Protokoll der Sitzung vom 20.05.2020

Es ist natürlich jetzt schon klar: Hinterher werden wir wissen, was wir falsch gemacht haben. Wir werden auch wissen, was wir hätten anders machen können und ob wir besser, schnel

ler oder langsamer hätten vorgehen sollen. Aber das nützt in der Krise selbst nichts. Da muss man einen Kompass haben und handeln. Das haben wir gemacht. Natürlich werden im Nachhinein die kommen, die alles schon immer besser ge wusst haben – die aber sehr leise waren, als es darauf ankam. Auch das werden wir zu verkraften haben.

Was wir weiter brauchen, ist der Bürgersinn – den wir erfah ren haben –, falls uns eine zweite Welle trifft, aber auch, wenn es darum geht, die großen Herausforderungen zu bewältigen, die die Krise im Nachgang schafft. Ich verweise aber auch auf die Klimakrise, die hinter dieser Pandemie ja nicht verschwun den ist.

Sehr geehrte Damen und Herren, dass man nicht nur an sich, sondern auch an andere denkt, das ist gelebter gesellschaftli cher Zusammenhalt. Deswegen werden wir in Deutschland und Baden-Württemberg in der ganzen Welt um den Umgang mit der Krise beneidet. Viele schauen auf uns. Die „New York Times“ spricht von der „deutschen Ausnahme“, der „Econo mist“ nennt uns „Klassenbester in der Covid-Klasse“, und das „Wall Street Journal“ bezeichnet die Bundesländer als die un besungenen Helden in diesem Kampf gegen Corona. Interna tionale Studien bescheinigen uns – ich zitiere einige Stichwor te – ein hohes Maß an politischer Leistungsfähigkeit, sozia lem Zusammenhalt und guter Gesundheitsversorgung sowie eine geringe finanzielle Verwundbarkeit. Diesen Blick von au ßen auf uns dürfen wir doch mit Freude zur Kenntnis nehmen. Das ist uns ein Ansporn; es ist aber auch ein Beleg dafür, dass im Grunde der Weg richtig ist.

Bleiben Sie gesund.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, nachdem Herr Ministerpräsident Kretschmann das Wort er griffen hat, löst dies nach § 82 Absatz 4 unserer Geschäftsord nung die sogenannte Fraktionsvorsitzendenrunde aus.

Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort Herrn Fraktions vorsitzenden Stoch.

Frau Präsidentin, liebe Kollegin nen und liebe Kollegen! Bei der Rede des Ministerpräsiden ten wurde mir leider sehr deutlich, dass er bei der Betrachtung der Notwendigkeiten, die aktuell bestehen, nicht in der Lage war, zu differenzieren.

Ich habe vorhin – das ist gerade eine Dreiviertelstunde her – in meiner Rede ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht darum geht, sich hier hinzustellen und besserwisserisch zu sa gen: Alles ist schlecht, alles war falsch. Vielmehr habe ich aus drücklich zurückgeblickt auf den Beginn der Coronapande mie, als auf politischer Ebene Handlungsnotwendigkeit er kannt wurde. Damals haben wir gemeinsam gesagt: „Jetzt muss es schnell gehen. Jetzt müssen wir alle alles dafür tun, Menschenleben zu retten und eine Überlastung unseres Ge sundheitssystems zu verhindern.“ Das habe ich ausdrücklich gesagt und überhaupt nicht in Abrede gestellt.

Ein Satz, den Sie gesagt haben, macht mir jedoch Angst, näm lich der Satz, einen „ordentlichen Krisenmodus“ könne es be grifflich gar nicht geben. Wenn Sie das ernst meinen und das nächste halbe Jahr oder Dreivierteljahr als Phase der Krise be

zeichnen, dann habe ich Angst um unser Land. Das wäre näm lich ein Freibrief für weiteres Herumstümpern an diesem Land.

(Beifall)

Es geht überhaupt nicht um die Frage, ob am Anfang das Rich tige getan wurde. Das Infektionsschutzgesetz, auf das Sie sich auch bezogen haben – Sie haben auch die Frage nach der Not wendigkeit für ein parlamentarisches Gesetz angesprochen –, ist gar nicht das Problem, das vom Kollegen Rülke und mir vorhin hier an diesem Pult angesprochen wurde, sondern die Frage, wie man auf der Basis der aktuellen Situation handeln muss. Wir haben ja eine Erkenntnislage, und diese verändert sich im Moment nicht stündlich. Wir haben eine Annahme, und auf diese Annahme müssen wir unser politisches Handeln stützen.

Was wir von Ihnen einfordern, ist nicht, uns zu sagen, wie die Situation in drei Monaten oder sechs Monaten, was die Infek tionslage angeht, sein wird; das kann niemand. Aber auf der Basis der uns jetzt vorliegenden Erkenntnisse, der Erkennt nisse der vergangenen Wochen und einer daraus zu erstellen den Prognose, was die Frage der Infektionsgefahr angeht, er warten wir von dieser Landesregierung einen Plan, erwarten wir eine Strategie für die Bürgerinnen und Bürger, die erken nen lässt: Die Landesregierung weiß, dass diese Pandemie nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in anderer Hin sicht schwerwiegende Folgen hat, und diese Folgen sollten so gering wie möglich gehalten werden. Das lassen Ihre Äuße rungen derzeit jedoch nicht erkennen.

(Beifall)

Jetzt noch mal zurück zum Thema Infektionsschutzgesetz. Na türlich ist auf bundesgesetzlicher Ebene zu berücksichtigen, dass Eilbedürftigkeit besteht. Deswegen ist die Verweisungs norm in den §§ 28 und 32 auf die Landesregierungen, und zwar durch Rechtsverordnungen, gemünzt. Das ist nachvoll ziehbar. Das heißt aber nicht, dass man – angenommen, die ses Virus wäre über Jahre da – über Jahre sagen kann: „Wir sind im Krisenmodus, wir müssen immer ganz vorsichtig pla nen, und wir können immer nur ganz kurzfristig den Men schen sagen, was als Nächstes passiert.“ Vielmehr müssen wir fragen: Welche Maßnahmen können wir verordnen, und was ist ein verantwortbarer Vorlauf, um Entscheidungen zu tref fen, die in die Zukunft hinein wirken?

Herr Ministerpräsident, diese Fähigkeit zur Erstellung von sta bilen Prognosen auf der Basis der Erkenntnislage erkennen wir hier im Parlament nicht, erkennen auch die Menschen draußen im Land nicht. Ich sage Ihnen, was das Gefährliche daran ist: Die Widersprüche, die daraus in der Wahrnehmung der Menschen entstehen, lassen die Akzeptanz für Einschrän kungen schwinden. Das führt dazu, dass immer mehr Men schen zu Demonstrationen gehen. Deswegen sind wir doch alle gehalten, dafür zu sorgen, dass die Menschen nachvoll ziehen können, was die politischen Entscheidungen sind, mei ne sehr geehrten Damen und Herren.

Deswegen müssen wir – das fällt uns allen schwer – politisch im Hinblick auf eine Zukunft agieren, die wir nicht vorherse hen können, zu der wir aber eine Prognose stellen müssen, und zwar möglichst auf der Basis einer wissenschaftlichen Er

kenntnislage. Da kann man nicht so tun, als würde die Verant wortung den Wissenschaftlern in die Hände gelegt, und kann nicht einfach wie das Kaninchen auf die Schlange schauen und abwarten, was einem der Wissenschaftler Abend für Abend sagt, um dann möglicherweise zusammenzuzucken und zu sa gen: Jetzt müssten wir ganz schnell dies oder jenes tun.

Im Übrigen war dies in den letzten Wochen gar nicht der Fall. In den letzten Wochen – wir erinnern uns; das wurde hier auch schon thematisiert – war es zuerst der „Peak“ zu Ostern. Ich sage nicht, dass es Grund gegeben hätte, dies nicht anzuneh men. Aber es hat sich nicht erfüllt.

(Zuruf: Gott sei Dank!)

Ich bin ja froh, und wir alle sind sehr froh darüber, und wir stellen die Maßnahmen überhaupt nicht infrage. Das habe ich nie getan.

Aber in der Folge ging es nicht mehr um die Verdopplungs zahl, die am Anfang hochgehalten wurde. Es ging um die Re produktionszahl. Diese Reproduktionszahl ist trotz zwischen zeitlich erfolgter Öffnungsschritte einigermaßen stabil. Des wegen entsteht doch draußen eine Erwartungshaltung. Dabei wird nicht gesagt: „Macht jetzt alles auf“, sondern es wird ge sagt: „Macht ein rational nachvollziehbares und in sich nicht widersprüchliches Konzept für die weitere Öffnung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft.“

Wenn wir das nicht schaffen, Herr Ministerpräsident, dann ge fährden wir die Akzeptanz dieser Regelungen. Dann möchte ich mir nicht vorstellen, was in einer zweiten Welle der Pan demie passiert. Wir müssen den Menschen Nachvollziehbar keit, Widerspruchsfreiheit gewährleisten. Das erwarten wir von dieser Landesregierung hier in Baden-Württemberg.

(Beifall)

Zur Frage des Gegeneinanders: Mit Verlaub, ich glaube, bei einer Regierung von unterschiedlichen Partnern stellt doch niemand in Abrede, dass es auch mal Streit gibt. Es gibt so gar Länder, in denen eine einzelne Partei an der Regierung ist und wo es genauso Streit gibt.

(Zuruf)

Das hat die CDU geschafft, das hat die CSU geschafft. Das bekommt man alles hin.

Aber wenn eine Krisensituation entsteht – wir haben hier im Parlament dabei Einigkeit signalisiert, weil die Einigkeit nach außen auch die Überzeugung signalisiert, dass der Weg rich tig ist –, dann ist Uneinigkeit etwas, was die Akzeptanz der Maßnahmen gefährdet.

Jetzt führe ich mir einmal das vor Augen, was 2015 hier im Land gegeben war, Thema Zuwanderungswelle. Wenn ich mir dann einmal vorstelle, Innenminister Reinhold Gall hätte öf fentlich über die Medien oder über Facebook dem Minister präsidenten Ratschläge gegeben – mit Verlaub, das hätten Sie an dieser Stelle nicht als Normalität bezeichnet. Deswegen glaube ich, dass wir alle – egal, ob das im Landtag ist oder auch innerhalb der Rollenverteilung von Regierungsfraktio nen und Oppositionsfraktionen – gerade in einer solchen Kri senzeit eine riesengroße Verantwortung haben.

Ich sage: Das, was ich an vielen Stellen bei dieser Regierung wahrnehme, hat nichts mit Verantwortung zu tun, sondern hat damit zu tun, dass man sich gegeneinander profilieren will, weil man den Wahlkampf heraufziehen sieht. Das gefährdet die Akzeptanz der Maßnahmen in diesem Land, und das bringt Vertrauen in Politik in Verruf, meine sehr geehrten Damen und Herren. So darf die Landesregierung nicht agieren.

(Beifall)

Herr Ministerpräsident, auch die wirtschaftlichen Hilfen ha ben wir hier mit auf den Weg gebracht. Was die Frage der Handlungsfähigkeit angeht, hat, glaube ich, jeder bei dem Pa ket, das wir hier im März beschlossen haben, den Ernst der Lage bezüglich der möglichen Folgen der Pandemie erkannt. Aber wir müssen doch eines sagen: Die Hilfspakete, die jetzt geschnürt werden, sind keine Maßnahmen, die dem Krisen modus – ich zitiere Sie noch einmal – unterliegen sollten. Da muss es schnell gehen; das ist völlig richtig. Aber auch ein Landtag ist schnell handlungs- und entscheidungsfähig.

Deswegen möchte ich mit Blick auf diesen großen Topf von 5 Milliarden € an Kreditermächtigungen, Rücklagen usw. – insgesamt ist es ein Betrag von gut 8 Milliarden € – noch ein mal deutlich sagen: Dass dann quasi nur Ergebnisse verkün det werden – heute Mittag in der Mittagspause unter Einbe ziehung der Regierungsfraktionen –, ersetzt, mit Verlaub, nicht das Votum des gesamten Parlaments.

(Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU: Aber fast!)

Nein, definitiv nicht. Das gilt vor allem bezüglich Ihrer Rol le nicht – wenn Sie den Vergleich zum Kollegen Schmiedel gehört haben, Herr Kollege Reinhart.

(Vereinzelt Beifall – Abg. Reinhold Gall SPD: Das ist schon ein unfreundlicher Akt, nur nebenbei be merkt!)

Es geht darum – das habe ich von dieser Stelle aus in der Ver gangenheit mehrfach gesagt –, dass wir die Frage, wie wir aus dieser Krise herauskommen, wie wir die Folgen der Krise bestmöglich überwinden können, vor allem in haushaltspoli tischen Fragen, hier im Parlament diskutieren sollten und dass nicht am Rande einer Plenarsitzung Ergebnisse in einer Pres sekonferenz verkündet werden. Das ist für mich ebenfalls – wie schon die Ereignisse vor zwei Wochen – mangelnder Re spekt vor diesem Parlament, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall – Zurufe, u. a.: Das ist hier doch besprochen worden!)

Deswegen möchte ich noch einmal auf den Vorstoß der CDU zurückkommen. Die Frage nämlich, ob wir über einen langen Zeitraum die Eingriffe in Rechte von Menschen nur auf der Basis von Verordnungen legitimieren können, sollten wir uns sehr, sehr dringend genau anschauen. Die Frage, was passiert, wenn das Kartenhaus irgendwann in sich zusammenfällt, ha be ich unter Verweis auf den Beschluss des VGH Mannheim hier auch schon angesprochen. Wenn bereits Gerichte in Ba den-Württemberg Zweifel äußern, ob die Legitimationskette Infektionsschutzgesetz/Rechtsverordnung der Landesregie rung ausreicht, um so schwerwiegende und auch dauerhaft wirksame Eingriffe in die Freiheits- und Grundrechte zu recht

fertigen, dann erwarte ich mir von der Landesregierung mehr als einen Vorstoß, der erkennbar nur aus der CDU-Fraktion kommt.

Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn der VGH Mannheim an die ser Stelle anspricht, dass das Demokratiegebot und das Rechts staatsprinzip durch eine solche Vorgehensweise möglicher weise berührt oder verletzt sind, dann muss sich der Bundes gesetzgeber überlegen, ob er die Regelungen des Infektions schutzgesetzes möglicherweise anders fasst. Dann müssen aber auch wir als Landesgesetzgeber überlegen, ob die Basis der Verordnungen ausreicht oder ob wir nicht viel eher eine aktive Beteiligung des Parlaments brauchen.

Meine Meinung ist, dass das Parlament im Rahmen der Ge waltenteilung die Aufgabe hat, selbstbewusst zum einen über die Haushaltsfragen und zum anderen auch grundsätzlich über die Fragen, die dem Parlamentsvorbehalt unterliegen, zu ent scheiden. Dieser Landtag muss wieder die Stellung bekom men, die ihm nach der Verfassung gebührt, meine sehr geehr ten Damen und Herren.

(Beifall)

Herr Ministerpräsident, Sie haben jetzt viele Dinge angespro chen, die aber gar nichts mit dem Vorwurf, den die FDP/DVP mit dem Titel der Aktuellen Debatte erhoben hat, zu tun ha ben. Denn die Frage war ja nicht, ob bestimmte Dinge mög licherweise bestimmte Abläufe brauchen. Vielmehr war die Frage, ob ich nicht Dinge viel früher machen kann, um sie richtig und gut umsetzen zu können.

Das Beispiel, das in der letzten Woche und auch in dieser Wo che noch die Gemüter in diesem Land bewegt hat, die Verord nung aus dem Kultusministerium, war Ihnen keine Silbe wert. Ich glaube, Sie sollten nicht den Eindruck erwecken wollen, dass in dieser Regierung alles hervorragend läuft. Vielmehr muss man, wenn man sein Amt entsprechend ausübt, auch zu den Fehlern stehen, die gemacht werden. Dann hätte ich von Ihnen gern gehört, wie diese zukünftig vermieden werden sol len.

Wir werden nämlich die Situation haben, dass das Kultusmi nisterium, das diese Verordnung eigentlich schon vor einigen Tagen hätte erstellen können, in den nächsten Wochen und Monaten die sehr komplizierte Frage klären muss, wie die Schülerinnen und Schüler in unserem Land im restlichen Schuljahr und vor allem zu Beginn des nächsten Schuljahrs wieder unterrichtet werden sollen. Wie soll das funktionieren?

Wenn ich dann immer wieder nur den Satz höre: „Wir müs sen auf Sicht fahren“ – den höre ich übrigens auch aus der Schulverwaltung –, dann muss ich Ihnen sagen: Das ist mir zu wenig gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen, das ist mir zu wenig gegenüber den Eltern, und es ist mir viel zu wenig gegenüber den Kindern in diesem Land.

Ich sage es noch einmal: Wir müssen alles dafür tun, dass die Menschen in diesem Land – vor allem die Kinder – nicht die dauerhaft Leidtragenden der Coronapandemie sind. Deswe gen fordere ich Sie als Ministerpräsidenten auf: Wenn Sie se hen, dass in einem Ministerium so schlecht gearbeitet wird, dann erwarte ich von Ihnen als Ministerpräsident, dass das endlich korrigiert wird. Die Menschen in diesem Land müs

sen endlich das Gefühl bekommen: Da sitzt jemand am Steu er, der weiß, wo die Reise hingeht, und nicht jemand, der am liebsten aussteigen würde, weil er vor der nächsten Entschei dung Angst hat. So kann Politik nicht funktionieren, Herr Mi nisterpräsident.