Protokoll der Sitzung vom 17.12.2020

(Abg. Emil Sänze AfD: Das brauchen wir nicht!)

dass Sie dieses Thema zu einem Gegenstand der heutigen Ta gesordnung gemacht haben.

(Beifall – Zurufe)

Denn eines ist klar: Wir stehen in der Tat vor einer histori schen Zäsur, dem potenziellen finalen Austritt Großbritanni ens aus der Europäischen Union zum Ende dieses Jahres. Das ist ein Einschnitt in der europäischen Geschichte unseres Lan des.

Wer von uns hätte sich vor einigen Jahren vorstellen wollen, dass sich ein Land aufmacht

(Abg. Daniel Rottmann AfD: Gehofft haben wir es schon!)

und tatsächlich darüber befindet, aus diesem europäischen Er folgsmodell auszusteigen? Wer hätte sich vorstellen wollen, dass die große Errungenschaft eines jahrzehntelangen Frie dens nicht ausreicht, um sich weiterhin zu diesem europäi schen Projekt zu bekennen?

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist eine dunkle Stunde in der europäischen Geschichte. Dies heu te hier im Landtag zum Ausdruck zu bringen, das ist unsere gemeinsame Verantwortung.

(Beifall)

Mit dem Schüren von Angst war noch nie gute Politik zu ma chen. Mit dem Schüren von Angst ist es noch nie gelungen, den Menschen eine Perspektive aufzuzeigen.

(Zurufe)

Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Wer sich konstruktivkritisch damit auseinandersetzt, Europa weiterzuentwickeln, nach vorn zu bringen,

(Abg. Daniel Rottmann AfD: Genau das tun wir!)

der ist jederzeit gefragt.

(Zuruf des Abg. Anton Baron AfD)

Wer aber wie Sie, Herr Sänze, Europa zerstören will, der be wegt sich nicht mehr auf dem Boden unserer Verfassung.

(Beifall – Abg. Daniel Rottmann AfD: Schließen Sie nicht von sich auf andere!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Big Ben – –

(Zurufe, u. a. des Abg. Emil Sänze AfD)

Warten Sie bitte, Herr Minis ter. – Herr Abg. Sänze, als Sie gesprochen haben, habe ich um Ruhe gebeten. Auch Ihnen war es wichtig, dass es ruhig ist. Jetzt bitte ich Sie, zuzuhören, damit der Minister mit seiner Rede fortfahren kann. Vielen Dank.

Vielleicht können Sie noch etwas lernen.

(Abg. Daniel Rottmann AfD: Ein Justizminister, der keine Ahnung von der Verfassung hat!)

Der Big Ben, der berühmte Glockenturm des britischen Par lamentsgebäudes, ist derzeit wegen Renovierungsarbeiten ein gerüstet. Die Baugerüste verdecken auch die berühmte Turm uhr; sie steht aktuell still. Doch die Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht nicht still; sie läuft. Die Zeit für ein Ab kommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich läuft ab.

Erneut wurde die Chance geschaffen, einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Noch wenige Tage soll verhandelt werden.

Wir erinnern uns: Der Vertrag hätte spätestens Mitte Oktober geschlossen werden sollen. Seither wird immer wieder Zeit eingeräumt. Es fehlt nicht an der Bereitschaft, am Willen, bis zur letzten Sekunde zu verhandeln. Wir haben uns die Chan

ce erkauft, doch noch ein Abkommen zum gegenseitigen Nut zen zu erreichen. Das sollte es uns wert sein, auch wenn nun die Nerven auf allen Seiten blank liegen.

(Zuruf: Bei uns nicht!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU sind eine Abfolge von Fristen, die immer wieder gerissen und neu festgesetzt wurden. Zum Teil war es ein un würdiges Spiel, das da getrieben wurde. Die Menschen haben allmählich auch das Vertrauen in die Problemlösungskompe tenz verloren.

(Zuruf des Abg. Anton Baron AfD)

Am vergangenen Sonntag haben sich Kommissionspräsiden tin von der Leyen und Premier Johnson erneut auf die Fort setzung der Verhandlungen verständigt. Aber zum 31. Dezem ber ist nun wirklich ein Ende erreicht, und dann ist Schluss mit lustig, dann brauchen wir eine Lösung.

Ich sage Ihnen: Die Europäische Union wird weiter stark sein, auch wenn sich Großbritannien final zu einem Ausstieg ohne Deal entscheidet. Die Europäische Union wird weiterhin stark sein. Genau diese Krise hat gezeigt, wie Europa zusammen steht, wenn es darum geht, gemeinsam stark zu sein. Barnier ist es gelungen, die EU-27 zusammenzuhalten. Es ist Groß britannien nicht gelungen, einen Keil in diese Gemeinschaft zu treiben. Das ist bei allem Übel die positive Resonanz die ser großen Verhandlungsrunde.

(Beifall)

Die Europäische Union wird weiter stark sein – auch ohne Großbritannien. Trotzdem ist es uns Europäern wichtig, die Briten eng an unserer Seite zu wissen. Das ist auch der Grund, warum das Verhandlungsteam um die beiden Chefunterhänd ler Barnier und Frost in den letzten Wochen rund um die Uhr an gemeinsamen Texten gearbeitet hat. Es geht um die Nut zung der Chance auf den letzten Metern.

Es soll Einigungen in Einzelbereichen geben, etwa bei der An erkennung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch das Vereinigte Königreich oder bei der künftigen poli zeilichen und justiziellen Zusammenarbeit. Auch in den Be reichen Dienstleistung, Energie, Verkehr, Warenaustausch, „Innere Sicherheit“ sind Kompromisse erzielt worden.

Hauptstreitpunkte sind die Themen „Faire Vertragsbedingun gen“, „Regelungen eines Streitbeilegungsmechanismus“ und die Fischerei – Herr Kollege Schweickert ist schon auf aktu elle Meldungen von heute Morgen zu sprechen gekommen.

Für eine Einigung und eine rechtzeitige Ratifikation des Ab kommens bis zum Jahresende bleibt kaum noch Zeit.

Ich bin davon überzeugt, dass sich beide Seiten ehrlich ma chen sollten. Das gilt insbesondere für die britische Regie rung. Ein No-Deal-Abkommen hätte schwerwiegende Folgen für beide Seiten.

Manche Brexit-Hardliner verharmlosen dies mit dem Hinweis, dass Großbritannien dann im gleichen Verhältnis wie Austra lien zur EU stehen würde. Diese übersehen zwei Punkte. Zum

einen ist Sydney von Brüssel 16 700 km Luftlinie entfernt, London aber nur 320 km. Der Handelsumsatz zwischen der EU und Großbritannien betrug 2019 rund 511 Milliarden €, zwischen der EU und Australien 39 Milliarden €. Zum ande ren verhandelt Australien derzeit selbst noch mit der EU über ein Freihandelsabkommen, um die gegenseitigen Wirtschafts beziehungen zu verbessern. Die Verflechtung der britischen Wirtschaft mit der EU-27 ist so eng, dass eine Rückkehr zu einem System mit Zöllen und erheblichen Handelsbeschrän kungen großen Schaden anrichten würde.

Die EU muss die Integrität des Binnenmarkts schützen und muss verhindern, dass es zu einem Dumpingwettbewerb vor ihrer Haustür kommt. Leidtragende wären die Arbeitnehmer auf der Insel und in der EU, die Umwelt und die Verbraucher.

Ich hoffe daher bis zuletzt auf ein Abkommen, das die wirt schaftlichen Auswirkungen abmildern und für einen fairen Wettbewerb sorgen würde. Das einzig Gute im Schlechten ist für mich, dass der Brexit nicht den Austritt anderer Mitglieds staaten nach sich zieht. Auch Mitglieder dieses Hauses schwärmen ja immer wieder vom „Dexit“ oder „Frexit“.

(Zuruf)

Nein, im Gegenteil: Die Brexit-Verhandlungen haben die Ein heit und Geschlossenheit der EU-27 gefestigt. Paradoxerwei se zeigt das Beispiel Großbritannien, wie eng wir in der Eu ropäischen Union verbunden sind, wie extrem die Folgen ei ner Trennung sind und – erlauben Sie mir den Hinweis – auch wie unsinnig die Folgen einer Trennung sind.

(Beifall)

Stand heute müssen wir uns daher mit den Auswirkungen be schäftigen, die das Ende der Übergangsphase zum 31. Dezem ber 2020 haben wird. Vor allem werden die Unternehmer da runter leiden, die mit dem Vereinigten Königreich Handel trei ben. Baden-Württemberg profitiert bisher erheblich vom Han del mit Großbritannien im EU-Binnenmarkt.

Aber klar ist, ob mit oder ohne Handelsabkommen: Es wird in jedem Fall zu Zollkontrollen von Wareneinfuhren aus Groß britannien kommen und damit zu mehr Verwaltungsaufwand für Unternehmen und zu längeren Lieferzeiten in den Logis tikketten. Für den Fall eines No-Deals werden Notfallmaß nahmen zur Aufrechterhaltung des Luft- und Güterverkehrs erforderlich. Der Brexit wird weitreichende Folgen für die Wirtschaft, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger haben. Hoffentlich wirkt das abschreckend.

Ich will auf die anderen Bereiche, die Kollege Hofelich ange sprochen hat, die Frage der Zusammenarbeit in den Bereichen Hochschulen, Forschung, von der derzeit alle Beteiligten mas siv profitieren, jetzt nicht mehr näher eingehen – auf das, was dort alles auf der Strecke bleiben wird. Es kann nur Verlierer geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschlie ßend noch ein paar wenige Sätze zur deutschen Ratspräsident schaft sagen. Das ist heute unterschiedlich bewertet worden. Erfreulicherweise wird die deutsche Ratspräsidentschaft auch überparteilich – mit unterschiedlichen Akzenten – gewürdigt. Sie hat unter schwierigsten Rahmenbedingungen stattgefun

den. Wir hätten uns mehr persönliche Begegnungen ge wünscht. Aber es ist gelungen, die Weichen für den Mehrjäh rigen Finanzrahmen zu stellen. Es ist gelungen, den Wieder aufbaufonds „Next Generation EU“ auf den Weg zu bringen, damit Europa gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Es ist ge lungen – obwohl es ein schwieriger Weg war –, die Rechts staatskonditionalität mit dem neuen Mehrjährigen Finanzrah men zwingend zu verbinden.

Das waren schwierige Verhandlungen, aber ich sage noch ein mal – auch an die Adresse von Polen und Ungarn –: Wer zu dieser europäischen Wertegemeinschaft gehören will, der muss eben auch bereit und in der Lage sein, gemeinsame Rechte und Werte zu akzeptieren. Das ist das Fundament un serer Europäischen Union. Das dürfen wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

(Beifall)