Protokoll der Sitzung vom 20.12.2018

Frau Präsidentin, werte Kol leginnen und Kollegen! Alle Tage im Landtag sind wichtig. Manche Tage sind besonders wichtig, weil ihnen ein Hauch von Besonderem und Einmaligem innewohnt. Heute ist ein solcher Tag, mit den Tagesordnungspunkten 1 und 2.

Was am 23. Juli 2015 um 21:35 Uhr im Gemeinderat der Stadt Reutlingen mit einem mit 30 : 10 Stimmen verabschiedeten Antrag auf Erklärung der Großen Kreisstadt zum Stadtkreis seinen Anfang genommen hat, findet heute seine finale Wür digung im und durch den Landtag von Baden-Württemberg.

(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU)

Zum ersten Mal – wir haben es gehört – in der Geschichte un seres Landes hat eine Stadt einen Antrag nach § 3 der Gemein deordnung gestellt. Danach können Gemeinden durch Gesetz auf ihren Antrag hin zu Stadtkreisen erklärt werden. Mehr ist nicht geregelt, und das Gesetz gibt auch keine konkreten Kri terien vor, die man einfach nacheinander abprüfen könnte, um danach zu einer Entscheidung zu kommen. Der Landtag hat einen weiten Raum eigenverantwortlicher Gestaltungs- und Abwägungsfreiheit, und nur er kann diese Entscheidung tref fen, sonst niemand.

Da in diesem Fall gleichzeitig die Interessen des Landkreises berührt sind, müssen auch die Landkreisordnung und die Lan desverfassung berücksichtigt werden. Wir haben es gehört: Landkreisgrenzen können aus Gründen des öffentlichen Wohls geändert werden. Nur unter umfassender Würdigung all die ser Regelungen können wir mit einem Blick aufs Ganze zu ei nem überzeugenden Ergebnis kommen. Das ist uns wichtig für die Stadt Reutlingen, für den Landkreis Reutlingen, aber auch für das Land Baden-Württemberg.

Nach mehr als drei Jahren, vielen Gesprächen, Expertisen, Stellungnahmen sowie Stellungnahmen zu Stellungnahmen ist die Zeit jetzt reif für eine abschließende Befassung des Landtags auf der Grundlage der Antwort auf unsere Große Anfrage, die immerhin 820 Seiten umfasst, und in Ansehung des Ergebnisses unserer gemeinsamen Anhörung.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Weiteres Zuwarten bringt keinen weiteren Erkenntnisgewinn, für niemanden. Es ist alles gesagt und geschrieben. Heute wird entschieden.

Worum geht es? Es geht um eine Antwort auf eine scheinbar einfache Frage: Liegen Gründe des öffentlichen Wohls vor, die es rechtfertigen, das Gebiet des Landkreises durch Erklä rung der Stadt zum Stadtkreis zu ändern? Darauf gibt es nur zwei kurze Antwortmöglichkeiten: Ja oder Nein. Aber die kür zesten Antworten setzen das meiste Nachdenken voraus. Das braucht Zeit, zumal es sich um den ersten Fall in der Ge schichte unseres Landes handelt.

Wir haben auch noch keinerlei praktische Erfahrung. Was wir allerdings haben – aus der Rechtsprechung – sind Gründe des öffentlichen Wohls, Gemeinwohlbelange, die verfassungs rechtliche Vorgaben für Gebietsänderungen beinhalten. Wir haben das vorhin im Rahmen der Anfrage gehört. Es geht um die Steigerung der Leistungsfähigkeit und der Effizienz der Aufgabenwahrnehmung, um die Sicherung der Solidität kom munaler Haushalte.

Schwierig wird es immer dann, wenn man vor der Frage steht, ob die vorgetragenen Gründe solche sind, die den Landtag zum Handeln in einer bestimmten Form veranlassen oder gar zwingen sollten.

Die Überprüfung der Voraussetzungen

der Gebietsänderung –

offenbart einen hohen Komplexitätsgrad und eine Mehr schichtigkeit des zu prüfenden Sachverhalts, wodurch ein kaskadenartiger Prozess unabdingbar wird.

Dieser Satz stammt nicht von mir; wenn Sie ihn nachlesen wollen, finden Sie ihn auf Seite 274 der Drucksache. – Das zeigt, wie schwierig das Ganze war und warum wir auch so lange gebraucht haben.

Nun ein kurzer Blick in die Chronologie: Mit Schreiben vom 23. März 2013 wendet sich die Oberbürgermeisterin an den damaligen Innenminister Gall und fragt nach den Vorausset zungen für eine Stadtkreisgründung. Der Innenminister ant wortet umfassend und weist schon damals darauf hin, dass bei der abwägenden Entscheidung keinesfalls allein die Situation der Stadt Reutlingen maßgeblich ist. Der Gemeinderat ist den noch der Auffassung – auf der Grundlage einer 44-seitigen Gemeinderatsvorlage mit zehn Kernaussagen –, dass die Vo raussetzungen vorliegen, und er stellt den Antrag auf Stadt kreisgründung.

Danach beginnt eine Phase umfangreichen Schriftwechsels aller Beteiligten. Am interessantesten waren für mich die Aus führungen der sowohl von der Stadt als auch vom Landkreis beauftragten Anwaltskanzleien, und zwar genau die Stellen, wo sich die beiden zum selben Sachverhalt entschieden wi dersprechen. Es geht z. B. im Hinblick auf die Würdigung der Erfolgsaussichten einer Klage um die Frage: Gibt es ein Be fassungsrecht oder eine Befassungspflicht des Landtags?

Ministerpräsident Kretschmann hat am 2. September im „Ge neral-Anzeiger“ um Verständnis dafür gebeten, dass der Vor gang in der letzten Legislaturperiode wegen der bevorstehen den Landtagswahl nicht mehr abgeschlossen werden konnte. Er hat darauf hingewiesen, dass eine komplexe, gründliche und fehlerfreie Abwicklung auch im Interesse der Stadt lie gen müsse, damit sie gerichtsfest geschieht und nicht nach po litischen Augenblicksmotiven. Genau diesem Zweck diente unsere Anhörung.

Jetzt liegen alle Informationen vor, die für eine fehlerfreie Ab wägung erforderlich sind. Das ist besonders wichtig, weil die Stadt Reutlingen bereits erklärt hat, Klage beim Verfassungs gerichtshof für den Fall zu erheben, dass ihrem Antrag nicht entsprochen wird. Zwar hat die Stadt an mehreren Stellen vor getragen, keinen Rechtsanspruch geltend zu machen; gleich zeitig erhebt sie allerdings den – vermeintlichen – Anspruch, dass mit den von ihr vorgetragenen Argumenten der Landtag im Rahmen seiner abwägenden Ermessensentscheidung aus ihrer Sicht nur zu einer richtigen Entscheidung kommen kann, nämlich der Erklärung zum Stadtkreis. Die Stringenz dieser Argumentation teilen wir nicht.

(Beifall bei der CDU)

Zugegeben, es hat lange gedauert bis zur heutigen Befassung; es ist einige Zeit ins Land gegangen. Und ja, es hätte schnel ler gehen können,

(Abg. Rainer Stickelberger SPD: So ist es!)

zumal mein Kollege Karl Klein und ich bereits im März 2017 nach Reutlingen gefahren sind, um uns aus erster Hand von der Oberbürgermeisterin informieren zu lassen.

Die Antwort der Landesregierung befasst sich umfangreich mit den Voraussetzungen für die Gründung eines Stadtkrei ses. Gründe des öffentlichen Wohls, die dafür sprechen, müs

sen die, die für den Status quo sprechen, überwiegen. Ein sol ches Überwiegen ist nach Auffassung der CDU-Fraktion im Verfahren nicht so zweifelsfrei und unwidersprochen vorge tragen worden, dass wir davon überzeugt werden konnten.

Ich will stichwortartig zwei, drei Beispiele nennen:

Die IHK führt aus, dass es aus ihrer Sicht zweitrangig ist, wel che Verwaltung nun eine Aufgabe erfüllt. Sie weist darauf hin, dass 70 % der Mitgliedsbetriebe sich gegen die Gründung ei nes Stadtkreises ausgesprochen haben. Im „General-Anzei ger“ war gestern ein vergleichbares Meinungsbild zu sehen. Nach Einschätzung der Handwerkskammer gibt es auch kei ne überwiegenden Vor- oder Nachteile. Nach Auffassung der Raumordnung sind nennenswerte Be- und Entlastungen nicht erkennbar. Die GPA kann eine Ermittlung finanzieller Vor- und Nachteile nicht vornehmen, weil keine belastbaren Fi nanzdaten wegen festgestellter Jahresrechnungen vorliegen.

Positive Auswirkungen hat die Stadt für das Jahr 2013 in ei ner Modellrechnung belegt. Sie prognostiziert darin eine jähr liche Entlastung von 4,6 Millionen € und eine jährliche Be lastung für den Landkreis von 2,9 Millionen €. Diese Zahlen werden vom Landkreis bestritten.

Die abschließende Entscheidung liegt beim Landtag, so die Antwort der Landesregierung. Wegen der zu treffenden Ent scheidungen verweise ich aus Zeitgründen auf die Ziffern 1, 2 und 4 unseres Entschließungsantrags. Vor dem Hintergrund der besonderen Situation der Stadt Reutlingen – das hat Kol lege Sckerl auch schon ausgeführt –, die als einzige Große Kreisstadt mit über 100 000 Einwohnern einem Landkreis an gehört, ersuchen wir mit Ziffer 3 unseres Entschließungsan trags Stadt und Landkreis, gemeinsam Möglichkeiten der Ver besserung der Zusammenarbeit und der Aufgabenerfüllung herauszuarbeiten und alle Möglichkeiten interkommunaler Zusammenarbeit zu nutzen. Wenn der ganze Prozess bisher eines gezeigt hat, dann dies: Diese Möglichkeiten gibt es durchaus. Was die Einzelheiten betrifft, verweise ich auf die Antragsbegründung.

Wir halten ergebnisorientierte Gespräche für geboten. Und wer weiß, vielleicht bestätigt sich dabei am Ende auch, was im „General-Anzeiger“ vom 27. August 2018 nachzulesen ist. Danach hat Frau Oberbürgermeisterin Bosch schon mehrfach prophezeit, dass die Stadt aus diesem Prozess gestärkt hervor gehen werde – so oder so.

Wir wünschen eine glückliche Hand bei der Auswahl des Mo derators. Er muss das Vertrauen von Stadt und Landkreis ge nießen. Im Zentrum des bevorstehenden Dialogs, den wir er warten, muss der Bürgernutzen stehen. Das ist für uns die zen trale Botschaft des heutigen Tages.

(Beifall bei der CDU)

Zum Schluss gäbe es noch vieles zur Berichterstattung der letzten Tage zu sagen. Um eine sich bereits abzeichnende Le gendenbildung zu vermeiden, möchte ich mich auf ein Zitat konzentrieren. Es war zu lesen – es klang auch in dem Vor trag des Kollegen Sckerl an; das darf man durchaus sagen –, die Grünen hätten gesagt: „Es spricht nichts gegen einen Stadtkreis, aber er muss nicht sein.“ Die CDU habe gesagt: „Darf nicht sein.“

Dazu stelle ich fest: Der zweite Satz stimmt nicht. Wir haben nie gesagt, dass es keinen Stadtkreis geben darf; wir haben immer nur gesagt: Es kann nur dann einen geben, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Und die liegen eben nach gründlicher, umfassender Prüfung nicht vor. Deswegen geht es dabei nicht um das Wollen oder Können oder Dürfen, sondern um die Frage: Liegen diese Gründe vor, oder liegen sie nicht vor?

(Beifall bei der CDU)

Vorwürfe an uns, wir würden die Bedeutung der kommuna len Selbstverwaltung im Grundgesetz und in der Landesver fassung nicht kennen, wir seien unwillig, uns mit den Interes sen der Stadt ernsthaft und sachgerecht zu befassen, und wür den uns vor einer Entscheidung wegducken, sind, wenn über haupt, nur vor dem Hintergrund einer großen Enttäuschung nachvollziehbar. Sie entbehren jeglicher Grundlage und wer den denen nicht gerecht, die sich intensiv mit dem Antrag der Stadt Reutlingen befasst haben. Das nimmt die CDU-Land tagsfraktion für sich in Anspruch.

(Beifall bei der CDU – Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU: Sehr gut!)

Wir haben unsere Arbeit gemacht. Mit der heutigen Entschei dung wollen wir deutlich machen, dass es darum geht, das Be stehende zu stärken und zukunftsfest weiterzuentwickeln und auch im Interesse des Landes nicht in unnötige Debatten über Verwaltungsstrukturen einzutreten. Dem Bürger ist es letzt lich egal, ob eine Leistung vom Rathaus oder vom Landratsamt erbracht wird.

(Zuruf von der SPD: Nein!)

Wir haben mit unserem Entschließungsantrag das große Gan ze im Blick. Er wird seine Wirkung vor Ort nicht verfehlen. Die kommunale Verantwortungsgemeinschaft in und um Reut lingen ist jetzt gefordert. Je größer heute die Mehrheit, desto stärker morgen die Botschaft. Wenn Sie eine starke Botschaft senden wollen, dann stimmen Sie für unseren Entschließungs antrag.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen – Zuruf: Bravo!)

Für die AfD-Fraktion erteile ich das Wort Herrn Abg. Stauch.

Sehr geehrte Frau Präsiden tin, liebe Kollegen, liebe Frau Bosch und lieber Herr Landrat!

(Abg. Thomas Poreski GRÜNE: Das darf man nicht!)

Ich denke, das ist heute erlaubt.

(Vereinzelt Beifall bei der AfD – Abg. Reinhold Gall SPD: Nein!)

Reutlingen ist meine Heimatstadt. Ich bin dort geboren und wohne mit einigen Unterbrechungen immer noch im Vorort Sondelfingen. Ich habe das Werden dieser Stadt seit 66 Jah ren miterlebt und mit begleitet. Sie liegt mir am Herzen, weil sie eine schöne Stadt ist – von ein paar örtlichen Ausnahmen abgesehen.

Stadt und Landkreis haben zusammengearbeitet und die Din ge positiv vorangebracht. Der Gemeinderat hat aber – ich möchte den Gemeinderat jetzt nicht beleidigen – schon viele falsche Entscheidungen gefasst. So wurde z. B. in den Sieb zigerjahren der meines Erachtens größte Fehler der Stadtge schichte gemacht: Man hat nämlich beschlossen, die Straßen bahn aus der Mitte zu reißen,

(Abg. Ramazan Selcuk SPD: Sprechen Sie einmal zum Thema!)

und hat damit eine schon weitreichende Schienenverbindung nach Pfullingen und Eningen im Süden und Betzingen und Ofterdingen westlich und nördlich der Stadt aufgegeben. Da für belasten seither unzählige Busse die Straßen der Stadt und der angefahrenen Orte.