Markus Christoph Müller: Sehr geehrter Herr Landtagsprä sident Wolf, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretsch mann, sehr geehrter Herr Professor Dr. Kirchhof, meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn meiner Rede möch te ich dem Landtag von Baden-Württemberg für die Einla dung zu dieser Feierstunde danken. Ich freue mich, heute hier sein zu dürfen und die Gelegenheit zu bekommen, Ihnen mei ne Gedanken, auch wenn es nur in kurzer Form ist, mitzutei len.
Unsere Landesverfassung ist schließlich nicht irgendein Do kument aus dem Fundus der Geschichte. Als sie vor 60 Jah ren von der Landesversammlung beschlossen wurde, lagen die Gräuel der Nazidiktatur gerade einmal acht Jahre zurück. Ich habe diese Zeit – glücklicherweise – nicht miterlebt, aber ich bin mir sicher, dass die Verfassung damals für viele Men schen ein wichtiges Signal des Aufbruchs war. Die lange, dunkle Nacht der Diktatur war zwar zu Ende, aber es herrsch te doch große Ungewissheit, was der neue Tag der neuen De mokratie mit sich bringen würde. Die Verfassung sollte da meines Erachtens die Anleitung geben, das Beste aus diesem Tag herauszuholen.
Wenn wir heute zurückblicken, kann man meines Erachtens mit Fug und Recht behaupten, dass dies den Bewohnerinnen und Bewohnern unseres Landes sehr gut gelungen ist. In vie len Bereichen konnte verwirklicht werden, was für die voran gegangenen Generationen noch unerreichbar, ja sehr häufig sogar undenkbar gewesen war. Das war ein großer Fortschritt.
Aber 60 Jahre danach mehren sich auch die Zeichen, dass das Tagwerk noch keineswegs getan ist. Es gibt auch Bereiche, in denen einmal Erreichtes bereits wieder bedroht ist. Die Ver fassung war mit zahlreichen Versprechen verbunden: Freiheit, Schutz der menschlichen Würde, mehr Demokratie und sozi
ale Gerechtigkeit, um nur einige davon zu nennen. Doch ich frage mich: Wie ist es um die Einlösung dieser Versprechen bestellt?
Ich habe zwei Punkte herausgegriffen, die mir beim Durch blättern der Verfassungsfibel aufgefallen waren. Zuerst wur de ich auf den bereits von Herrn Kretschmann und meiner Vorrednerin Kaltrina angesprochenen Artikel 11 aufmerksam. Er stellt heraus, dass hierzulande jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Aus bildung habe. Doch an diesem Punkt, finde ich, gehen Verfas sung und Verfassungswirklichkeit doch weit auseinander. Man könnte sogar sagen, dass sich in den letzten Jahren die Situa tion für einige durchaus zum Negativen gewandelt hat. Denn auch in unserem reichen Bundesland gibt es wachsende Ar mut.
Es gibt Menschen, die immer noch keinen Schulabschluss ha ben oder die, wenn sie einen haben, dann keinen Ausbildungs platz finden. Es gibt immer mehr Kinder, die in einer Familie aufwachsen, in der das Geld nicht reicht, um ihnen eine ihrer Begabung entsprechende Bildung und Teilhabe zu ermögli chen. Am Ende landen diese jungen Menschen, die hoffnungs voll ins Leben gestartet sind, häufig in Berufen, mit denen sie niemals warm werden – wenn sie einen bekommen –, oder in Berufen, die ihnen niemals ein richtiges Auskommen bieten.
Ich selbst habe als Sohn einer Alleinerziehenden miterlebt, was es heißt, sich immer nur das Nötigste leisten zu können, was es heißt, Angst vor dem Monatsende zu haben, was es heißt, dass andere eben Nachhilfe haben und an Schulausflü gen teilnehmen können und man selbst zu Hause am Küchen tisch überlegen muss, was man dafür wieder streichen muss. Denn fernbleiben will man ja nicht. Wer einmal abseits steht, der kommt in unserer Gesellschaft nur sehr schwer – häufig gar nicht – in den Kreis zurück. Heute habe ich einen Studi enplatz, aber der Weg dahin war sehr steinig, und ich habe sehr viel Glück gehabt.
Man kann jetzt natürlich sagen, dass es sich hier um Einzel schicksale handelt und dass beispielsweise die Schulab brecherzahlen oder das Bildungsniveau im Vergleich zu an deren Bundesländern und zu anderen Staaten noch verhältnis mäßig positiv sind. Aber sollte das ein Grund sein, sich zu rückzulehnen oder an der Bildung zu sparen? Ich finde, jeder junge Mensch in unserem Land ist es wert, mitgenommen zu werden, Hilfestellung und Förderung zu bekommen.
Die Medien sprechen gern vom Fachkräftemangel und den großen gesellschaftlichen Aufgaben, die meine Generation oder die mir nachfolgenden Generationen noch zu schultern hätten. Da frage ich mich: Wie kann es sein, dass wir Jahr für Jahr so viele zurücklassen, deren Talent, deren Fleiß, deren Einsatzbereitschaft wir doch so dringend benötigten? Wie kann es sein, dass sich so viele Fach- und Hochschulabsol venten nach dem Abschluss ihres Studiums immer noch von Minijob zu Minijob hangeln müssen, selbst wenn sie sich in einem der auf dem Arbeitsmarkt begehrten MINT-Fächer be werben?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin aber noch auf einen weiteren Artikel aufmerksam geworden, der mir sehr am Herzen liegt. Herr Professor Dr. Kirchhof hat ihn bereits
angesprochen. Es geht um Artikel 60. Dieser nimmt immer hin eine halbe Seite in unserer Verfassungsfibel ein, aber trotz seines Umfangs hat er, wie wir schon gehört haben, lange Zeit keine sonderliche Rolle im politischen Alltag Baden-Würt tembergs gespielt. Dabei stellt er doch die direkte Demokra tie hervor. Ich fände es gut, wenn die Politik den Mut hätte, mehr von ihr Gebrauch zu machen.
Es geht hier nicht darum, das System sofort umzustürzen, son dern es geht darum, mehr Elemente einzupflegen. Denn die Staatsgewalt soll vom Volk durch Wahlen u n d Abstim mungen ausgeübt werden. Als Wahlhelfer in meiner Gemein de kann ich Ihnen sagen, dass viele Leute nicht nur alle paar Jahre für ein Gesamtpaket ins Wahllokal kommen wollen, son dern dass sie mehr teilhaben möchten. Ich habe es z. B. bei Stuttgart 21 erlebt. Da gab es wirklich viele, die gesagt haben: „Ja, da gibt es noch das eine oder andere Thema, das mir ein fällt, das man auch einmal dem Volk zur Abstimmung vorle gen könnte.“ Man sollte das Meißner Porzellan nutzen, das schon angesprochen worden ist.
An Themen herrscht wahrlich kein Mangel. Denken wir ein mal an die zahlreichen Großprojekte, die anstehen, an die Energiewende, die umgesetzt werden will, oder die bereits an gesprochenen Rekommunalisierungen. Ich finde, die Politik sollte sich nicht scheuen, die Menschen hier an die Hand zu nehmen und ihnen mehr Vertrauen entgegenzubringen. Schließ lich haben sie in 60 Jahren bewiesen, dass die Demokratie auch in Deutschland tragfähig ist. Direkte Teilhabe untermi niert unsere Demokratie nicht, sondern lässt sie mit jeder Ab stimmung stärker werden. Nutzen Sie also bitte die Gelegen heit, verkrustete Strukturen aufzubrechen und mit den Men schen wieder mehr in Dialog zu treten. Das wäre eine große Hoffnung von mir.
Seit der Verabschiedung unserer Landesverfassung sind nun 60 Jahre vergangen. An vielen Stellen – das haben wir gehört – konnten ihre Versprechungen eingelöst werden. Doch noch immer liegen große Herausforderungen vor uns bzw. drohen in naher Zukunft. Bleiben wir deshalb nicht stehen, meine sehr geehrten Damen und Herren, sondern nutzen wir jeden neu en Tag, um unsere Gesellschaft weiter voranzubringen. Oder um es mit Willy Brandt zu sagen:
Alena Laier: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident des Lan des Baden-Württemberg, sehr geehrter Herr Präsident des Landtags von Baden-Württemberg, sehr geehrter Herr Profes sor Dr. Ferdinand Kirchhof, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Mein Name ist Alena Laier. Ich bin 19 Jahre alt und besuche die Käthe-Kollwitz-Schule in Bruchsal, wo ich in diesem Jahr das Abitur machen werde. Für meine Reportage zum Thema
„Geschlossener Jugendwerkhof Torgau“ habe ich 2012 den Förderpreis des Landtags von Baden-Württemberg verliehen bekommen. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau war die einzige geschlossene Heimeinrichtung für Jugendliche in der DDR. Die eingewiesenen Jugendlichen sollten dort umerzo gen werden.
Auch heute möchte ich über die Jugendlichen sprechen, je doch nicht über die in der ehemaligen DDR, sondern über uns Jugendliche heute in Baden-Württemberg. Was sagt unsere Landesverfassung über das Leben der Jugend, und wie sieht es wirklich aus? Ich habe zwei Artikel ausgewählt, mit denen ich mich näher beschäftigen möchte: Das ist zum einen der heute schon mehrfach genannte Artikel 11 Absatz 1 und zum anderen Artikel 12 Absatz 1.
Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung.
Das klingt sehr gut, wenn man es in der Landesverfassung liest, aber in der Realität sehe ich etwas ganz anderes. Schon wenn ich an meine eigene Klasse denke, fällt mir auf, dass es darin nur zwei Schüler ausländischer Herkunft gibt, zwei Schüler, die keinen einfachen Weg gegangen sind, um so weit zu kommen, wie sie jetzt sind. Allein der Nachname reicht aus, um aus der Masse herauszustechen. Auch wenn man sich selbst als Deutscher sieht und nicht einmal die Sprache seines Herkunftslands spricht, wird man oft automatisch als schlech ter gebildet eingestuft, weil der Nachname so klingt, als stam me man nicht aus Deutschland.
Eine Studie, die die Universität Konstanz im Jahr 2010 im Auftrag des Instituts zur Zukunft der Arbeit, IZA, durchge führt hat, belegt diese Vorurteile. In dieser Studie wurden 1 000 fiktive Bewerbungen um Praktikumsplätze für Wirt schaftsstudenten versendet. Dabei wurde zufällig ein eindeu tig zuordenbarer deutscher oder türkischer Name ausgewählt. In jeder Bewerbung waren sowohl die deutsche Staatsbürger schaft als auch Deutsch als Muttersprache angegeben. Auch die Qualifikationen der fiktiven Studenten waren vergleich bar.
Eine positive Rückmeldung, also eine Einladung zu einem Be werbungsgespräch, bekamen 14 % mehr der angeblich deut schen Studenten als der angeblich türkischen. Betrachtet man nur kleinere Unternehmen, so sieht man: Dort ist der Unter schied noch größer; hier liegt er bei 24 %. Die Ablehnung be zog sich nicht auf eine feste Einstellung, sondern auf ein Be werbungsgespräch. Trotzdem werden Bewerber mit ausländi schem Namen sofort als ungenügend gebildet eingestuft und deshalb sozusagen in die „Nicht-einladungswürdig-Schubla de“ gesteckt.
Den Hauptgrund für dieses Schubladendenken sehe ich genau in den oft eben nicht der Begabung entsprechenden Möglich keiten, die Schülern ausländischer Herkunft geboten werden.
Das beginnt schon in der Grundschule. Zu meiner Grund schulzeit gab es einige Schüler in meiner Klasse, deren Eltern wenig oder kein Deutsch sprachen. Für diese Schüler wurde zwar einmal in der Woche eine Extrastunde Deutschunterricht angeboten, aber das reichte natürlich nicht aus. Stattdessen
wäre es wichtig, dass die Schule Lernhilfen anbietet, bei de nen die Schüler Hilfe bei ihren Hausaufgaben bekommen. Wie soll ein Grundschüler z. B. ein Diktat lernen, wenn es ihm nie mand diktieren kann, weil die Eltern kein Deutsch sprechen? Sie haben kaum eine Chance, später in weiterführenden Schu len zu bestehen, weil es dort noch größere Klassen und weni ger Lehrer gibt, die sich nicht um einzelne Schüler kümmern können, wodurch die Hilfe der Eltern oft entscheidend ist.
Ist es den Eltern nicht möglich, mit ihren Kindern zu lernen, so haben auch die Kinder eine wesentlich schlechtere Aus gangsposition. Das ist nicht nur ein Problem für ausländische Schüler, sondern auch für Schüler, deren Eltern einen weni ger hohen Bildungsstand oder einfach nur wenig Zeit haben, gemeinsam mit ihren Kindern zu lernen. Laut einer Statistik des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg aus dem Schuljahr 2012/2013 liegt der Anteil von Schülern mit Mig rationshintergrund in Haupt- und Werkrealschulen bei ca. 35 %, in allgemeinbildenden Gymnasien nur bei ca. 10 %, in beruflichen Gymnasien immerhin bei 15 %. Kann das der in der Landesverfassung genannten Ausbildung entsprechend der persönlichen Begabung gerecht werden? Nach meiner Meinung wohl kaum.
Nicht nur die Landesverfassung, sondern auch das Grundge setz setzt sich mit der Erziehung der Jugendlichen auseinan der. Artikel 6 Absatz 2 unseres Grundgesetzes sagt:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das... Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Dieser Artikel ist dem Artikel 11 der Landesverfassung in vie len Punkten ähnlich, denn es geht klar hervor, dass die Eltern in der Erziehung und Förderung eine sehr wichtige Rolle spie len. Er führt sie aber auch weiter aus. Wenn nämlich – das ist genau der von mir genannte Fall – die Eltern nicht in der La ge sind, ihre Kinder entsprechend zu unterstützen, hat der Staat die Pflicht, sich daran zu beteiligen.
Wie könnte diese Unterstützung aussehen? Ich denke, ein ers ter guter und wichtiger Schritt wäre es, mehr Lehrer einzu stellen, anstatt Stellen zu streichen.
Dies würde z. B. ermöglichen, dass Hausaufgaben- und Lern hilfen von der Schule übernommen werden können.
Oft betrifft die notwendige Hilfe auch eher Kinder aus Famili en, die sich teuren Nachhilfeunterricht oder Lernbetreuungen außerhalb der Schule nicht leisten können. Außerdem können Kinder aus derselben Klasse so auch gemeinsam lernen, was den Vorteil mit sich bringt, dass das Lernen effektiver wird und die Schüler sich gegenseitig unterstützen können. Der Lehrer kann zudem besser mit dem eigentlichen Fachlehrer abspre chen, wo die Schwächen der einzelnen Schüler liegen, sodass der Stoff gezielt wiederholt werden kann.
Zieht man aus den genannten Problemen und Fakten ein Fa zit, so zeigt sich deutlich, dass ausländische Schüler oft von vornherein benachteiligt sind, weil viele nicht die Chance be kommen, eine Realschule oder sogar ein Gymnasium zu be suchen. Sie können gute und sehr intelligente Schüler sein, werden es aber trotzdem schwerer haben, einen Ausbildungs platz zu erhalten, als Schüler mit deutschen Wurzeln.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass der Artikel 11 unserer Landesverfassung mehr ins Blickfeld gerückt und verwirk licht wird, auch wenn ich natürlich weiß, dass dies keine ein fache Aufgabe ist.
Der zweite Artikel, mit dem ich mich beschäftigen möchte, ist, wie bereits erwähnt, Artikel 12 der Landesverfassung. Die ser sagt in Absatz 1:
Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christ lichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruf licher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher de mokratischer Gesinnung zu erziehen.
Ich möchte nur auf den ersten Teil dieses Absatzes eingehen, der sich mit der christlichen Erziehung beschäftigt.
Ich selbst engagiere mich sowohl bei den Ministranten als auch bei der KJG in meiner Gemeinde, also für die christli che Jugendarbeit. Jedoch muss ich feststellen, dass besonders bei den Ministranten die Zahl der neu hinzukommenden Kin der immer weiter sinkt. Auch bei der KJG ist dieses Sinken der Mitgliederzahlen gerade bei jüngeren Kindern in meiner Gemeinde leider deutlich zu erkennen. Dass dies hier kein all zu großes Maß annimmt, liegt, schätze ich, daran, dass hier eben auch Spiel und Spaß im Vordergrund stehen und eine Zu gehörigkeit nicht automatisch zum regelmäßigen Gottes dienstbesuch zwingt.
Ich selbst erinnere mich daran, dass sich Mitschüler und auch Freunde oft über mein Engagement in der Kirche lustig ge macht haben, und kann somit verstehen, dass viele Jugendli che ihren Dienst aufgeben. Es ist eben einfach nicht mehr „cool“, ein Ministrant zu sein oder sich für den Glauben zu interessieren.
Der Glaube spielt für immer mehr Eltern und somit auch für ihre Kinder eine immer kleinere Rolle. Die Erziehung bezüg lich bestimmter Werte ist jedoch nach wie vor sehr wichtig. Dies ist ein Grund, warum die Aktualität dieses Absatzes über dacht und dieser Absatz entsprechend geändert werden soll te.
Hinzu kommt, dass Deutschland und natürlich auch BadenWürttemberg zwar christlich geprägt sind, es jedoch auch vie le Andersgläubige gibt. Ich sehe diesen Absatz nicht im Ein klang mit der Religionsfreiheit, weil er eine christliche Erzie hung vorschreibt, die Eltern mit anderer Religion weder le ben wollen noch leben werden.