Am 10. November 1938 wurde die Esslinger Synagoge ge schändet. Alle sakralen Gegenstände, darunter auch die Tho rarolle, wurden seinerzeit entwendet. In ganz Baden-Würt temberg, in ganz Deutschland haben damals die Nationalso zialisten gewütet, Menschen getötet und Synagogen nieder gebrannt. Dass die Esslinger Synagoge dabei nicht vollstän dig zerstört wurde, ist wahrlich kein Trost.
Mehr als ein halbes Jahrhundert lang diente sie nicht ihrem eigentlichen Zweck, nämlich die Mitte der örtlichen jüdischen Gemeinde zu sein. Über 60 Jahre haben in der Esslinger Sy nagoge keine Gottesdienste mehr stattgefunden.
Umso erfreulicher ist – dies ist eine Aktuelle Debatte, und der Anlass ist aktuell –, dass dank des Einsatzes vieler das loka le jüdische Gemeindeleben in Esslingen wieder aufgeblüht ist.
Ich durfte vorgestern Ministerpräsident Kretschmann, das Par lament und die Landesregierung bei der Einweihung der neu en Thorarolle in Esslingen vertreten, die ein Ausdruck dieser positiven Entwicklung ist. Gestatten Sie mir dazu noch weni ge Anmerkungen.
Zum Ersten möchte ich noch einmal wiederholen, was Minis terpräsident Kretschmann anlässlich der Einweihung der Ul mer Synagoge gesagt hat – niemand von uns könnte es bes ser formulieren –:
Wir sind den jüdischen Gemeinden im Land dankbar für ihr Vertrauen und für ihren Willen, mit dem sie bei uns ei nen neuen Anfang gewagt haben.
Wir haben heute – trotz einiger unsäglicher Querschlä ger – Anlass dazu, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Wir werden zu keinem Zeitpunkt unsere bisherige Ge schichte vergessen.
Wenn es auch manch einer hier im Parlament und draußen auf der Straße nicht wahrhaben will: Das jüdische Leben in Deutschland ist ein wichtiger, elementarer Teil unserer Ge sellschaft.
Die Heilige Schrift, die Thora, die vorgestern in einer beein druckenden Zeremonie und Prozession durch die Esslinger Straßen getragen wurde, ist ein deutlicher Beweis dafür.
Aber es gibt noch eine Geschichte hinter der Geschichte: Die Esslinger Thora konnte wiederhergestellt werden, weil sich eine unglaublich breite Bürgergesellschaft aufgemacht hat, Spenden zu sammeln und Bewusstsein dafür zu schaffen. Da runter waren alle muslimischen Gemeinden, Sportvereine, die Kirchen und an vorderster Stelle auch du, lieber Wolfgang Drexler – das darf ich an dieser Stelle sagen, weil damit auch der Glanz ein bisschen auf uns fällt –, du hast das ganz ent scheidend mit initiiert. Aber auch die Kollegin Lindlohr aus Esslingen und andere Kollegen aus diesem Haus sind auf der Spenderliste. Sie sind das gute Gesicht. Sie sind voranmar schiert. Herzlichen Dank für diesen Einsatz.
Dadurch ist ein breites „Bürgerbündnis Thorarolle für Esslin gen“ entstanden, das nicht nur die Thorarolle organisiert hat, sondern dieses Thema auch in die Mitte der Gesellschaft zu rückgebracht hat.
Damit haben die Esslinger gezeigt, was in unserem moder nen, vielfältigen und weltoffenen Land möglich, ja notwen dig ist. Bürgerschaftliches Engagement ist die eigentliche Ba sis für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Esslingen hat damit vorgelebt, dass gesellschaftliche Teilha be nicht vor religiösen oder kulturellen Unterschieden halt machen darf.
Unser sozialer Zusammenhalt lebt von einem guten und res pektvollen Miteinander. Dazu gehört zentral, dass das jüdi sche Leben bei uns nie wieder infrage gestellt wird.
Jüdisches Leben und generell die Menschenrechte – ich ver weise noch einmal auf Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“; Menschenrechte sind universell – sollen in dieser Stadt und in diesem Land nie wie der im Stich gelassen werden.
Ministerpräsident Kretschmann hat das neue Ministerium für Soziales und Integration richtigerweise – das freut mich und ist uns jeden Tag Auftrag – als das Ministerium für den ge
sellschaftlichen Zusammenhalt bezeichnet. Diesem Auftrag wollen wir nachkommen und mit unserer ganzen Kenntnis und Leidenschaft dafür eintreten, dass niemand ausgegrenzt wird, dass jeder in dieser Gesellschaft mitmachen kann, auch diejenigen, die Abstiegsängste haben, die vielleicht verführ bar sind für Sündenbocktheorien; genau diejenigen haben wir auch im Blick.
Darum haben wir gemeinsam im Koalitionsvertrag sehr vie le Programme in der Wirtschaftspolitik, in der Arbeitsmarkt politik, in der Schulpolitik, in der Sozial- und Integrationspo litik aufgesetzt, mit denen wir die Menschen direkt erreichen.
Liebe Kollegen Hinderer, Haußmann, Blenke, Teufel, die Um setzung dessen, was wir in der Enquetekommission „Pflege“ erarbeitet haben – zu schauen, was die Menschen brauchen –, wird unter Federführung von Frau Staatssekretärin Mielich in den nächsten fünf Jahren ein Leuchtturm werden, womit wir zeigen: Niemand wird in diesem Land alleingelassen.
An dieser Stelle erlauben Sie dem Politiker Lucha, der ja in erster Linie ein Mensch und eine Privatperson ist, eine per sönliche Anmerkung.
(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP unterhält sich mit Abg. Nicole Razavi, Abg. Dr. Wolfgang Reinhart und Abg. Winfried Mack CDU an deren Abgeordneten platz.)
Meine Frau und ich – einige von Ihnen wissen es; es ist kein Geheimnis – sind Eltern von zwei dunkelhäutigen Kindern, quasi zwei Boatengs.
Ich schildere Ihnen etwas – es ist schwierig, Privates öffent lich zu machen, aber manchmal muss das so sein –: Als wir 1991 mit unserem ältesten Sohn aus Haiti – nebenbei bemerkt: dem ärmsten Land der westlichen Welt mit der höchsten Kin dersterblichkeit und der niedrigsten Lebenserwartung – nach Deutschland gekommen sind, hatten in Rostock-Lichtenha gen die Asylbewerberheime gebrannt, und wir hatten uns ge fragt: Haben wir das Richtige getan? Haben wir das Kind von einem Elend in das nächste gebracht und ihm damit einen Bä rendienst erwiesen? Das haben wir nicht. Heute sind meine Kinder die patriotischsten Oberschwaben, die Sie sich vor stellen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie etwas zu besprechen haben, bitte ich Sie, das vor dem Plenarsaal zu tun, sonst stört das den Redner.
Ich bin fest davon überzeugt, dass das wichtig ist, was ihr be sprecht, aber es irritiert einfach den Redner. Ihr bekommt das aber schon geregelt.
Was das Rührendste war und wohinter ich eine wichtige Bot schaft sah, war Folgendes: Mein Vater, Jahrgang 1917, Kriegs teilnehmer, 1949 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen, mein Schwiegervater, Jahrgang 1923, Kriegsteil nehmer, 1949 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen, beide stramme CDU- respektive CSU-Wähler in meiner Hei mat,
haben sich unterhalten, während sie diesen kleinen Knopf im Arm hielten – ohne zu merken, dass ich in der Nähe stehe. Da sagte der eine zum anderen: „Wir beide haben aber Glück ge habt, dass wir dort auf die Welt gekommen sind, wo wir auf die Welt gekommen sind.“ Das ist das, was wir uns jeden Tag immer wieder sagen müssen: Unsere Privilegiertheit haben wir uns nicht verdient, sie wurde uns geschenkt. Die Freiheit, uns zu bewegen, die Freiheit, das zu tun, was wir wollen, Selbstverwirklichung, das müssen wir jeden Tag erkämpfen.
Deswegen, meine Damen und Herren, haben in diesem Land Homophopie, Xenophobie, Behindertenfeindlichkeit, Rassis mus, Antisemitismus keinen Platz. Dafür wird sich diese Lan desregierung mit all ihrer Kraft, mit ihrer natürlichen persön lichen Autorität, aber auch mit ihren politischen Programmen, im Übrigen auch gemeinsam mit Ihnen von der SPD – wir ha ben in den vergangenen fünf Jahren vieles an Antidiskrimi nierungs- und Integrationsmaßnahmen auf den Weg gebracht –, einsetzen.
Die Polizei – hier ist auch der ehemalige Polizeiminister zu loben – hat im letzten Jahr in der Flüchtlingskrise einen tol len Job gemacht. Sie hat nicht nur die Asylbewerberheime ge schützt, sie war Lotse, sie war Partner, sie war fester Bestand teil der Bürgergesellschaft. Dafür meinen herzlichen Dank. Diesen guten Stil werden wir weiterführen.
Ich lade Sie alle ein: Kommen Sie zu uns zum CSD! Bejubeln Sie mit uns die Boatengs dieser Welt! Aber bejubeln Sie heute auch die baden-württembergischen Sportlerinnen und Sportler bei den Special Olympics; denn auch diese Personengruppe wird allenthalben kritisiert.
Das ist unser Auftrag. Dafür stehen wir hier in diesem Haus. Ich werde mich jede Minute dafür einsetzen, dass dieser mehr heitlich gute Geist hinausgetragen wird.
Ich habe meine Rede mit einem Gedicht von Selma Meer baum-Eisinger begonnen. Erlauben Sie mir, dass ich mit ih rem allerletzten Gedicht ende. Selma hatte 57 Gedichte an ih ren Freund geschrieben, der auf der Flucht nach Palästina in
einer Kriegshandlung von einem Torpedo getötet wurde. Das allerletzte dieser 57 mit Füller geschriebenen Gedichte, das Gedicht „Tragik“, möchte ich Ihnen noch vorlesen: