Protokoll der Sitzung vom 20.07.2011

Moment! – Wenn es denn ein vernünftiges Alternativkon zept gibt, sind wir konkret zur Unterstützung bereit. Aber ein fach nur die Verbindlichkeit abzuschaffen und diese Fragen offen im Raum stehen zu lassen, das ist unverantwortlich.

Liebe Frau Ministerin, gestatten Sie mir noch eine Bemer kung: Mit der Abschaffung der verbindlichen Grundschulemp fehlung – das hat der Applaus der Regierungsfraktionen eben erwiesen – verfolgen Sie das Ziel, die Schullandschaft in Ba den-Württemberg gravierend zu verändern.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD – Abg. Muhterem Aras GRÜNE: Zu verbessern! – Zuruf von den Grünen: Dafür sind wir gewählt wor den!)

Deswegen möchte ich Ihnen auch eine Frage stellen. Sie ha ben nach einer Meldung der „Südwest Presse“ vom 16. Juli kürzlich auf einer Veranstaltung in Ehingen vor 200 Zuhörern – Sie nahmen aufgrund einer Frage den „Ball“ auf – mit Blick auf Befürchtungen zur Zukunft von Realschulen und Werkre alschulen gesagt:

Was gut funktioniert in diesem Land, das werden wir doch nicht kaputtmachen.

Frau Ministerin, dann bekennen Sie sich auch zur Qualität der Werkrealschulen und der anderen weiterführenden Schular ten. Dazu haben Sie sich bisher nicht geäußert.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Glocke des Präsidenten)

Sind Sie bereit, noch eine Nach frage entgegenzunehmen?

Bitte, Herr Kollege.

Herr Kollege, sind Sie be reit, anzuerkennen, dass Ihre Position selbst innerhalb der Bundes-CDU inzwischen eine Minderheitenposition ist, was das gegliederte Schulsystem angeht, auch was die Grund schulempfehlung angeht, weil es sie in dieser Form in kaum einem anderen Bundesland noch gibt?

Sind Sie auch bereit, anzuerkennen, dass es im Rahmen der OECD- und der PISA-Vergleiche kein einziges Land gibt, das ein gegliedertes Schulsystem hat und besser dasteht als Ba den-Württemberg oder Deutschland?

(Zurufe von der CDU)

Lieber Herr Kollege, der PISAVergleich ist doch etwas umfangreicher, als Sie es eben selbst hier zitiert haben.

Erste Bemerkung: In den Bundesländern, in denen die CDU mitregiert, wird an der Verbindlichkeit der Grundschulemp fehlung festgehalten, und zwar aus den eben genannten Grün den – aufgrund der empirischen Bildungsforschung.

(Zuruf der Abg. Muhterem Aras GRÜNE)

Zweite Bemerkung: Sie haben den internationalen OECD-Ver gleich erwähnt. Schauen Sie sich die Entwicklung der Staa ten innerhalb der OECD an. Sie werden dabei feststellen, dass es sowohl ein qualitatives Gefälle nach unten – auch bei den Schulsystemen, die Gemeinschaftsschulen anbieten – als auch Entwicklungen in andere Richtungen gibt. Beispielsweise be findet sich Schweden, ein Land, das bei der ersten PISA-Stu die gute bis exzellente Ergebnisse erzielt hat, inzwischen im OECD-Mittelfeld. Norwegen, das ebenfalls ein „Basisschul system“ hat, belegt sogar einen Platz unterhalb des OECDDurchschnitts. Das ist ein Beleg dafür, dass eine Schulstruk turveränderung keine signifikante Auswirkung auf die Quali tät unserer Schulen hat, und zwar auch im internationalen Ver gleich.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Das Wort erhält nun Frau Abg. Bo ser für die Fraktion GRÜNE.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wacker und sehr geehrter Herr Dr. Kern, wenn Sie Ihre Affinität zur Selektion damit begründen, dass der Zulauf an Realschulen und Gymnasien mit dem Weg fall der verbindlichen Grundschulempfehlung zu groß würde, dann hätten Sie sich bereits zu Zeiten Ihrer Regierungstätig keit Gedanken darüber machen sollen, weshalb die Akzeptanz von Haupt- und Werkrealschulen trotz engagierter Lehrer häu fig nicht vorhanden ist.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Wie bitte? Das haben wir jetzt nicht verstanden!)

Dies ist nicht durch Grün-Rot verursacht – –

(Abg. Volker Schebesta CDU: Über 20 % Übergang!)

Der Zulauf an die Werkrealschulen ist schon heute zurück gegangen.

(Abg. Georg Wacker CDU: 25 % Übergang, Frau Kollegin!)

Wir haben daher die Aufgabe – Sie haben eben schon etwas dazu gesagt –, ein Schulsystem anzubieten, das Angebote für alle Leistungsstandards bereithält, und zwar am besten inner halb einer Schule, in der die Schüler gemeinsam lernen und in ihren individuellen Fähigkeiten gefördert und gestärkt wer den.

(Abg. Winfried Mack CDU: Gesamtschule!)

So lange, bis es hier ein flächendeckendes Angebot gibt, ist das Beratungsangebot durch die Lehrer ein wichtiger Bestand teil, um den Kindern ein leistungsgerechtes Schulangebot zu machen.

Es ist selbstverständlich, dass die Kinder vor Zurückstufun gen geschützt werden müssen. Daher müssen die Eltern über die Schulen aufgeklärt werden, und das Potenzial eines Kin des muss ganzheitlich betrachtet werden.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Die derzeit geltende verbindliche Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg bringt für viele Kinder eine enorme psy chische Belastung mit sich. Denn ausschlaggebend für die empfohlene weiterführende Schule ist das Halbjahreszeugnis der Klasse 4. Andere Qualifikationen, wie etwa soziale oder psychische Reife oder das Entwicklungspotenzial eines Kin des, fließen in diese Grundschulempfehlung größtenteils nicht mit ein.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Winfried Mack CDU: Doch!)

Ich finde es in diesem Zusammenhang erschreckend, dass man bei einer Stichwortsuche im Internet Tipps dafür bekommen kann, wie man sein Kind dahin gehend trainieren kann, dass es in den Fächern Mathematik und Deutsch die Ergebnisse liefert, die zu einer Gymnasialempfehlung führen.

(Abg. Bärbl Mielich GRÜNE: Das ist Oberstress!)

Die Grundschulempfehlung lässt trotz des großen Engage ments der Lehrerinnen und Lehrer zudem keine Aussage da rüber zu, welchen Bildungsweg ein Kind am Ende abschlie ßen wird. Das haben Sie bereits angesprochen. Zu einem Drit tel bis zur Hälfte stimmen die Empfehlungen nicht mit dem Bildungsabschluss überein, den das betreffende Kind später erzielt.

Hinter dieser Statistik verbirgt sich aber nicht ein direkter Weg, wie Sie es suggeriert haben, sondern oftmals ein schwie riger Hürdenlauf, weil das Schulsystem bislang nur an weni gen Stellen die Durchlässigkeit aufweist, die für einen direk ten Weg nötig wäre.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Dazu kommt Folgendes: Das Beratungsverfahren, das Sie an gesprochen haben, wird heute von ca. 7 000 Eltern pro Jahr in Anspruch genommen. Anschließend wird bei etwa einem Viertel der betreffenden Kinder die Grundschulempfehlung abgeändert. Das ist ein Beleg dafür, dass diese Grundschul empfehlung eben nicht das richtige Instrument ist, um eine Schulwahl zu treffen.

Sollte das Beratungsverfahren nicht zu einer Einigung geführt haben, gehen die Kinder in ein Prüfungsverfahren. Auch im Zuge dieses Prüfungsverfahrens werden die Empfehlungen häufig noch einmal abgeändert. Sie alle können sicherlich nachvollziehen, welch große Belastung und welcher Stress damit verbunden ist, dass die Kinder diese Hürden überwin den müssen, um auf eine andere Schule zu kommen, als in der Empfehlung angegeben wurde.

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Oje!)

Dieser Belastung kann mit dem Wegfall der verpflichtenden Grundschulempfehlung entgegengewirkt werden. Dies wol len wir gemeinsam auf den Weg bringen. Damit die Eltern

auch dann noch eine Orientierungshilfe bekommen, welche Schule für ihr Kind geeignet ist, erfolgt in Zukunft eine qua lifizierte Beratung durch die Lehrer, bei der eine Empfehlung für den künftigen Weg mitgegeben wird, die aber nicht ver pflichtend ist.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Somit wird dann aus der bisherigen sogenannten Empfehlung eine tatsächliche Empfehlung und keine Weisung, wie es mo mentan der Fall ist.

Auch bislang bedeutet die Grundschulempfehlung keine Fest legung auf eine bestimmte Schulart. Es gibt genügend Bei spiele, dass mancherorts bis zu einem Fünftel der Eltern die Gymnasialempfehlung nicht angenommen haben. Bei Kin dern hingegen, denen der Besuch der Hauptschule empfohlen wird, besteht keine Wahlmöglichkeit. Das ist eine extreme Un gleichbehandlung, die sich nicht fortsetzen darf.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Denn es gibt keine Kinder zweiter Wahl.

Ein Vorteil des Wegfalls der verpflichtenden Grundschulemp fehlung liegt zum einen darin, dass die Kinder nicht nur nach ihren Notenleistungen im Halbjahreszeugnis bewertet wer den, das sich vor allem auf die Fächer Mathematik und Deutsch bezieht, sondern das Kind auch insgesamt betrachtet wird. Zu gewanderte Kinder mit Migrationshintergrund haben oftmals Sprachprobleme und damit auch ein Problem im Fach Deutsch. Dies wird aber in einer Grundschulempfehlung nicht berück sichtigt, und es bedeutet daher eine besonders hohe Hürde für diese Kinder, eine bessere Empfehlung als die für die Haupt schule zu erhalten. Dies hat überhaupt nichts mit Begabungs gerechtigkeit zu tun, denn Zweisprachigkeit und interkultu relle Kenntnis sind bei angemessener Förderung der Deutsch kenntnisse ein Gewinn für die gesamte Schullandschaft.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Auch hier gibt der Wegfall der Verpflichtung auf eine Schul art mehr Zeit für das Erlernen der deutschen Sprache.

Der größte Vorteil im Wegfall der Grundschulempfehlung liegt aber darin, dass der Druck aus der Grundschulzeit her ausgenommen wird.