Protokoll der Sitzung vom 10.05.2017

Was passiert übrigens, wenn sich London nicht beeindrucken lässt und womöglich sogar Kontra gibt? Drei Millionen EUBürger arbeiten in Großbritannien. Was wäre, wenn deren Überweisungen in ihre Herkunftsländer wegfallen würden? Mal sehen, wie lange z. B. Polen die Phalanx der nun ach so einig und geschlossen stark tuenden 27 Mitgliedsstaaten der Rest-EU aufrechterhält.

(Beifall des Abg. Udo Stein AfD)

Auch übertreffen die Lieferungen aus der EU die britischen Ausfuhren bei Weitem. Dies gilt insbesondere für BadenWürttemberg. Für welche Seite wären die von der EU in den Raum gestellten Zollregelungen und Handelsbeschränkungen denn nun eigentlich negativer? Baden-Württemberg muss al les daransetzen, auf eine vernünftige Verhandlungsführung zu drängen – ohne Trotzreaktionen und statuierte Exempel der verbleibenden Rest-EU.

(Beifall bei der AfD)

Denn die Lösung kann, wie bereits eingangs gesagt, nur dar in liegen, mit Großbritannien vernünftige und für beide Sei ten vorteilhafte Verträge abzuschließen. Großbritannien und wir bleiben Nachbarn in Europa und hoffentlich auch Freun de.

Zu den möglichen Folgen des EU-Austritts des Vereinigten Königreichs für Baden-Württemberg kann derzeit nur gesagt werden: Es kommt darauf an – und zwar auf die Vereinbarun gen, Verträge und Abkommen. Es gibt so viele Bereiche, in denen wir, das Land Baden-Württemberg, mit britischen Part nern direkt Vereinbarungen oder Verträge schließen können. Wie konstruktiv, unbürokratisch und zielgerichtet solche Ab kommen dann sind, liegt nur an denen, die verhandeln. Dann also direkt auch an uns.

(Beifall bei der AfD)

Überhaupt sollte man sich grundsätzlich von dem Irrglauben lösen, dass ohne eine EU die Zusammenarbeit zwischen Staa ten irgendwie unmöglich wäre.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Es klappt doch prima mit der Schweiz, mit Norwegen, mit Ja pan, Korea, Indien, China usw. usf. Wissenschaft und For schung beispielsweise haben schon immer und glücklicher weise meist auch ohne staatliche Hilfe international zusam mengefunden.

Das Ministerium schreibt – ich zitiere –:

Die Austrittsentscheidung... berührt den europäischen Gedanken in seinen Grundfesten.

Wow! Welchen europäischen Gedanken denn? Etwa den Ge danken des Vertrags von Lissabon aus dem Jahr 2007, den Ge danken eines immer zwanghafteren Zusammenzwingens von etwas, was so nicht zusammengehört und so zusammen nicht funktioniert?

(Beifall bei der AfD)

Der gute Geist der Römischen Verträge von 1957 ist jeden falls schon lange verflogen.

Das Raumschiff Brüssel hat sich immer und immer weiter von der Vorstellung und der Lebenswirklichkeit der europäischen Völker abgehoben. Verlautbarungen der EU-Kommission und anderer Zentralorgane klingen nun nur noch wie ein Pfeifen im Walde.

Wir wünschen jedenfalls Großbritannien und der Rest-EU konstruktive und freundschaftliche Verhandlungen, sodass nach der Scheidung keine Zerrüttung folgt.

Danke schön.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Dr. Wolfgang Ge deon [fraktionslos])

Für die SPD-Fraktion er teile ich das Wort dem Kollegen Dr. Weirauch.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa erlebt derzeit auf wühlende Zeiten. Die Europäische Union, die gemeinsamen Werte der freiheitlichen Demokratie und der Solidarität zwi schen den Völkern Europas stehen offenkundig zur Disposi tion. Die europäische Wertegemeinschaft wird derzeit atta ckiert, einerseits von Extremisten aus der radikalen Oppositi

on – wie wir es gerade in Frankreich beobachtet haben –, aber eben auch von autoritären Regierungen aus den Mitgliedsstaa ten wie etwa aus Polen oder Ungarn. Es ist für uns unerklär lich, wie man Freiheit, Frieden und Wohlstand durch stump fe nationalistische Parolen aufs Spiel setzen kann, zumal ge rade diese europäischen Völker leidvoll erfahren mussten, zu welchem Elend dies am Ende führen kann. Die beiden Welt kriege sollten uns Mahnung genug sein.

(Beifall bei der SPD)

Auch die SPD-Fraktion ist erleichtert, dass das französische Volk am vergangenen Sonntag mit deutlicher Mehrheit Em manuel Macron zum Präsidenten gewählt hat. Die „New York Times“ titelte am Montag nach der Wahl: „Macron and the Revival of Europe“. Ich bin guter Dinge, dass wir die Heraus forderungen gemeinsam meistern werden. Es ist bitter, dass uns hierbei Großbritannien fehlen wird, eine Nation mit gro ßen Verdiensten um die gemeinsame europäische Idee.

(Glocke des Präsidenten)

Kollege, gestatten Sie ei ne Zwischenfrage des Kollegen Rottmann?

Nein.

Das deutsch-britische Ver hältnis steht durch den Austritt Großbritanniens nicht vor ei ner Bewährungsprobe. Ich bin überzeugt davon, dass die part nerschaftliche und vertrauensvolle Bindung zwischen unse ren Völkern bestehen bleiben wird. Dennoch ist nicht ausge schlossen, dass der Austritt, in welcher Form er im Endeffekt auch eintreten wird, tiefgreifende Auswirkungen auf die recht lichen, wirtschaftlichen, aber auch die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern haben wird.

Die OECD geht davon aus, dass das reale Bruttoinlandspro dukt im Vereinigten Königreich im Jahr 2030 durch den Bre xit um 5 % unter dem Niveau liegen wird, das ohne Brexit er reicht worden wäre. Das hat auch mittelbar Auswirkungen auf die exportorientierte Wirtschaft in Baden-Württemberg, weil dadurch die Kaufkraft der Briten sinken dürfte und sich da durch auch die Nachfrage nach Importgütern etwa aus BadenWürttemberg verringert.

Wenn man sich vor Augen hält, dass aus Baden-Württemberg – der Kollege hat es schon gesagt – im Jahr 2015 mit steigen der Tendenz Waren im Gesamtwert von 12,3 Milliarden € auf die Insel exportiert wurden, muss es unser gemeinsames Ziel sein, trotz Brexit den freien Dienstleistungs- und Warenver kehr mit Großbritannien zu sichern und unsere Exportproduk te nicht noch durch Zölle oder weitere Handelshindernisse zu verteuern.

Die Austrittsverhandlungen werden zeigen, ob dies der Euro päischen Union gelingen wird. Bis dahin müssen wir auf al les vorbereitet sein und passende Antworten und Maßnahmen parat haben. Die Landesregierung beschreibt in ihrem Bericht Szenarien, benennt zumindest teilweise Verhandlungspositio nen, aber definiert leider – das ist der entscheidende Schwach punkt dieses Berichts – keine klaren Handlungsoptionen. Man

verharrt in der Analyse möglicher Auswirkungen und unter legt die Szenarien nicht mit konkreten Handlungsschritten.

Wir erwarten, dass die Landesregierung bei den Brexit-Ver handlungen eine aktive Rolle spielt, und zwar unabhängig vom legislativen Verfahren und nicht nur über den Bundesrat, sondern auch unmittelbar über Kontakte auf europäischer Ebe ne. Wenn wir zudem konstatieren, dass nach einer Studie von Ernst & Young 14 % der Unternehmen in Großbritannien in folge des Brexits beabsichtigen, ihren Sitz in die EU zu ver lagern, und dabei mehr als die Hälfte der Unternehmen erklä ren, dass Deutschland hierbei das attraktivste Zielland sei, dann darf ungeachtet des tatsächlichen Ausgangs des Brexits keine wertvolle Zeit verloren werden.

(Beifall bei der SPD)

Jedes britische Unternehmen, das die Insel verlassen möchte, muss wissen können, dass Baden-Württemberg ein ausge zeichneter Standort mit besten Perspektiven ist. Die Landes regierung muss hier mehr Flagge zeigen und offensiv werben. Wir werden niemanden daran hindern, zu uns nach BadenWürttemberg zu kommen und hier Arbeitsplätze zu schaffen. Dort, wo es erforderlich ist, muss die Landesregierung ent sprechend Türen öffnen. Hier bedarf es einer klaren Strategie, die aufseiten der Regierung bisher noch nicht zutage getreten ist.

Mit Verlaub, Tagesreisen von Staatssekretären und Ministern auf die Insel reichen nicht; das ist an dieser Stelle definitiv zu wenig.

(Beifall bei der SPD)

Gleiches gilt für die Gewinnung von Fachkräften für die ba den-württembergischen Universitäten und die heimische In dustrie. Mehr als 20 % der Akademiker in Großbritannien sind EU-Bürger, zumeist deutsche oder italienische Staatsbürger. Nach einem Bericht des britischen „Guardian“ fließen zudem mehr als die Hälfte der nach Großbritannien vergebenen För dermittel des European Research Council an Projekte, die Wissenschaftler aus anderen EU-Staaten verantworten. So wohl der Aufenthaltsstatus der EU-Wissenschaftler als auch der Fortbestand der EU-Förderkulisse sind mehr als ungewiss. Die dadurch wahrscheinlich werdende Neuorientierung von Spitzenkräften bietet daher auch für Baden-Württemberg die Chance, dem Fachkräftemangel in unserem Land wirksam zu begegnen – aber auch nur, wenn die Landesregierung hier an der entscheidenden Stelle handelt. Wir brauchen eine breit an gelegte Kampagne, um diese gut ausgebildeten Menschen für Baden-Württemberg zu gewinnen. Wir können sie sehr gut bei uns gebrauchen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Beate Böhlen GRÜNE)

Bei allen möglichen Nachteilen können wir den Brexit in den Bereichen Forschung, Industrieansiedlung und Fachkräftege winnung zu einem Erfolg für Baden-Württemberg machen. Der Bericht der Landesregierung ist ein wirklich guter Ansatz, aber jetzt muss strategisch gehandelt werden. Was wir brau chen, ist eine koordinierte Aktion, um Unternehmen und Fach kräfte von einem Wechsel nach Baden-Württemberg zu über zeugen.

Ich fordere die Landesregierung auf, sich in diesen Prozess aktiv einzubringen und es nicht bei einer Analyse möglicher Auswirkungen zu belassen.

(Zuruf der Abg. Beate Böhlen GRÜNE)

Abschließend bleibt festzuhalten: Wir hätten den Brexit gern vermieden. Aber das britische Volk hat in einer demokrati schen Wahl anders entschieden. Nun müssen beide Seiten mit dem Ergebnis leben, und die Trennung muss sauber und fair vollzogen werden. Es darf aber hier auch kein Cherry-Picking geben. Wir dürfen keine Anreize für den Austritt weiterer Staaten aus der EU schaffen. Aber klar muss auch sein: Groß britannien muss weiterhin ein wichtiger Partner der EU, Deutschlands und Baden-Württembergs sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Für die FDP/DVP-Frakti on erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Aden.

Sehr geehrter Herr Prä sident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kollegen! Die „Times“ titelte im Jahr 1957: „Schwerer Nebel über dem Är melkanal – Kontinent abgeschnitten“. Das zeigt eine Denk weise, die auf der Insel leider immer noch vorhanden zu sein scheint: Die Briten können es auch allein und brauchen keine anderen Staaten zum Überleben.

War der Brexit-Entscheid ein Zufall, vielleicht ein Betriebs unfall? Viele auf dem Kontinent mögen es vielleicht so sehen. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt, dass eine echte Lie besbeziehung zwischen Großbritannien und dem Kontinent eigentlich nie bestanden hat. Nachdem der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich 1350 bis 1450 – Stichwort Jeanne dʼArc – die Briten vom Festland vertrieben hat, hat der Inselstaat eine eigene Entwicklung durchgemacht, die ihn doch vom restlichen Europa entfremdet hat, Stichwor te Heinrich VIII., Anglikanische Kirche, Seemacht usw.

Deshalb war es folgerichtig, dass die Briten erst verspätet in die EU eingetreten sind, aber immer mit Skepsis nach Brüs sel geschaut haben. Man muss sich nur an die Worte von Mar garet Thatcher erinnern: „I want my money back.“