Protokoll der Sitzung vom 29.04.2020

Schon aus diesem Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss dieser Landtag genauso wie der Deutsche Bundestag die wesentlichen Regelungen selbst treffen und darf sie nicht in die Verantwortung einer Regierung abschieben.

(Beifall)

Verstehen Sie es bitte richtig: Wir haben, als wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen von Grünen, CDU und FDP/DVP dieses erste Hilfspaket geschnürt haben, den Parlamentarismus nicht abgeschaltet. Wer so et was behauptet, wird diesem Parlament und den anderen Par lamenten nicht gerecht. Wir haben vielmehr durch unsere Be schlüsse, die wir gefasst haben, die Funktionsfähigkeit des Landtags geradezu bestätigt. Als schnelle Hilfe nötig war, sind wir über unseren Schatten gesprungen und haben schnelles Handeln ermöglicht. Im Gegenzug haben wir nicht weniger Kommunikation erwartet, sondern mehr. Wir haben erwartet, dass man uns nicht weniger, sondern mehr um Rat fragt als sonst.

Ein Satz blieb mir im Ohr, der im März von einem Mitglied der Regierungsfraktionen gefallen ist. Er lautet: „So wichtig sind wir doch nicht.“

(Zurufe: Wer war das?)

Dieser Satz tut richtig weh, wenn man nämlich weiß, wie die Verfassungsordnung die Rolle der Landesparlamente und des Deutschen Bundestags definiert. Ich möchte, dass wir, dass alle Fraktionen des Landtags von Baden-Württemberg einen solchen Satz nie wieder sagen und auch nicht denken.

(Beifall)

Dieser Landtag muss die Bühne sein, auf der diese Diskussi on geführt wird.

Ich sage es: Wir haben, was die Kommunikation angeht, ver glichen mit dem Anfang dieser Krise, eine Verbesserung er lebt. Ich danke dem Ministerpräsidenten noch einmal für sei nen Besuch in der Fraktion der SPD am gestrigen Tag, und ich danke Frau Staatsministerin Schopper, die immer für Fra gen zur Verfügung steht. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle gen, wenn wir diese Rechtsfragen irgendwann von einem Ge richt zu entscheiden haben, dann wird nicht die Frage ent scheidend sein, ob uns der Ministerpräsident in der Fraktion besucht hat, sondern es wird entscheidend sein, ob dieser Landtag seiner Rolle gerecht wurde und ob der Deutsche Bun destag seiner Rolle gerecht wurde.

Deswegen hebe ich an dieser Stelle mahnend den Finger: Wenn wir das wissen, was ich eingangs gesagt habe, nämlich dass wir noch mehrere Monate in dieser Situation sein wer den, dann heißt das etwas für die Rolle dieses Landtags von Baden-Württemberg. Die Leute haben sich in diesem Land – auch das habe ich vorhin bereits gesagt – an die Regeln ge

halten, und zwar nicht, weil es diese Regeln nun einmal gibt, sondern deshalb, weil sie die Sinnhaftigkeit der Regeln ver standen haben, weil Mediziner diese erklärt haben und weil man verstanden hat, warum man etwas tun muss, was viel leicht im persönlichen Bereich Einschränkungen mit sich bringt.

Aber wir kommen jetzt in eine Phase, in der die Medizin ei nen Schritt zurücktritt. Ich hätte es ohnehin für schwierig ge halten, wenn wir uns in Richtung einer „Expertokratie“ be wegt hätten. Der Rat der Wissenschaft ist weiterhin ein wich tiger Rat. Aber wir werden nicht 1 : 1 die Meinungen von Wis senschaftlern in die Politik übertragen können; denn Politik bedeutet, Rat aufzunehmen, darüber in politische Abwägungs prozesse einzutreten und daraus dann die richtigen Entschei dungen zu treffen.

Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, müssen wir in der Phase, in der wir jetzt sind, wieder zur Verantwor tung kommen, und zwar zur Verantwortung von uns allen, auch hier in diesem Parlament.

(Vereinzelt Beifall)

Wir brauchen jetzt endlich wieder eine Debatte über Richtig und Falsch, die natürlich faktengeleitet sein muss und nicht kontra- oder postfaktisch sein darf. Die überwiegende Mehr heit der Menschen in diesem Land hat sich bislang jedoch vor bildlich verhalten, und zwar nicht aus einem Kasernenhofge horsam heraus, sondern aus Einsicht – und diese Einsicht er wächst aus Verständnis. Aber ein solches Verständnis kann ich nur für etwas aufbringen, was mir erläutert und erklärt wird und nicht per Verordnung vom Himmel fällt.

(Vereinzelt Beifall)

Deswegen stört es mich ungeheuer, wenn Diskussionen und der Austausch von Argumenten und ein sachlicher Streit über den richtigen Weg tabuisiert werden sollen. Das wäre grund falsch. Wir brauchen diese Debatte in der Gesellschaft; denn die Menschen haben ein Recht darauf, dass wir begründen, was wir tun, und klarmachen, dass wir es tun, liebe Kollegin nen und Kollegen.

(Beifall)

Wir müssen, was die Gesundheit der Bevölkerung angeht, die se Einschränkungen wahrscheinlich noch eine ganze Weile er dulden. Aber die Gesundheit unserer Demokratie erhalten wir eben nur dadurch, dass wir sie nicht einschränken, sondern in dem dieses Parlament so weit wie irgend möglich in der Wei se arbeitet, wie es vorgesehen ist, indem wir nicht auf Aus schuss- und Plenarsitzungen verzichten, indem wir sicherstel len, dass alle Regeln auf sicherem Boden stehen. Das muss gerade jetzt gelten; denn wir erleben Zeiten, in denen Regeln weit heftiger in den Alltag aller einschneiden als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.

Ich möchte es ganz klar sagen: Ich möchte nicht, dass uns Ge richte darauf hinweisen, was die Rolle dieses Landtags ist, sondern ich möchte, dass wir das selbst einfordern.

Noch einmal: Die Menschen in diesem Land haben der Poli tik viel Vertrauen geschenkt und haben aus eigener Einsicht einen Großteil von dem geleistet, was wir heute im Kampf ge

gen das Virus vorzeigen können. Deswegen haben sie auch das Vertrauen der Regierung verdient. Sie haben es verdient, dass transparent debattiert wird. Die Regierung darf nicht kommandieren, sondern sie muss argumentieren. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Eben weil uns das Corona virus noch lange beschäftigen wird, werden wir auch in den nächsten Monaten noch intensiv über den richtigen Weg de battieren.

Auch wir werden dabei feststellen, dass wir nicht immer zu den richtigen Ergebnissen kommen. Auch wir werden erken nen, dass wir Entscheidungen korrigieren, dass wir den Kurs auch neu justieren müssen. Aber ich glaube, dass es richtig ist, einen offenen Diskurs hier im Haus wie auch in der Ge sellschaft zu führen; denn nur dann werden wir die Basis für dieses Befolgen von Regeln haben. Es geht darum, dass Men schen die Sinnhaftigkeit erkennen.

Baden-Württemberg wird – ich bin davon überzeugt – auf grund der Bereitschaft der Menschen, diesen Weg mitzuge hen, gestärkt aus der Krise hervorgehen. Wir müssen uns über den Weg nach der Krise und aus der Krise hier im Haus ganz erheblich und lang unterhalten. Wir werden die richtigen Ent scheidungen treffen müssen, die unsere Wirtschaft betreffen. Denn die verschiedenen Transformationsprozesse sind jetzt nicht ausgeschaltet. Der Transformationsprozess – sei es Di gitalisierung, sei es die Frage des Antriebs in Fahrzeugen – wird nicht zum Stillstand kommen.

Deswegen müssen Fragen wie beispielsweise die Frage, die Sie, Herr Ministerpräsident, mit dem Kollegen Weil und dem Kollegen Söder erörtern, auch unter dem Eindruck dessen dis kutiert werden, was richtig ist, um die richtigen Impulse zu setzen, aber gleichzeitig auch die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Ich halte es für verkürzt, wenn man sagt: Wir brauchen jetzt blind irgendwelche Kaufprämien für Autos, sei es, was es will, egal, welches Fahrzeug es ist. Wenn wir etwas erreichen wollen, was auch dem Thema Klima schutz dient, und wenn wir gleichzeitig Arbeitsplätze in Ba den-Württemberg und in Deutschland erhalten wollen, dann müssen wir auch strategisch die richtigen Entscheidungen tref fen.

Herr Ministerpräsident, ich wünsche Ihnen für diese Gesprä che alles Gute. Mit dem Kollegen Weil habe ich mich dieser Tage zu dem Thema ausgetauscht. Ich glaube, es ist wichtig, die wirtschaftspolitische Verantwortung in unseren Bundes ländern auch über die Krise hinaus wahrzunehmen, die Ar beitsplätze in diesem Land zu erhalten und gleichzeitig auch strategisch die richtigen Entscheidungen zu treffen – die uns später nicht auf die Füße fallen, liebe Kolleginnen und Kol legen.

(Beifall)

Lassen Sie mich abschließend noch einen kurzen Satz zur Rol le des Staates sagen. Ich weiß, dass hier in diesem Haus und in unserer gesellschaftlichen Debatte gerade in den letzten Jahren der Staat oftmals so ein bisschen als lästiges Übel be zeichnet wurde – der Staat sei ja etwas, was uns eher aufhält in unserem Streben nach vorn. Ich glaube, viele von denen, die das in den letzten Monaten oder Jahren vor der Corona pandemie vertreten haben, waren mit die ersten, die jetzt ganz laut nach staatlicher Hilfe gerufen haben.

Ich hoffe, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir, die Gesellschaft, in dieser Pandemie auch einen Lernprozess erreichen, einen Lernprozess und einen Zugewinn an Wissen und Überzeugung, der uns zeigt, dass gerade ein handlungs fähiger Staat ein extrem wichtiges Instrument ist, um eine Ge sellschaft zusammenzuhalten, und zwar nicht nur, was die ge sellschaftlichen Fragen und die rechtlichen Fragen, sondern gerade auch, was die wirtschaftlichen Fragen angeht.

Ich stimme Ihnen, Herr Kollege Reinhart und auch Herr Kol lege Schwarz, komplett zu, dass bei einem Investitionspro gramm, das natürlich durch staatliche Mittel finanziert oder zumindest kofinanziert werden muss, eine der Schlüsselfra gen sein wird: Wie setzen wir diese Mittel, die nicht unbe schränkt vorhanden sind, richtig ein?

Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, glaube ich, dass wir in der Zukunft diesen handlungsfähigen Staat nicht kleinreden und schlechtreden sollten, sondern dass wir diesen handlungsfähigen Staat, der uns die Möglichkeit gibt, gut durch eine Krise zu kommen, in Zukunft auch als einen Wert zu betrachten haben. Ich glaube, dass wir dann nicht nur medizinisch, sondern auch politisch mehr als nur einen Etap pensieg erreichen.

Es muss weitergehen in diesem Land. Normalisierung ist nicht nur im Alltag, sondern auch in der Politik nötig.

Die Kreativität, die wir überall im Land erleben, um trotz der nötigen Einschränkungen irgendwann weitermachen zu kön nen, ist jetzt auch in diesem Haus gefragt und ist auch bei der Regierung gefragt. Die Menschen in diesem Land machen uns im Kleinen vor, was wir im Großen leisten müssen. Die Men schen in diesem Land erwarten nicht, dass die Regierung oder die Politik sie von heute auf morgen aus dieser Krise führen – das ist unrealistisch –, sie erwarten von uns keine Hexerei. Sie erwarten aber – das dürfen sie erwarten – eine Perspekti ve, einen Plan, eine Strategie: Welcher Schritt bedingt den nächsten, welcher Teilerfolg macht den nächsten Teilerfolg möglich? Dieses Minimum an Absehbarkeit, dieses Minimum an Planbarkeit muss machbar sein. Andernfalls passiert beim Miteinander von Bevölkerung und Regierung das, was wir auch beim Kampf um unsere Gesundheit um jeden Preis ver meiden müssen: Wir setzen aufs Spiel, was wir bisher erreicht haben.

Daher gilt: Raus aus der Schockstarre, ran ans Regieren. Es wird höchste Zeit.

Herzlich Dank, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall)

Herr Abg. Dr. Rülke, Sie als Fraktionsvorsitzender der FDP/DVP-Fraktion haben das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben – es wurde von einigen Vorrednern schon erwähnt, Herr Ministerpräsident – zu Beginn dieser Krise den Schulterschluss der demokrati schen Kräfte in diesem Parlament vollzogen, um auf eine Pan demie sachgerecht im Interesse unseres Landes und seiner Menschen zu reagieren. Diese Einigkeit war begründet – oh

ne Zweifel. Denn es war zu Beginn dieser Pandemie nicht er kennbar, in welchem Ausmaß sie uns heimsuchen würde.

Wir hatten ja relativ früh Beispiele dafür, was dieses Virus an richten kann – Italien, um nur eines dieser Beispiele zu nen nen. Deshalb war es richtig, die geeigneten Maßnahmen zu vollziehen, und deshalb haben wir sehr schnell inhaltliche Dif ferenzen und möglicherweise auch den verfassungsgemäßen Auftrag der Opposition, Regierungsvorschläge kritisch zu hin terfragen, hintangestellt und diesen Schulterschluss vollzo gen.

Denn ein Argument, meine Damen und Herren, war gewiss unschlagbar und muss im Grunde jeden politisch Verantwort lichen unzweifelhaft überzeugen, nämlich die ethische Ver pflichtung, zu vermeiden, dass das Gesundheitssystem über seine Möglichkeiten hinauskommt und am Ende Ärzte ent scheiden müssen, wen sie noch behandeln und wen sie ster ben lassen – Stichwort Triage; Sie haben das in Ihrer Regie rungserklärung erwähnt.

Das war im Moment der ersten Entscheidungen nicht abseh bar. Deshalb war es in der Tat alternativlos, zu dramatischen Entscheidungen zu kommen. Diese dramatischen Entschei dungen müssen aber immer wieder hinterfragt werden, und sie müssen immer wieder neu begründet werden. Es genügt nicht zu sagen: Wir haben diese Entscheidungen zu einem ge wissen Zeitpunkt getroffen, und deshalb gelten sie quasi un beschränkt fort.

Klar ist auch, meine Damen und Herren, dass der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier recht hat, wenn er sagt: Diejenigen, die Freiheitsrechte ein schränken, sind begründungspflichtig, nicht diejenigen, die sie fordern.

(Beifall)

Deshalb ist es auch unangemessen, wenn manche im Land un terwegs sind mit Denkverboten, wenn beispielsweise die Kanz lerin von „Öffnungsdiskussionsorgien“ spricht und damit ver sucht, eine Diskussion abzuwürgen. Ähnlich ist auch Herr Söder unterwegs. Sie, Herr Ministerpräsident, orientieren sich ja ziemlich eng sowohl an der Kanzlerin als auch an Herrn Söder. Wir haben gehört vom Klub der Umsichtigen, der da gegründet wurde. Wir werden noch sehen, ob da immer so große Umsicht herrscht. Eines ist jedenfalls nicht umsichtig: Denkverbote sind nicht umsichtig, sondern diese Diskussion muss immer wieder neu geführt werden.

(Beifall)

Begriffe, die sich zum Teil auch in Ihrer Regierungserklärung finden – „dünnstes Eis“, „Wir sind ganz am Anfang der Pan demie“ –, haben ja letztlich auch das Ziel, deutlich zu machen: Die Politik vom März – also dem mit ä –, die über den April hinweg in den Mai fortgesetzt wird, sei alternativlos. Das ist schon zu hinterfragen.

Denn eines ist klar: Ich teile – ich gebe da meinen Vorrednern recht – die gestrigen Äußerungen des Tübinger Oberbürger meisters nicht. Klar ist natürlich, dass man nicht das Alter von Menschen gegen ihren Lebenswert aufrechnen kann. Klar ist auch, dass es mit dem christlichen Menschenbild und der Ver antwortung von Politik nicht vereinbar ist, über Menschen zu

sagen: Die braucht man eigentlich nicht mehr zu behandeln, die sterben sowieso bald.

Aber an einer Stelle hat er recht, nämlich als er gesagt hat – – Das ist ja von dem anderen Satz überdeckt worden.

(Minister Franz Untersteller: Das ist das Problem!)