Wenn ich dann aber Vorgänge in anderen Staaten verfolge – Kollege Berg hat die Visegrad-Staaten genannt und ist darauf eingegangen, wie Polen in Bezug auf den Brexit vorgeht –, dann muss ich Ihnen schon sagen: Wenn wir eine Politik an fangen, dass sich Rosinenpickerei lohnt, haben wir in Europa irgendetwas falsch gemacht, meine Damen und Herren.
Denn nur von flexibler Solidarität zu reden ist mir zu wenig. Ich halte den Kolleginnen und Kollegen, die fragen: „Na ja, wie gehen wir jetzt mit der Türkei um?“, entgegen: Auch ich bin für das Einfrieren der Verhandlungen, stelle aber mir und uns die Frage: Sind wir eigentlich der Meinung, schon so weit zu sein, bereit zu sein, zu jeglicher Frechheit eines Herrn Er dogan sagen zu können: „Das lässt uns kalt“? Haben wir un sere Hausaufgaben in diesem Bereich gemacht? Ich glaube, noch nicht ganz.
Ein weiteres Beispiel ist Dublin IV. Wir haben das auch bei der Ausschussberatung über Ihren Bericht, Herr Minister, the matisiert. Es ist zwar schön, wenn man sagt: Für jeden Flücht ling, der laut Verteilungsschlüssel aufgenommen werden müss te, jedoch nicht aufgenommen wird, müssen 250 000 € ge
zahlt werden. Doch ich muss mich auch fragen: Wie hoch sind denn die Überlebenschancen für einen solchen Vorschlag in der Realpolitik? Denn wir alle sind für einen fairen Lasten ausgleich, aber eigentlich wäre es doch dann zumindest eine Überlegung wert, zu sagen: Wenn ein Staat dieser Verpflich tung nicht nachkommt und auch den genannten Betrag, wie manche ja schon angekündigt haben, nicht zahlt, dann müs sen diese Staaten, die erklären, nur weniger Flüchtlinge auf zunehmen, als sie aufnehmen müssten, zumindest einmal auf gefordert werden, ihr Engagement zu verstärken.
Ferner müssen wir die Außengrenzen der EU deutlich besser sichern. Wir müssen den Griechen zur Seite springen.
Damit könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn wenn wir so vorgehen – meine Damen und Herren, da bin ich mir sicher –, wird sich die Argumentation, die im Mo ment populistische Regierungen nach vorn bringt, gegen sie richten. Denn dann können sie sich einer Verpflichtung nicht mehr entziehen.
In diesem Zusammenhang ist es auch richtig, dass man den mehrjährigen Finanzrahmen, der seit 2014 gilt, einer Halbzeit revision unterzieht. Wir sehen ja, was in sieben Jahren alles passieren kann. Im Jahr 2013 war das beherrschende Thema in der europäischen Politik noch die Staatsschuldenkrise. Viel leicht wird sie, wenn die Lage in Italien etwas schwieriger wird, demnächst wieder das beherrschende Thema. Heute sind es aber die Flüchtlinge. Wenn wir sehen, dass dann Umschich tungen im Haushalt vorgenommen werden, ist das genau das, was ich am Anfang gesagt habe: Die Veränderungen, die zur Verbesserung des Flüchtlingsmanagements führen, sind zu be grüßen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich dann weiter an schauen, wie in diesem mehrjährigen Finanzrahmen die Pri oritäten gesetzt werden, sehen Sie – das muss man auch sa gen –: Man hat, so scheint es mir, aus dem Brexit-Votum und aus der Trump-Wahl gelernt. Man hat gelernt, dass es halt au ßerhalb der Zentren London oder New York oder San Fran cisco Landstriche gibt, die in der Industriepolitik hinten her untergefallen sind. Auch hier werden im mehrjährigen Finanz rahmen die Forschungsförderung und die Industriepolitik – auch so ein Baby von Herrn Juncker – einer deutlichen Fo kussierung gerecht.
Inwieweit es da sinnvoll ist – auch das möchte ich kritisch an merken –, 170 Millionen € für die Einführung von freiem WLAN in Europa aufzuwenden, wage ich zu bezweifeln. Ich bin der Meinung, dass die EU da wieder an einem Punkt ist, wo man sich schon fragen kann, ob sie das tun muss. Aber grundsätzlich sind die Erklärungen von Bratislava, die Ände rungen am mehrjährigen Finanzrahmen, zu begrüßen. Wir müssen an diesem Europa weiterarbeiten. Wir müssen immer auf den aktuellen Stand reagieren, und es ist viel zu schade, dieses Europa – sei es bei uns in Baden-Württemberg oder ir gendwo anders – den Populisten zu überlassen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Kennen Sie den König Midas aus der griechischen Sagenwelt? Alles, was er angefasst hat, wur de zu Gold. Dann ist er schließlich verhungert und verdurstet, weil er nicht mehr essen und trinken konnte.
Bei der EU in Brüssel ist das ähnlich, bloß wird das, was sie anfasst, nicht zu Gold, sondern zur zentralistischen Diktatur.
Deswegen komme ich zu einem Aspekt, der in der ganzen Dis kussion bisher noch untergegangen ist und dessen Tragweite auch ich erst in der Diskussion im Europaausschuss erfasst habe. Es geht um die Kontrolle der Außengrenzen. Das ist na türlich eine gute Sache. Aber die Beschlusslage in der EU ist jetzt so, dass auch gegen den Willen eines Staates bewaffne te Verbände von der EU in dieses Land geschickt werden kön nen, um die Grenze zu schützen.
Meine Damen und Herren: gegen den Willen eines Staates! Was bedeutet das? Natürlich wollen wir die Grenzen schüt zen. Natürlich müssen wir auch Maßnahmen verlangen, wenn ein Land das nicht kann und nicht will. Die letzte Maßnahme, die wir umsetzen können, ist der Ausschluss aus der EU. Wir können aber nicht bewaffnete Verbände in diesen Mitglieds staat schicken, um die Grenze dort zu schützen. Das ist de fac to eine militärische Intervention, die hier durch die EU lega lisiert wird.
Das ist das juristische Faktum, und das stellt – das müssen wir uns klarmachen – einen Quantensprung in der Entsouveräni sierungspolitik gegenüber den Nationalstaaten dar. Mehr noch: Das stellt einen Quantensprung in der Totalitarisierung in der EU-Politik dar.
Da müssen wir hellhörig werden, meine Damen und Herren. Da dürfen wir nicht den Kopf in den Sand stecken. Wenn hier eine Politik umgesetzt wird, die bewaffnetes Eingreifen in Mitgliedsstaaten legalisiert, können wir in dieser EU so nicht weiter bleiben. Das hieße in letzter Konsequenz, aus dieser EU auszutreten. Bitte denken Sie über diesen Gedanken nach.
Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme den euro papolitischen Bericht zum dritten Quartal 2016 zum Anlass, kurz einige aktuelle Themen anzusprechen.
Ich nehme ihn aber auch zum Anlass, dem Präsidium dafür zu danken, dass dem Wunsch des Hauses, die europapolitischen Themen nicht immer zu später Tageszeit zu diskutieren, ent sprochen wurde. Vielmehr sollte auch durch die Terminierung auf der Tagesordnung zum Ausdruck gebracht werden, dass uns Europa wertvoll und wichtig ist und dass wir Baden-Würt
temberger im Herzen Europas uns dessen bewusst sind, was wir diesem gemeinsamen Europa zu verdanken haben.
Die Entscheidung der britischen Bürgerinnen und Bürger zum Austritt aus der Europäischen Union ist mehrfach angeklun gen. Das ist natürlich Dokument einer Vertrauenskrise in der Europäischen Union. Es berührt Europa in seinen Grundfes ten. Das gilt uneingeschränkt, auch nachdem sich der BrexitSchock inzwischen etwas gelegt hat.
Als Europaminister bedaure ich den angekündigten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Mit diesem Austritt verliert die Europäische Union wirtschaftliche Stär ke, sicherheitspolitisches Gewicht sowie gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt, also das, was die Bandbreite, die Vielfalt der EU ausgemacht hat. Großbritannien war für Deutschland stets ein wichtiger, auch ordnungspolitischer Partner, eine star ke Stimme für Haushaltsdisziplin und für das Subsidiaritäts prinzip.
Die britische Regierung hält dem Bürgervotum folgend an ih rem Vorhaben fest, die Austrittsverhandlungen bis Ende März 2017 in Gang zu setzen. Wir warten jetzt noch die höchstrich terliche Entscheidung dort ab. Sie erinnern sich an das Urteil des Londoner High Courts, das der Regierung Anfang No vember die Befugnis abgesprochen hat, den EU-Austritt oh ne parlamentarische Zustimmung auf den Weg zu bringen.
Inhaltlich ist bislang – so meine Wahrnehmung – keine klare Brexit-Strategie der britischen Regierung erkennbar. Insbe sondere ist nicht absehbar, wie sich die britische Regierung die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur Europäischen Union vorstellt. Auch das ist heute mehrfach angeklungen.
Das ist diese Gratwanderung, einerseits uns nicht ins eigene Fleisch zu schneiden, was den Zugang zum Binnenmarkt an geht, andererseits aber natürlich auch Klartext zu sprechen und keine Rosinenpickerei in dem Sinn zuzulassen, dass man sich aus Europa nur die Vorteile herauslöst und sich dort weg schleicht, wo es darum geht, europäische Solidarität unter Be weis zu stellen.
(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU und der FDP/DVP – Abg. Anton Baron AfD: Wir sind ei ne Vertragsgemeinschaft!)
Der britischen Regierung ist allerdings bewusst – sie kommu niziert das mittlerweile auch –, dass ein EU-Austritt die briti sche Volkswirtschaft und damit die britischen Bürgerinnen und Bürger teuer zu stehen kommen kann.
Als Europaminister ist es mir ein Anliegen – ich denke, das wird auch in diesem Haus geteilt –, dass Europa in den bevor stehenden Gesprächen mit Großbritannien mit einer Stimme spricht. Wir beobachten gegenwärtig Versuche der britischen Regierung, Europa durch bilaterale Sondierungen auseinan derzudividieren. Europa muss aber gerade jetzt zeigen, dass es um europäische Werte geht, die wir gemeinsam haben, dass es darum geht, diese europäischen Werte gemeinsam zu ver treten. Der Brexit darf nicht zum Keil werden, der gemeinsa me europäische Werte auseinandertreibt.
Ich habe, wie mehrfach an dieser Stelle angekündigt, inner halb der Landesregierung eine Brexit-Folgenabschätzung in itiiert. Wir werden dies im Zuge unserer auswärtigen Kabi nettssitzung in Brüssel diskutieren, und wir werden sie selbst verständlich auch dem Landtag vorlegen. Auch wenn die kon kreten Folgen maßgeblich vom Ergebnis der Austrittsverhand lungen abhängen, so sind die Auswirkungen eines Brexits auf Baden-Württemberg beträchtlich. Das reicht z. B. im Bereich Wirtschaft vom Handel über die Finanzmärkte bis zum ein heitlichen Europäischen Patentgericht. Vor einigen Wochen wollten wir beim VGH Mannheim – mein Amtsvorgänger, Minister a. D. Stickelberger, hat das noch auf den Weg ge bracht – das Europäische Patentgericht seiner Bestimmung übergeben. Es ist durch den Brexit erst einmal auf Eis gelegt.
Es geht um Fragen der Medienförderung, im Bereich Wissen schaft und Bildung von der Mobilität von Wissenschaftlern und Studierenden über die Anerkennung von Berufsabschlüs sen bis zur Wirtschaftszusammenarbeit, Wissenschaftszusam menarbeit in den europäischen Forschungsinfrastrukturen. Weitere betroffene Bereiche sind etwa der Krankenversiche rungsschutz für britische Staatsbürger in der EU, Arzneimit telzulassungen, der Datenschutz und das Personenstandswe sen. Es sind Folgen, die sich über alle Bereiche, auch von Po litik und Verwaltung, legen.
Schon dieser grobe Überblick zeigt, wie wichtig es ist, dass die Länder, auch die Bundesländer, das Thema Brexit auf merksam begleiten und analysieren. Nicht zuletzt haben wir seitens der Länder auch einen Gestaltungsauftrag im europä ischen Integrationsprozess und die Aufgabe, Europa den Bür gern verständlich und greifbar zu machen.
Wir werden morgen bei der Europaministerkonferenz in Ber lin genau diese Themen diskutieren. Ich werde dafür eintre ten, dass sich die Länder schon im Vorfeld der zu erwarten den Brexit-Verhandlungen aktiv gegenüber der Bundesregie rung positionieren und ihre Interessenlage verdeutlichen, da mit ihre Positionen mit in die Verhandlungen auf EU-Ebene einfließen. Auf die Länder kommt es an, auch und gerade in einer solchen Frage.
Wer heute einen Bericht zur Europapolitik abgibt, darf die Thematik rings um CETA nicht ausblenden. Das Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA mit Kanada wurde am 30. Ok tober 2016 unterzeichnet. In diesem Zusammenhang wurde in der Öffentlichkeit teils mit Unverständnis über die inner belgischen Diskussionen berichtet. Für Baden-Württemberg als Region ist es auch mit Blick auf die für das nächste Jahr zu erwartende Bundesratsbefassung mit CETA selbstverständ lich wichtig, dass die Rechte der Regionen im europäischen Rechtsetzungsprozess gewahrt werden.
Ich möchte mir nicht vorstellen, dass wir diese große Errun genschaft eines Europas der Regionen mit Blick auf solche Vorgänge aufgeben möchten. Europa – das war von Anfang an gerade auch die aus Baden-Württemberg betriebene Philo sophie – muss ein Europa der Regionen und damit ein Euro pa der Menschen bleiben. Europa muss näher an die Men schen herangebracht werden.
Das Europäische Parlament plant, Anfang 2017 über CETA abzustimmen. Dann treten die Teile von CETA, die in der Zu ständigkeit der EU liegen, vorläufig in Kraft. Das Bundesver fassungsgericht hat im Oktober 2016 grünes Licht für eine vorläufige Anwendung von CETA gegeben.
Das ist jetzt noch Gegenstand einer Hauptsacheentscheidung, die natürlich lange Zeit, vielleicht Jahre beansprucht, bis wir dort endgültige Klärung haben. Aber die vorläufige Entschei dung des Gerichts ermöglicht es, CETA auf den Weg zu brin gen. Das Ministerium der Justiz und für Europa begleitet das Thema weiterhin eng und fundiert. Die Landesregierung wird sich im Zuge der im kommenden Jahr anstehenden Bundes ratsbefassung mit CETA inhaltlich zu positionieren haben. Da bei werden wir auch die bei der Landtagsanhörung am 30. September 2016 gewonnenen Erkenntnisse berücksichti gen.
Ich möchte ein paar Worte zur Entwicklung in der Türkei und auch zur Entwicklung der Flüchtlingspolitik sagen.
Das Europäische Parlament hat letzte Woche mit breiter Mehr heit für eine Entschließung gestimmt, die vorsieht, die Bei trittsverhandlungen mit der Türkei vorübergehend auszuset zen. Die Entschließung ist eine Aufforderung an die Mitglieds staaten und die EU-Kommission, die für die Beitrittsgesprä che zuständig sind. Rechtlich bindend ist sie nicht. Aber sie verschärft die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen der EU und der Türkei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns alle besorgt die Ent wicklung in der Türkei, vor allem im Hinblick auf die Bestre bungen zur Wiedereinführung der Todesstrafe, Einschränkun gen der Meinungs- und Pressefreiheit und der Inhaftierung von Mitgliedern der Oppositionspartei. Ja, da stimme ich Herrn Professor Schweickert zu: Da geht es darum, auch die Positionen im eigenen Land zu schärfen. Wir dürfen uns nicht von der Türkei erpressbar machen lassen. Wer solche Grund werte schleift, wer Oppositionspolitiker ins Gefängnis bringt, wer die Pressefreiheit mit Füßen tritt, wer für die Einführung der Todesstrafe plädiert, mit dem können wir uns formelle Verhandlungen über einen Beitritt zur EU nicht vorstellen, lie be Kolleginnen und Kollegen.