Protokoll der Sitzung vom 29.04.2020

(Vereinzelt Widerspruch)

Denn unser Grundgesetz sieht kein schrankenloses Grund recht vor. Unser Grundgesetz sieht vielmehr eine Systematik der Grundrechte vor, die in den Grundrechten, die jeder Mensch hat, auch Schranken sieht, die dadurch definiert werden, wel che Rechte andere Menschen haben.

Deswegen möchte ich dem, was Herr Kollege Reinhart aus geführt hat, zustimmen. Wer hier die Geschichte erzählt, es würden Grundrechte entzogen, der erzählt ein Märchen und versucht, diese Demokratie in die Nähe eines totalitären Sys tems zu rücken, und das, meine sehr geehrten Damen und Her ren, ist unverantwortlich in dieser Debatte, in der es um Men schenleben geht.

(Beifall)

Uns in Deutschland und auch in Baden-Württemberg ist es gelungen, die Verbreitungsrate spürbar zu senken, und zwar auf ein Niveau, auf dem unser zum Glück leistungsfähiges Gesundheitswesen eben nicht kollabiert, auf ein Niveau, auf dem jeder medizinische Hilfe erhält, der sie nötig hat. Ich stimme dem Ministerpräsidenten zu, dass man in unseren Kli niken eben nicht die Entscheidung treffen muss, wer ein Recht auf Leben hat und wer nicht. Das ist ein Erfolg, dessen Grö ße wir nur erahnen können.

Seien wir dafür dankbar, und hoffen wir, dass wir nie das Ge genteil werden erleben müssen.

All das hat Gründe. Die Politik und auch die Landesregierung in Baden-Württemberg haben rechtzeitig auf die Experten ge hört, sie haben rechtzeitig Maßnahmen ergriffen. Wir alle in diesem Land haben die notwendigen Regeln in einem über wältigenden Maß eingehalten. Ich möchte das an dieser Stel le betonen: Die Regel allein hätte in diesem Land nichts be wirkt, sondern vielmehr ist es so: Die Einsicht der Menschen

in diesem Land, dass diese Regeln richtig sind, das war der Grund dafür, dass wir heute dort stehen, wo wir stehen, und deswegen gilt es an alle Menschen in diesem Land ganz herz lich Danke zu sagen, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen.

(Beifall)

Herr Fraktionsvorsitzen der Stoch, lassen Sie eine Zwischenfrage der Frau Abg. Dr. Baum zu?

Nein, danke. – Die Fachleute war nen uns eben schon davor, dass die Infektionen schnell wie der an Dynamik gewinnen würden, wenn wir diese Einschrän kungen nicht beherzigten. Die Folgen wären – ich habe es ge sagt – furchtbar. Wenn keine Wunder geschehen, wird sich an diesem Zustand – das gehört eben zur Wahrheit dazu – auch auf längere Sicht nichts ändern. Natürlich können wir darauf hoffen, dass wir bald ein Medikament, bald einen Impfstoff haben werden, aber all das, was wir aus der Wissenschaft hö ren, sagt uns, dass wir da nicht auf bald hoffen können. Es wird hier nicht um Wochen gehen, es wird vielmehr um eini ge Monate gehen.

Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind wir heute an einem Punkt, den ich ganz besonders unterstreichen will: Was unser Land seit Wochen einschränkt, was unser öf fentliches Leben auf den Kopf stellt, was so viele Menschen gesundheitlich, wirtschaftlich, auch psychisch so stark her ausfordert, wird über längere Zeit die Regel in unserem Land sein. Darauf müssen wir reagieren, daran müssen wir uns an passen.

Deswegen sage ich: Wir müssen, wenn wir über die nächsten Wochen und Monate reden, offen und ehrlich mit den Men schen darüber reden, dass wir noch weit davon entfernt sind, Normalität zurückzugewinnen. Wer das suggeriert, sorgt da für, dass die Regeln, die wir alle gemeinsam gesetzt und auch beherzigt haben, nicht mehr akzeptiert werden. Wer eine sol che Debatte anstößt oder führt, meine sehr geehrten Damen und Herren, der muss sich des Risikos einer solchen Debatte auch bewusst sein, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen.

(Beifall)

Aber jetzt geht es darum, zu fragen: Wie machen wir weiter in dieser Krise? Wenn wir wissen, dass der Normalzustand nicht gegeben sein wird, dann müssen wir lernen, trotz des Vi rus zu arbeiten, und lernen, unsere Kinder zu betreuen und un sere Wirtschaft am Laufen zu halten, so gut es unter den Ein schränkungen, die dieses Ereignis mit sich bringt, eben geht. Wir haben in der ersten Etappe – ich habe es gesagt –, glaube ich, in Deutschland und in Baden-Württemberg richtig gehan delt. Nun müssen wir aber auch in der zweiten, in der nächs ten Etappe richtig handeln. Auch in allen weiteren Etappen, die folgen, müssen wir das ebenso.

Der Ministerpräsident hat sicher recht, wenn er betont, dass wir nicht damit rechnen dürfen, dass das Virus nach acht oder zwölf Wochen wieder aus der Welt ist. Leider hat er recht. Wir würden es uns anders wünschen.

Er hat recht, wenn er davor warnt, mit einem falsch verstan denen Optimismus und viel Sorglosigkeit zu meinen, es wür

de schon bald wieder wie früher. Danach sieht es überhaupt nicht aus. Aber wenn wir alle im Land uns darauf einstellen müssen, dass wir noch viele Monate mit der Pandemie leben müssen, dann gilt das eben für alle, und dann gilt es auch für die Regierung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dann muss von der Politik – und gerade auch von den Parlamenten, auch vom Landtag von Baden-Württemberg – eine Debatte ausgehen, die den Menschen auch Orientierung gibt, die ihnen Perspek tive gibt und die einen Plan erkennen lässt. Die Menschen draußen haben zu Recht die Erwartung an die Politik, dass wir abwägen, dass wir das Infektionsrisiko gegen die gesellschaft liche und wirtschaftliche Bedeutung von Tätigkeiten abwä gen und dass wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Das ist Politik, und, meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist vor allem Verantwortung von Politik, die die Menschen von uns erwarten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall)

Es ist richtig: Als wir erkannten, wie rasant und heftig sich Covid-19 in unserem Land auszubreiten begann, waren ra sches Handeln und ein schnelles Abdrehen aller unnötigen In fektionsrisiken geboten. Die Regierung hat das getan, die Po litik hat es getan und hatte und hat unsere Unterstützung da für.

Auch als es um erste Nothilfen ging, über die wir hier im Landtag diskutiert haben, haben wir entgegen den üblichen Spielregeln ganz schnell gesagt – auch die Oppositionsfrak tionen in diesem Haus, die Fraktion der SPD und die Frakti on der FDP/DVP –, dass wir gemeinsam den Menschen in die sem Land helfen müssen, um die schlimmen Folgen – sowohl die gesundheitlichen Folgen als auch die wirtschaftlichen Fol gen –, so weit es geht, abzumildern.

Das ist einige Wochen her, und je mehr diese Wochen verstri chen sind, desto mehr ist uns klar geworden, dass diese Pha se noch andauern wird. Aber genau darum müssen wir jetzt umdenken.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wurde hier schon von mehreren Vorrednern über das Thema Bildung gespro chen. Es war ganz bestimmt nicht falsch, den Unterricht an den Schulen und auch die Betreuung in den Kitas in der ge wohnten Form zu beenden, um tatsächlich das zu erreichen, was die Infektionskurve jetzt zeigt. Es war nicht falsch, weil einfach Eile geboten war. Es lagen die Warnungen der Exper ten vor, dass es so nicht weitergehen kann. Wir erleben in un serem Land im Moment viel Mut und Kreativität bei Men schen, die versuchen, das Schlimmste abzuwenden, vor allem auch wirtschaftlich das Schlimmste abzuwenden, aber mir macht es große Sorgen, dass Menschen hier in dieser Krise um ihre Existenzen gebracht werden. Denn diese Angst um die eigene Existenz ist ebenfalls eine Triebfeder für Kritik an politischen Entscheidungen und muss deswegen sehr ernst ge nommen werden.

Deswegen muss von der Politik auch das klare Signal ausge hen, dass wir diesen Menschen Orientierung geben. Ich möch te ganz klar sagen: Debatten über die Frage, ob und inwieweit Schritte möglich sind, müssen in einer freiheitlichen Demo kratie auch möglich sein. Sie dürfen halt nicht unter Grenz

überschreitungen geschehen wie z. B. die Aussage des grünen Oberbürgermeisters von Tübingen. Denn in dem Moment, in dem ich solche Aussagen treffe, diskreditiere ich einen Dis kurs darüber, inwieweit die Freiheitsrechte eingeschränkt wer den und inwieweit die Beeinträchtigung von Freiheitsrechten möglicherweise über das Ziel hinausschießt. Wer das tut, er weist uns damit einen Bärendienst.

(Beifall)

Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, reicht es nicht – ich kann diese Floskel übrigens auch nicht mehr so richtig hören – zu sagen, wir müssten auf Sicht fahren. Denn Auf-Sicht-Fahren klingt so ein bisschen wie Im-Nebel-Sto chern. Niemand kann in die Zukunft blicken, aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können heute bereits Abwägungen dahin gehend treffen, was die Frage des Infektionsrisikos verschiedener Betätigun gen angeht, wir können auch Abwägungen treffen, was den wirtschaftlichen Schaden angeht. Und wir müssen das auch tun. Deswegen – ich habe von einem Plan, von Planhaftigkeit, von Planung und Orientierung sowie Perspektive gesprochen – dürfen wir auch nicht so tun, als ob wir gar nichts sagen könnten. Wir müssen vor allem auch darauf achten, dass die Bundesländer in Deutschland einigermaßen einheitlich han deln.

Herr Kollege Reinhart, ich gebe Ihnen recht: Wir haben in Deutschland unterschiedliche Situationen, was das Infektions geschehen angeht. Deswegen ist es gut, dass wir in unserem föderalen System auch die Möglichkeit haben, unterschied lich zu reagieren. Aber ich glaube, es dient nicht der Akzep tanz der Regelungen und der Einschränkungen, wenn ein Tref fen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin und der Bun desregierung stattfindet und noch am gleichen Tag die dort ge troffenen Regelungen von unterschiedlichen Personen unter schiedlich – und zwar teilweise gegen den Wortsinn – ausge legt werden. Der eine macht Möbelhäuser auf, der andere macht Zoos auf.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Akzeptanz der Einschränkungen, die wir den Menschen in diesem Land zu muten – ich glaube, auch zumuten müssen –, steht und fällt damit, dass die Menschen verstehen, dass diese Maßnahmen richtig sind. Sie verstehen es umso weniger, als Widersprüche auftreten, und zwar Widersprüche zwischen den Bundeslän dern, aber auch Widersprüche innerhalb einer Landesregie rung, beispielsweise dann, wenn wir sagen: „Wir wollen kei ne Ausgangssperre, sondern wollen nur moderate Kontaktbe schränkungen“, aber Frau Eisenmann als Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg und Spitzenkandidatin der CDU das Wort „Ausgangssperre“ in den Mund nimmt. Das beför dert nicht die Akzeptanz von Regelungen bei den Menschen in diesem Land, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall)

Deswegen glaube ich, dass wir jetzt konkret planen müssen. Das gilt für die Regierung, das gilt aber auch für den Diskurs, der hier im Parlament und in der Gesellschaft stattfindet.

Herr Abg. Stoch, Ihr Kol lege Stickelberger würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Herr Stickelberger?

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Man muss sie nicht zulassen! – Weitere Zurufe)

Ich habe sie auch nicht zugelassen.

(Vereinzelt Heiterkeit – Unruhe)

Herr Kollege Stoch, Sie sprechen in Ihrer Rede die wesentlichen Gesichtspunkte an, die in dieser Debatte eine Rolle spielen müssen. Wie empfin den Sie es, nachdem auch der Herr Ministerpräsident den Raum verlässt,

(Zuruf: Der kommt wieder!)

dass weder die Kultusministerin noch die Wirtschaftsminis terin noch der Innenminister noch der Gesundheitsminister anwesend sind – immerhin der Herr Landwirtschaftsminister ist anwesend –,

(Vereinzelt Beifall)

vor dem Hintergrund der wichtigen Debatte, die wir heute füh ren?

(Beifall)

Herr Kollege Stickelberger, ich glaube, die Frage beantwortet sich nahezu von selbst. Denn nach sechs Wochen Plenarpause und einer Phase, in der die Diskussionen in all den Fachbereichen, die diese Minister ver treten, ja extrem wichtig sind, scheint es so zu sein, dass ein zelne Regierungsmitglieder nicht in erheblichem Maß daran interessiert sind, zu erfahren, was Parlamentarier dazu sagen.

(Vereinzelt Beifall)

Denn es reicht eben nicht, nur den Regierungsfraktionen, und schon gar nicht, nur der AfD zuzuhören, sondern ich glaube, es wäre richtig und wichtig, wenn man den Oppositionsfrak tionen, die zu diesem Thema etwas zu sagen haben, auch zu hören würde, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall – Zurufe – Unruhe)

Deswegen möchte ich an das anknüpfen, was ich vorhin ge sagt habe. Ich glaube,

(Zurufe)

da drehen wir die Hand jetzt nicht rum. Es ist so, dass wir uns in der jetzigen Situation eben nicht allein darauf beschränken können, den Menschen immer wieder zu sagen, was alles nicht geht, und es reicht auch nicht, wenn wir, gerade was den Be reich Bildung angeht, einfach sagen: Ja, wir müssen jetzt ein fach mal warten, was passiert.

Ich kann Ihnen sagen, was passiert: Wenn wir voraussetzen, dass Schulen und andere Bildungseinrichtungen erst dann öff nen können, wenn wir gesundheitliche Risiken ausschließen können, dann haben wir ein halbes Jahr, Dreivierteljahr oder Jahr gar keine Bildung mehr in diesem Land. Also stellt sich aus meiner Sicht diese Frage so nicht. Wir müssen doch viel mehr fragen – und eigentlich hätte ich diese Frage an dem Tag