Bürgervoten dienen nicht dazu, Entscheidungen zu verhin dern. Schon im Wahlkampf habe ich betont, dass Bürgerbe teiligung nicht heißt, aus Baden-Württemberg den größten De battierklub aller Zeiten zu machen, in dem nichts mehr ent schieden wird. Natürlich kann nicht jede Meinung erhört wer den. Es geht darum, dass niemand überhört wird. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger können ihre Meinungen und Ar gumente einbringen. So können sie einen ganz erheblichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung eines Projekts neh men.
Ein Beispiel dafür ist der Nationalpark Schwarzwald. In die sem Nationalpark steckt mehr Bürgerwille als in jedem ande ren Nationalpark.
Dennoch gab es Frustrationen, die hätten vermieden werden können, wenn die Spielregeln den Bürgerinnen und Bürgern von Anfang an noch klarer gewesen wären:
Der Landtag trifft als verfassungsmäßig dafür vorgesehenes Organ die Entscheidung über den Nationalpark. Die lokale Bürgerschaft kann über das Ja oder Nein zum Nationalpark nicht entscheiden. Es gibt also kein „Anwohnerveto“. Bei der Bürgerbeteiligung geht es um die Ausgestaltung des National parks, also das Wie. Im Übrigen sind überzeugende und über geordnete Argumente, die zur Aufgabe des Projekts hätten führen müssen, gar nicht gefallen.
Die Spielregeln von Anfang an noch klarer zu machen und zu sagen, was geht und was nicht, das ist die wichtigste Lektion aus den Bürgerbeteiligungsverfahren der vergangenen drei Jahre.
Eine zweite Lektion ist die folgende: Nicht nur wir haben, sondern auch die Bürgerschaft hat eine Bringschuld. Diese Bringschuld besteht darin, zivilisiert für die eigene Sache zu argumentieren.
Bisweilen schießen hier die Emotionen durch die Decke und entfernen sich in Inhalt und Form von der Sache.
Und wenn sich darüber hinaus in wichtigen Konflikten sogar Fanatismus einnistet, gefährdet das den Prozess der Bürger beteiligung und damit die gesellschaftliche Bindungswirkung, die es ja gerade zu schaffen gilt.
Aber auch hier sind wir zuversichtlich. Denn ein Blick in die Schweiz zeigt uns: Eine politische Kultur, in der sich die In stitutionen mit der Bürgerschaft auf Augenhöhe begegnen und miteinander auseinandersetzen, braucht Zeit zum Wachsen. Nach einer gewissen Anlaufphase stellt sich dann bei allen Beteiligten eine größere Gelassenheit ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben bereits auf die harte Konfrontation rund um Stuttgart 21 hingewiesen. Nach dieser Konfrontation war allen Verantwortlichen klar: So kann es bei der Planung von Großprojekten nicht weiter gehen! Wir können die Bauprojekte des 21. Jahrhunderts nicht mit den Bordmitteln des 20. Jahrhunderts durchführen. Wir brauchen in einer modernen Gesellschaft wie unserer eine neue Art des Umgangs, der Einbindung, der Diskussion.
Deswegen haben wir unmittelbar nach Regierungsantritt da mit begonnen, die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubin
den, und haben zahlreiche Beteiligungsverfahren, Bürgerdia loge, Faktenchecks und runde Tische durchgeführt.
das integrierte Energie- und Klimaschutzkonzept, bei dem ei ne große Vielzahl von Vorschlägen gesammelt und eingear beitet wurden, der Dialog „Welt:Bürger gefragt!“, bei dem in über 20 Konferenzen die entwicklungspolitischen Leitlinien des Landes mit den Bürgerinnen und Bürgern im Konsens ent wickelt wurden, der Tunnelfilterdialog in Schwäbisch Gmünd, das Bürgerforum am Hochrhein zur A 98,
bei dem es um den Verlauf der Straße zwischen Bad Säckin gen und Schwörstadt ging, oder der Landesgesundheitsdialog.
Bei einer großen Zahl wichtiger Entscheidungen haben wir die Spielräume der Bürgerschaft vergrößert, beispielsweise bei der regionalen Schulentwicklungsplanung und den Ge meinschaftsschulen.
Wo früher die Landesregierung oder die Verwaltung entschie den hat, dürfen die Träger vor Ort jetzt selbst entscheiden.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Dass sie Gemeinschaftsschu le werden!)
Mit unserem Beteiligungsportal im Internet haben wir die Bür gerbeteiligung technisch auf die Höhe des 21. Jahrhunderts gebracht und Beteiligungsverfahren z. B. zum ErneuerbareWärme-Gesetz, zum Landeshochschulgesetz oder zum Um weltverwaltungsgesetz realisiert.
Wie schon zu Anfang meiner Rede erwähnt, sind wir nun noch einen Schritt weiter gegangen. Um eine bessere, frühzeitige re Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, haben wir gemeinsam mit der Bauwirtschaft einen Leitfaden für eine neue Planungs kultur entwickelt. Der Leitfaden ist vor einem Monat, am 27. Februar 2014, in Kraft getreten. Er schafft einen öffentli chen Raum, in dem sich Verwaltung und Bürgerschaft sowie Wirtschaft und Bürgerschaft frühzeitig und auf Augenhöhe begegnen können. Er ist Ausdruck einer Politik der Offenheit und Transparenz, einer Politik auf Augenhöhe mit der Bürger schaft und – nicht zuletzt – ein Standortvorteil für BadenWürttemberg.
Natürlich kostet eine professionelle Bürgerbeteiligung auch Geld. Aber sie kostet bei Weitem nicht so viel wie die Verzö gerungen, die sich aus einer mangelnden Beteiligung der Bür gerschaft ergeben.
Ich möchte einmal betonen: Unser Vergleichsmaßstab ist hier nicht die chinesische Planierraupe, die auf zentralen Befehl von oben ohne jede Rückkopplung mit der Bürgerschaft alles niederwalzt
und den Weg für große Bauprojekte freimacht. Wir leben in einer völlig anderen Welt, und ich möchte betonen: Gott sei Dank!
Unser Maßstab ist unsere verfassungsmäßige Ordnung, die auf der Souveränität des Volkes und der Legitimation durch Verfahren beruht. Dem Geist solcher demokratischen Verfah ren entspricht es, dass eine aufgeklärte und zuweilen eben auch aufmüpfige Bürgerschaft die Institutionen nicht behin dert, sondern daran mitwirkt und der Demokratie eine leben dige Gestalt verleiht.
Wir müssen uns daran orientieren, was vor diesem Hinter grund in einer modernen rechtsstaatlichen Gesellschaft mög lich ist. Ein Beispiel dafür ist das Schweizer Bauprojekt des Gotthard-Basistunnels. Das milliardenschwere Bahnprojekt wurde von der Bevölkerung in zwei Volksabstimmungen be schlossen und erfreut sich seitdem einer hohen Akzeptanz der Bevölkerung – zum offensichtlichen Gemeinwohl der Schweiz.
Bei der Rheintaltrasse, an der ich gerade war, zeigt sich, wel che Probleme man sich auflädt, wenn man dies nicht rechtzei tig tut. Die Probleme sind also sehr, sehr groß.
Das zeigt nämlich: Bauen und mehr Rechte für die Bürger schaft widersprechen einander nicht. Eine Stärkung der Bür gerschaft ist vielmehr eine unerlässliche Voraussetzung dafür, um in einer modernen Demokratie im 21. Jahrhundert weiter hin ambitionierte Projekte – auch größere und Großprojekte – umsetzen zu können. Hier haben wir uns mit dem Planungs leitfaden an die Spitze gesetzt – national und international.
Aber nicht nur bei der Bürgerbeteiligung machen wir einen großen Schritt in Richtung Zukunft. Einen weiteren Schritt werden wir in der zweiten Hälfte dieser Legislaturperiode mit einem Gesetzespaket zur direkten Demokratie gehen.
Basis für dieses Gesetzespaket ist ein gemeinsam von allen im Landtag vertretenen Fraktionen – also von CDU, FDP/ DVP, SPD und Grünen – ausgehandelter Kompromiss. Des halb möchte ich Ihnen allen, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten, hier noch einmal für Ihre Arbeit dan ken. Mein Dank gilt insbesondere den Fraktionen in diesem Hohen Haus, vor allem all jenen Kolleginnen und Kollegen, die in monatelangen Verhandlungen diesen Durchbruch er zielt haben. Ohne Sie wäre dieses Paket nicht möglich.