Protokoll der Sitzung vom 19.12.2018

Für mich sind nicht die Menschen schwierig, die sich kritisch über Europa äußern. Für mich sind die Menschen gefährlich, die auf Distanz zu Europa gehen. Deshalb war es auch Be standteil dieses Europadialogs, die kritischen Stimmen zu Eu ropa aufzugreifen.

(Zuruf des Abg. Udo Stein AfD)

Das ganze Jahr wurde überall im Land in unterschiedlichen Formaten, in Expertenforen, in Bürgerforen und Veranstaltun

gen darüber diskutiert, in welcher Europäischen Union wir in Zukunft leben wollen. Alle Ideen werden nun in einem euro papolitischen Leitbild der Landesregierung zusammengeführt. Ich bin dem Vorsitzenden des Europaausschusses dankbar, dass er hierzu im Januar eine Sondersitzung einberufen wird. Denn es ist uns schon wichtig, auch das Parlament, den Eu ropaausschuss vor der Beschlussfassung im Kabinett mit die sem Entwurf zu befassen und sicherlich auch danach europa politisch darüber zu debattieren.

Einem Blick auf Europa aus baden-württembergischer Pers pektive darf nicht entgehen, dass wir uns ein Europa der Re gionen wünschen und einfordern, dass nicht alles Brüssel und den nationalen Hauptstädten überlassen wird, sondern dass wir auch in Zukunft in einem Europa der Regionen leben, dass Entscheidungen möglichst nahe bei den Menschen angesie delt werden – das Stichwort Subsidiarität ist heute mehrfach angesprochen worden.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Mit dem Europadialog haben wir, die Landesregierung, einen neuen Weg beschritten, auch um eine breit angelegte Diskus sion über die Europäische Union anzustoßen – über ihre Vor teile,

(Unruhe – Glocke der Präsidentin)

aber auch über ihre Nachteile. Mir scheint, dass angesichts des drohenden Brexits in Großbritannien diese Debatte erst jetzt so richtig ernsthaft geführt wird. Inzwischen müsste auch der letzte Skeptiker bemerkt haben, dass das, was sich die Bri ten selbst zumuten, der Austritt aus der Europäischen Union, am Ende des Tages nur Verlierer kennen wird. Und wann, wenn nicht jetzt, müssen wir, die Europäische Union der 27, zusammenstehen, um einen weiteren Austritt in Europa zu verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen?

(Beifall bei den Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Zurufe von der AfD)

Immer klarer wird, welche gravierenden Folgen mit dem Aus tritt für alle verbunden sind. Das Austrittsdatum, der 29. März 2019, 24 Uhr, rückt näher; die Uhr tickt. Die Unterhändler der Europäischen Union und des Vereinigten Königreichs haben mit dem Austrittsabkommen einen guten Kompromiss für ei ne geregelte Übergangsphase erzielt.

Lieber Kollege Professor Dr. Schweickert, ich weiß nicht, ob das am Ende des Verfahrens entscheidend sein wird, aber ganz in diesem Sinn sage ich für die baden-württembergische Lan desregierung: An diesem Kompromiss darf nichts mehr ver ändert werden. Es muss klar sein: Das ist unser Angebot – oder die Briten entscheiden sich für den Austritt ohne Aus trittsabkommen. Das ist dann aber das Problem der Briten. Unsere Antwort ist klar: Bei diesem Entwurf muss es bleiben.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Dr. Erik Schweickert FDP/DVP: Sehr gut!)

Das Austrittsabkommen könnte für beide Seiten gerade noch eine weiche Landung ermöglichen und ein totales Chaos ver hindern. Leider müssen wir registrieren, dass die Chancen für

eine parlamentarische Mehrheit in Großbritannien für das Austrittsabkommen aus heutiger Sicht eher gering sind. Nun gilt es vor allem, den harten Brexit zu vermeiden. Die Folgen eines harten Brexits wären für Großbritannien fatal. Aber auch für uns wäre ein No-Deal-Szenario mit vielen Problemen ver bunden. Die Uhr tickt. Alle Optionen – ich wiederhole: alle Optionen – müssen auf den Tisch, von einer „Norwegen Plus“-Lösung im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums bis hin zu einem zweiten Referendum.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU und der FDP/DVP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Mehrjährige Fi nanzrahmen wurde angesprochen. Kollege Dr. Grimmer, na türlich kann man die Frage stellen: Warum ist denn das Inte resse so groß, diesen Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jah re 2021 bis 2027 zwingend noch in der laufenden Legislatur zu beschließen und nicht erst mit dem neu gewählten Parla ment?

Ich finde, es ist nachvollziehbar, diese Frage zu stellen. Aber man muss sich klar darüber werden, dass wir mit dem Be schluss über den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027 die europäische Politik für die kommenden sieben Jahre kal kulierbar gestalten. Wenn wir es jetzt nicht tun, wird es nach der Wahl einen Wechsel in vielen Positionen – vom Präsiden ten über den Kommissar bis zum Parlament – geben.

(Zuruf von der AfD: Genau! Das ist der Punkt!)

Das heißt, wir beginnen diese schwierigen Verhandlungen bei null, und es wird nicht gelingen, diesen Mehrjährigen Finanz rahmen pünktlich an den Start zu bringen. Damit würde eu ropäische Politik unkalkulierbar. Das kann nicht unser politi sches Ziel sein. Deshalb muss alle Kraft darauf verwendet werden, diesen Finanzrahmen noch vor den nächsten Wahlen zustande zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU und der SPD)

Das wird schwierig genug. Ob das eine realistische politische Forderung ist, dahinter setze ich ein großes Fragezeichen.

(Zuruf von der AfD: Wir auch!)

Ich finde, die Österreicher hätten sich in ihrer Ratspräsident schaft einen ehrgeizigeren Zeitplan in Sachen Mehrjähriger Finanzrahmen vornehmen können. Dann wären wir jetzt viel leicht einen Schritt weiter. Trotzdem sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben,

(Zuruf von der AfD)

dass das vor den Wahlen zum Europäischen Parlament noch gelingt.

Heute ist mehrfach das Thema Subsidiarität angesprochen worden, insbesondere vom Kollegen Kößler. Ja, ich bin auch froh, dass es diese Taskforce Subsidiarität gegeben hat, und ich bin froh, dass sie einen Abschlussbericht vorgelegt hat. Ich bin nicht ganz so froh über die Unverbindlichkeit mancher Formulierungen in diesem Abschlussbericht. Ich kann nur sa gen: An ihren Taten sollt ihr sie messen und erkennen. Da ist

mir noch ein bisschen zu viel Prosa drin. Ich habe das auch in der letzten Sitzung des Ausschusses der Regionen zum Aus druck gebracht.

Wir wollen wirklich erfahren, dass auf der Brüsseler Ebene verstanden worden ist, dass in Europa nur die Aufgaben ge regelt werden müssen, die sinnvollerweise auf der europäi schen Ebene geregelt werden, dass wir aber jene Zuständig keiten auf der nationalen oder regionalen Ebene angesiedelt wissen, die dort auch besser aufgehoben sind. Wir müssen al so bei allen Entscheidungen peinlich darauf achten, ob regio nale Interessen berührt sind.

Erst wenn all diese Forderungen, die wir auch aus BadenWürttemberg in diese Taskforce eingebracht haben, erfüllt sind, kann ich von einem wirklichen Erfolg sprechen. Da bin ich noch ein bisschen skeptisch.

(Beifall des Abg. Daniel Rottmann AfD)

Aber wir wollen den Fortgang gemeinsam gestalten und auch entsprechend vorantreiben.

Wir haben die Baustelle in Frankreich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich nehme mich selbst gar nicht aus und bin dafür manchmal auch kritisiert worden: Ja, auch wir haben im fran zösischen Präsidenten Macron dieses wertvolle und wichtige Signal für Europa gesehen und haben viele seiner Ideen sehr positiv begleitet. Wir müssen inzwischen feststellen, dass er in weiten Teilen damit auch in seinem eigenen Land geschei tert ist.

(Zuruf von der AfD: Aha! – Zuruf: Das war doch von Anfang an klar!)

Seine Zustimmungswerte liegen zeitweise noch unter den schlechtesten seines Vorgängers Hollande. Dass er sich jetzt mit einer Rede, die Mehrausgaben im Umfang von 12 Milli arden € zur Folge hat, vorerst Luft verschafft hat, kündet nicht gerade von ganz stabilen Verhältnissen.

Insofern will ich schon auch deutlich machen: Wir müssen manches, was aus Frankreich mit Blick auf Europa vorge schlagen wird, auch kritisch hinterfragen. Nicht alles, was ein französischer Staatspräsident vorschlägt, schlägt er auch im europäischen Interesse vor. Deshalb ist da sicherlich auch ei ne gewisse Skepsis angebracht.

(Abg. Dr. Bernd Grimmer AfD: Im französischen In teresse! – Weitere Zurufe von der AfD und der CDU)

Nächsten Montag ist Weihnachten. Wir sind schon eine Wei le länger im Parlament. Ich möchte Ihnen den Rat geben, dass auch Sie die Weihnachtszeit nutzen, um den Motor ein biss chen herunterzufahren und sich etwas Ruhe zu geben – auch und gerade beim Thema Europa, wenn ich mir diesen guten Rat erlauben darf.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der AfD, der SPD und der FDP/DVP – Zu ruf der Abg. Nicole Razavi CDU)

Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss es im Sin ne Europas gelingen, den deutsch-französischen Motor wie der anspringen zu lassen. Deshalb müssen wir auch aus

Deutschland heraus die richtigen Antworten geben, damit der französische Präsident in seinen Vorstellungen für Europa ei nen Partner bekommt, der mit ihm gemeinsam Europa revita lisiert und mit neuem Leben erfüllt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch abseits des Brexits tut sich Europa manchmal schwer, den inneren Zusammenhalt in der Union zu gewährleisten. Rumänien stellt seine zum Jah reswechsel beginnende Präsidentschaft unter das Motto „Zu sammenhalt, ein gemeinsamer europäischer Wert“. Das war die Idee der rumänischen Ratspräsidentschaft. Dieser Zusam menhalt – auch das ist heute mehrfach angeklungen – ist in Gefahr. Bei manchen wichtigen Themen scheint die Europä ische Union auseinanderzudriften. Aber um gemeinsam vor anzukommen, brauchen wir einen gemeinsamen Kompass.

Die Europäische Union verfügt mit den EU-Verträgen und in ihren dort niedergelegten Grundsätzen sowie der Grund rechtecharta über einen guten Kompass. Ihr zentraler Kern ist das Rechtsstaatsprinzip. Dazu gehört vor allem die Unabhän gigkeit der Justiz. Eine unabhängige Justiz ist ganz wesent lich für das Funktionieren unserer Demokratie und das Ver trauen der Bürgerinnen und Bürger in ihren Staat.

(Abg. Thomas Blenke CDU: Sehr richtig!)

Alle EU-Mitgliedsstaaten haben sich zur Einhaltung dieser Prinzipien verpflichtet. Aktuell stehen aber besonders Rumä nien, Polen und Ungarn diesbezüglich in der Kritik.

Ich wünsche mir – vor Weihnachten darf man sich ja etwas wünschen und das auch mit einer Forderung verbinden – von allen drei Staaten, die Einwände der Europäischen Kommis sion und der Venedig-Kommission des Europarats zu konkre ten Gesetzen ernst zu nehmen. Hier geht es nicht um Einmi schung in innere Angelegenheiten; es geht darum, unsere ge meinsamen europäischen Werte überall in der EU gleicher maßen zum Alltag werden zu lassen. Das ist europäisches Fundament, und darauf, dass dies eingehalten und gestärkt wird, müssen wir achten.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend

(Abg. Dr. Erik Schweickert FDP/DVP: CO2!)

zum Ende dieses Jahres den Blick auf das kommende Jahr richten. Am 26. Mai finden die Wahlen für das Europäische Parlament statt. Das Europäische Parlament hat durch den Ver trag von Lissabon wichtige Rechte erhalten. Es ist in fast al len Bereichen Mitgesetzgeber. Der Kommissionspräsident wird von der Mehrheit des neuen Parlaments bestimmt wer den.

Die Europawahl wird deswegen eine wichtige Weichenstel lung für Europas Zukunft. Bleibt Europa auf Kurs? Wird die Europäische Union zum Garanten für unsere Durchsetzungs fähigkeit auf internationalem Parkett? Schützen wir zusam men unsere Interessen, auch gegenüber einem unkalkulierba ren Präsidenten im Weißen Haus und machthungrigen Poten taten in Moskau oder Peking, oder geben wir den Populisten von links und rechts nach und verlieren uns in rückwärtsge wandtem Nationalismus?