Protokoll der Sitzung vom 26.03.2014

Basis für dieses Gesetzespaket ist ein gemeinsam von allen im Landtag vertretenen Fraktionen – also von CDU, FDP/ DVP, SPD und Grünen – ausgehandelter Kompromiss. Des halb möchte ich Ihnen allen, meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten, hier noch einmal für Ihre Arbeit dan ken. Mein Dank gilt insbesondere den Fraktionen in diesem Hohen Haus, vor allem all jenen Kolleginnen und Kollegen, die in monatelangen Verhandlungen diesen Durchbruch er zielt haben. Ohne Sie wäre dieses Paket nicht möglich.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Das zeigt auch: In wichtigen Fragen bestätigt sich in unserer Demokratie immer wieder, dass man über die Parteigrenzen hinweg zu guten, gemeinsamen Lösungen kommen kann.

Im Kern wird es in diesem Gesetzespaket darum gehen, die Hürden zu senken, damit die Bürgerinnen und Bürger auf der Landesebene und auf kommunaler Ebene Entscheidungen ein facher und mit weniger Aufwand an sich ziehen können. Ei nen Referentenentwurf, Herr Kollege Hauk, auf der Basis der interfraktionellen Vereinbarung werden wir Ihnen dazu in den kommenden Monaten zukommen lassen.

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Oder Jah ren!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben mit kraft vollen Schritten begonnen, die Bürgerschaft stärker einzube ziehen und zu beteiligen. Die Grundlagen, die wir bis heute gelegt haben, werden von nun an ihre Wirkung entfalten. Dies betrifft nach unseren Schätzungen etwa 150 Projekte im Jahr, bis zum Ende dieser Legislaturperiode also rund 300 Projek te vor Ort in Baden-Württemberg, beispielsweise im Bereich des Hochwasserschutzes.

Auf eine Formel gebracht heißt das: Wir ermöglichen 300-mal mehr Mitgestalten vor Ort in Baden-Württemberg. Das be deutet auch: Wir ermöglichen Kritik. Wir betreiben also ge nau das Gegenteil von Ideologie, die bekanntlich zwei Haupt kennzeichen hat: eine hermetische Abschottung von Anschau ungen, Ideen und Vorhaben gegenüber jeglicher Kritik – und damit letztlich gegenüber der Wirklichkeit – und eine harte Durchsetzung dieser Anschauungen und Vorhaben von oben. Unsere Rolle ist auch nicht diejenige eines Trompeters für ei ne bestimmte Gruppe oder einen Verband.

Wir ermöglichen und suchen durch unsere Politik vielmehr den bestmöglichen Kompromiss zwischen verschiedenen In teressen – von nicht organisierten Bürgerinnen und Bürgern genauso wie von organisierten Verbänden. Ich glaube: Das Lob des Kompromisses muss wieder mehr Gewicht in unse rer Gesellschaft bekommen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Wir orientieren uns zugleich an der regulativen Idee des Ge meinwohls. Denn Demokratie ist mehr als der bloße Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Wenn wir immer nur unter schiedliche Interessen ausgleichen, kommen wir leicht auf ei ne schiefe Ebene. Deswegen muss die alte und sehr wichtige Figur des Gemeinwohls immer wieder in die Debatten hinein getragen werden. Dazu sind heute nicht nur die staatlichen, sondern alle Institutionen verpflichtet – auch die Wirtschaft, auch Verbände, auch die Bürgerschaft.

Dies stellt hohe Anforderungen an die Politik. Und dies stellt sehr hohe Anforderungen an die Verwaltung. Deswegen set zen wir auch neue Impulse.

Gemeinsam mit den Hochschulen für öffentliche Verwaltung in Kehl und in Ludwigsburg sowie mit der Führungsakade mie Baden-Württemberg haben wir ein Weiterbildungspro gramm entwickelt. Die ersten Seminare für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Kommunalverwaltungen, Regie rungspräsidien und Ministerien haben wir im letzten Jahr be reits durchgeführt; viele weitere werden nun folgen. Dadurch

fördern wir systematisch eine offene, ermöglichende Haltung der Verwaltung gegenüber der Bürgerschaft.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, verglichen mit der über 100-jährigen direktdemokratischen Tradition der Schweiz und der damit verbundenen systematischen Einbindung der Bür gerschaft in Entscheidungen stehen wir in Baden-Württem berg bei der Bürgerbeteiligung auf diesem Niveau und der di rekten Demokratie natürlich am Anfang. Das ist uns sehr be wusst, und deshalb werden wir die Bürgerbeteiligungsprojek te intensiv prüfen und evaluieren. So können wir täglich bes ser werden.

Obwohl wir noch am Beginn eines Lernprozesses stehen, bei dem notwendigerweise auch Fehler gemacht werden, wird un ser Weg von einer breiten Mehrheit der Bürgerinnen und Bür ger akzeptiert. Eine aktuelle Studie zeigt: Der überwiegende Teil der Menschen in Baden-Württemberg ist mit dem Funk tionieren der Demokratie in Baden-Württemberg zufrieden. Explizite Unzufriedenheit gibt es praktisch nicht.

Im Jahr 2012 waren über 50 % der Befragten der Meinung, dass sich die Entwicklung der Demokratie im Vergleich zu 2011 verbessert hat. Auch 2013 ist dieser Trend ungebrochen: 40 % sehen eine positive Entwicklung gegenüber dem Vor jahr.

Rund drei Viertel der Menschen in Baden-Württemberg stim men der Aussage zu, dass Volksabstimmungen ein gutes Mit tel sind, um wichtige politische Fragen zu entscheiden – mit deutlich steigender Tendenz. Ähnliches gilt für die Aussage, dass die Bürgerschaft über Wahlen hinaus an möglichst vie len politischen Entscheidungen direkt beteiligt werden soll.

Der Grund für diese hohen Zustimmungswerte ist aus meiner Sicht folgender: Letztlich vollziehen wir lediglich einen Wan del nach, der in der Bürgerschaft schon vor langer Zeit begon nen hat. Dass wir dabei in Baden-Württemberg nun so weit vorangehen, hat gute Gründe. Ob in Kirchen oder Vereinen aller Art, ob sportlich, sozial, kulturell oder ökologisch, in Bürgerinitiativen oder der Nachbarschaftshilfe, in Selbsthil fegruppen oder Genossenschaften, überall sind Menschen eh renamtlich aktiv. Nirgendwo engagieren sich die Bürgerinnen und Bürger so stark wie bei uns. Mit einer Quote von 41 % aller Bürgerinnen und Bürger liegen wir hierbei bundesweit auf Platz 1.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zuruf des Abg. Peter Hauk CDU)

Neben starken Kommunen und einem innovativen Mittelstand ist diese engagierte Bürgergesellschaft eine der Säulen, auf denen die Stärke unseres Landes beruht. Daher ist eines si cher: Die Kraft für den von uns angestoßenen Prozess ist in unserem Land im Übermaß vorhanden.

Ja, dieser Prozess ist manchmal auch anstrengend, und er kos tet zuweilen nicht gerade wenig Nerven. Insgesamt führt er aber unserer Demokratie neue Energie aus der Graswurzel zu und macht sie frischer und lebendiger. Daher ist meine heuti ge Regierungserklärung vor allem eines: ein Dank an die Bür gerinnen und Bürger unseres Landes.

Staat und Bürgergesellschaft, Staat und Markt, Markt und Bür gergesellschaft sind nicht nur ein Gegenüber. Staat, Markt und Bürgergesellschaft sind die Eckpunkte einer Beziehung, die wir immer wieder neu ordnen und justieren müssen; denn nur so bleiben wir ein lebendiges demokratisches Gemeinwesen.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei den Grünen und der SPD)

In der Aussprache erteile ich nach § 83 a Absatz 3 der Geschäftsordnung dem Kollegen Peter Hauk das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehr ten Damen und Herren! Herr Ministerpräsident, nach drei Jah ren Regierungszeit halten Sie heute eine Regierungserklärung mit dem Titel „Auf dem Weg zu mehr Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie in Baden-Württemberg“. Man kann fest stellen: Sie befinden sich in der Tat nur auf dem Weg. Sie ha ben noch nicht einmal die erste Raststation erreicht. Wir ha ben heute eigentlich Wegweisungen erwartet.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Oh-Rufe von den Grünen und der SPD)

Wir haben erwartet, dass bei der Regierungserklärung ein gro ßer Wurf kommt. Stattdessen preisen Sie einen Planungsleit faden der Landesregierung als das Gelbe vom Ei, mit dem ei ne neue Kultur heraufbeschworen werden soll.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer als selbster nannte Bürgerregierung startet, wer eine Staatsrätin für Bür gerbeteiligung einsetzt und wer anscheinend kein anderes Thema hat, sollte doch nach drei Jahren Erfolge verkünden und Wegweisungen für neue Aufbrüche geben, aber nicht stän dig nur über Wegbeschreibungen philosophieren.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE: Was ist denn Ihr Thema?)

Vieles – da haben Sie recht, Herr Ministerpräsident – ge schieht in unserem Land vor allem durch den großen Einsatz und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Über fünf Millionen Menschen in Baden-Württemberg beteiligen sich, bringen sich ein, engagieren sich ehrenamtlich. Das ist übri gens auch eine „Altlast“ der Vorgängerregierung.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Diese Menschen setzen sich ein, weil ihnen ihre Heimat und ihre Mitmenschen in unserem Land wichtig sind. Das macht Baden-Württemberg aus.

(Zurufe der Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE und Walter Heiler SPD)

Dafür sagen wir all denjenigen ein herzliches Dankeschön, die sich in diesem Land ehrenamtlich engagieren.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Dies zu erhalten, es weiterzuentwickeln, die Menschen wei ter zu motivieren, sich einzubringen, das muss das Ziel aller Parteien und aller Fraktionen hier im Landtag sein.

Herr Ministerpräsident, Sie haben zwei Komplexe angespro chen. Zum einen haben Sie das Thema „Direkte Demokratie“ angesprochen. Es muss allerdings festgehalten werden, dass im Unterschied zu den Regierungen in der Schweiz unsere Regierungen keine Allparteienregierungen sind, die dringend eines Korrektivs durch das Volk bedürfen. Vielmehr gibt es bei uns eine repräsentative parlamentarische Demokratie, bei der klar ist, dass sich ein Teil der Bürgergesellschaft dieses Landes in der Opposition widerspiegelt.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Zum anderen haben Sie das Thema „Bürgerbeteiligung bei Verfahren“ angesprochen. Es ist wahr und richtig – Ferdinand Kirchhof hat es bei unserer Jubiläumsveranstaltung anlässlich des 60. Jahrestags des Inkrafttretens der Landesverfassung auch gesagt –: Unsere repräsentative Demokratie ist mittler weile so stabil, dass sie partiell durch Elemente der direkten Demokratie ergänzt werden kann und ergänzt werden darf.

(Beifall bei der CDU – Zuruf von den Grünen: Muss!)

Auch ergänzt werden muss.

Es ist auch wahr, dass, nachdem in den Siebzigerjahren Ele mente der Bürgerbeteiligung und Elemente der Verbandsbe teiligung überall in die Landesverwaltungsverfahrensgesetze eingeflossen sind, diese nach 40 Jahren einer sukzessiven Re novierung bzw. Überholung bedürfen. Ich glaube, da sind wir alle einer Meinung.

(Abg. Daniel Andreas Lede Abal GRÜNE: Dafür hat es einen Regierungswechsel gebraucht! – Gegenrufe von der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was die direkte De mokratie angeht, haben wir im vergangenen Jahr gemeinsam einen guten Kompromiss zu mehr Bürgerbeteiligung gefun den. Ich sage aber auch: Dieser muss jetzt endlich umgesetzt werden.

(Staatssekretär Ingo Rust: Krokodilstränen!)

Wir wollen nicht noch jahrelang warten, bis er umgesetzt wird.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Wir wollen nicht noch jahrelang warten, sondern wir wollen endlich die Umsetzung sehen. Herr Ministerpräsident, Sie dro hen wieder einmal an den Kolleginnen und Kollegen der ei genen Fraktion und Ihrer Koalition zu scheitern. Jetzt wollen die Grünen ein Element aus diesem Paket herausgreifen und verändern.

Ich sage ganz klar: Wir haben ein Paket vereinbart. Zu diesem Paket stehen wir. Dieses Paket umfasst auch Änderungen der Landesverfassung mit dem Ziel mehr direkter Demokratie. Dieses Paket umfasst aber auch das Landtagswahlrecht. Sie