, gehört zu werden.

In Baden-Württemberg habe ich als Kind mit Migrationshin tergrund die Chance, das Abitur zu machen, und damit stehen mir alle Bildungswege offen. Ich kann unabhängig von mei ner sozialen Herkunft oder meiner finanziellen Situation stu dieren. Ich sehe, dass die Grundsätze der Verfassung umge setzt werden. Ich sehe, dass die Jugend gefördert wird.

Dennoch stelle ich mir die Frage, wie es trotz Förderung sein kann, dass Jugendliche in meinem Umkreis sagen: „Ich wuss te gar nicht, dass es eine Landesverfassung gibt.“ Wie kann es sein, dass im Bundesland mit der niedrigsten Arbeitslosen quote Deutschlands und einem kostenlosen Bildungssystem Gymnasiasten nicht wissen, dass es eine Landesverfassung gibt? Genau aus diesem Grund würde ich mir wünschen, dass auch in Zukunft in Bildung investiert wird.

(Beifall)

Doch nicht nur die Bildung spielt eine entscheidende Rolle. Auch die Herkunft und die wirtschaftliche Lage tragen einen entscheidenden Teil dazu bei, wie bestimmt unsere Entschei dung zur Veränderung ist.

Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung ent sprechende Erziehung und Ausbildung.

Auch wenn hier eine Chancengleichheit in Aussicht gestellt wird und der Eindruck vermittelt wird, die Herkunft und wirt schaftliche Lage spielten keine Rolle, bin ich der Meinung, dass das nicht stimmt.

Diejenigen, die durch frühkindliche Förderung ein eloquen tes Sprachvermögen aufweisen, werden sich einmal leichter tun als diejenigen, die aus finanziellen Gründen nicht diesel be Förderung und Chancen zur Entwicklung erhalten haben.

Das neulich veröffentlichte Ergebnis des bundesweiten Tests zur Erfassung des Bildungsstands hat Unerwartetes zutage ge fördert. Die Schülerinnen und Schüler aus Baden-Württem berg gehören nicht zur Bildungselite. Als Gymnasiastin habe ich schon viel Anspruchsvolles gelernt, und weitere neue Be reiche werden in meinem letzten Schuljahr auf mich zukom men, und trotzdem scheint es nicht zu reichen, um zu den Bes ten zu gehören.

Die Leistungen, die wir Schüler erbringen müssen, scheinen selbstverständlich zu sein. Aber das Selbstverständliche ge schieht unter einem enormen Leistungsdruck. Viele geben auf, brechen ab und gehen. Es macht mich so wütend, dass genau diesen Jugendlichen keine Wege aus der Hilflosigkeit aufge zeigt werden und sie keine Unterstützung erhalten. Und da wirft man unserer Jugend Politikverdrossenheit vor, weil wir nicht wissen, wie wir handeln sollen, oder überfordert sind mit dem, was man von uns erwartet? Diese Verweigerung ist keine Politikverdrossenheit, diese Verweigerung ist ein Hilfe ruf.

(Beifall)

An vielen Stellen haben bereits Veränderungen stattgefunden, aber an anderen Stellen sollte noch etwas getan werden.

Die Jugend zu erziehen und zu schützen, das soll Aufgabe des Landes sein. Aber was ich sehe, sind Schüler fünfter und sechster Klassen, die so viel Förderunterricht brauchen, dass sie mehr Zeit in die Schule als in jegliche andere Bereiche des Lebens investieren. Lernen ist wichtig, doch lernen, ohne zu leben, ist sinnlos, und lernen nur unter Zeitdruck ist furchtbar. Ich bin lernbereit, aber warum muss ich viel mehr in weniger Zeit leisten? Gymnasiasten am allgemeinbildenden Gymna sium ist ein ganzes Jahr weggenommen worden, ein Jahr, das viele von uns brauchen, um sich neu zu orientieren, sich zu finden und sich der eigenen Identität bewusst zu werden.

Sollte der Grundsatz der Erziehung der Jugend in den Schu len zu freien und verantwortungsfreudigen Bürgern zu jeder Zeit ernst genommen werden? Ich bin der Meinung: Ja.

Sind heutige Erwachsene zu freien und verantwortungsfreu digen Bürgern in der Schule erzogen worden, wenn sie nicht einmal die Partizipationsmöglichkeit bei der Landtagswahl nutzen? Die meisten in meinem Alter schaffen es nicht ein mal, Informationen über Parteien zu sammeln, geschweige denn die Partizipationsmöglichkeit des Jugendgemeinderats zu nutzen. Wer als Jugendlicher nicht lernt, sich einzubringen, mitzumischen und dann auch mitzugestalten, der wird es als Erwachsener auch nicht können. Wie sollen Rechte und Pflich

ten wahrgenommen werden, wenn keiner seine Rechte und Pflichten kennt?

Frei und verantwortungsfreudig, das wäre ein anzustrebendes Ziel. Dennoch sehe ich nur die Freiheit: die Freiheit, Spaß ha ben zu dürfen und sich darauf zu minimieren. Wo bleibt da die Verantwortung und wo die Verantwortungsfreudigkeit? Schaut man genauer hin, sieht man vielleicht Verantwortung, aber Freude sieht in meinen Augen anders aus.

Oft habe ich das Gefühl, dass es besser wäre, zuzuhören, als bloß zu entscheiden, dass es egal ist, was wir in den Schulen wollen, dass viele Entscheidungen von den finanziellen Mög lichkeiten, vom Haushalt abhängen. Ich würde mir das Ge fühl wünschen, als Individuum und nicht als möglicher Ge winn der Wahlkampagne gesehen zu werden.

Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich will meine Stim me nutzen, weil ich etwas zu sagen habe. Ich wünsche mir Of fenheit und Ehrlichkeit. Ich wünsche mir ein offenes Ohr, das sich dafür interessiert, was ich sage, und es nicht über sich er gehen lässt, weil die betreffende Person es muss. Ich wünsche mir Wertschätzung und nicht Abneigung gegen die Neugier de des jugendlichen Seins. Ich wünsche mir, dass ich Ihre Ge danken in Gang setzen konnte.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)