Protokoll der Sitzung vom 20.12.2018

mit einem beachtlichen Angebot für die Bürgerinnen und Bür ger der Stadt, aber auch für das Umland, und zwar in allen kommunalen Handlungsfeldern, Verwaltung, Wirtschaft, Kul tur, Soziales und vieles mehr.

Allerdings ist Ansehnlichkeit allein heute, 200 Jahre nach den ersten Stadtkreisgründungen, kein taugliches Entscheidungs kriterium mehr. Unsere Kommunalverfassung verlangt für die Erklärung einer Stadt zum Stadtkreis, also für ihre Herauslö sung aus dem Landkreis, zu dem sie gehört, eine Entschei dung des Gesetzgebers, die durch Gründe des öffentlichen Wohls gerechtfertigt sein muss.

Die Interessen der Allgemeinheit an der Gebietsänderung müssen also das Interesse, am Status quo, am unveränderten Gebietsbestand festzuhalten, überwiegen. Der Gesetzgeber – der Landtag – muss auf der Grundlage einer ausreichenden Sachverhaltsermittlung eine eigenverantwortliche Abwä gungsentscheidung treffen. Richtschnur für diese Entschei dung ist das Gemeinwohl und sonst nichts.

In der Rechtsprechung sind als beachtliche Belange des öf fentlichen Wohls u. a. die Steigerung der Leistungsfähigkeit von Kommunen, die Effizienz der kommunalen Aufgaben wahrnehmung, die Sicherung der Solidität kommunaler Haus halte, raumordnerische Aspekte, die Sicherung einer umfas senden Daseinsvorsorge anerkannt.

Insofern ist zu beachten, dass die Stadt Reutlingen nicht für sich allein steht. Sie ist seit der Gründung unseres Landes Teil des ebenfalls starken und leistungsfähigen Landkreises Reut lingen und als kreisangehörige Gemeinde seit jeher in vielfäl tiger Art und Weise mit dem Landkreis verwoben. Die kom munale Aufgabenerfüllung liegt also in mehreren Händen. Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung steht eben nicht nur der Stadt Reutlingen, sondern auch dem Landkreis Reutlin gen zu.

Der Wunsch der Stadt Reutlingen, den Landkreis Reutlingen zu verlassen und ein eigener Stadtkreis zu werden, bedarf da her einer außerordentlich vielschichtigen Betrachtung unter allen möglichen Aspekten, zumal die gesetzlichen Regelun gen keine konkreten Vorgaben für das in einem solchen Fall durchzuführende Verfahren machen und zumal es auch keine Erfahrungswerte gibt. Der Antrag der Stadt Reutlingen ist der erste seiner Art in der Geschichte unseres Landes.

Im Rahmen der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktio nen von Grünen und CDU hat die Landesregierung die Grund lagen für die Abwägungsentscheidung des Landtags über den Antrag der Stadt Reutlingen umfassend und gründlich aufge arbeitet. Die rechtlichen Hintergründe der von der Stadt Reut lingen begehrten Erklärung zum Stadtkreis wurden ebenso be leuchtet wie die möglichen Auswirkungen auf alle erdenkli chen kommunalen Handlungsfelder.

Die Stellungnahmen aller Ressorts, einschließlich des jeweils nachgeordneten Bereichs, sind in die Antwort der Landesre gierung eingeflossen, ebenso Stellungnahmen des Regional verbands, der Industrie- und Handelskammer, der Handwerks kammer und des Statistischen Landesamts.

Maßgebliche Stellungnahmen wurden der Antwort als Anla ge beigefügt, insbesondere der Antrag der Stadt Reutlingen und deren weitere Stellungnahmen sowie die Stellungnahmen

des Landkreises Reutlingen. Die Fakten – insgesamt über 800 Seiten Papier – liegen damit auf dem Tisch.

Es liegt auf der Hand, dass es keine leichte Entscheidung ist, die der Landtag zu treffen hat, und es liegt auf der Hand, dass sich alle Beteiligten die Entscheidung auch nicht leicht ge macht haben. Für die Landesregierung gilt dies insbesondere im Hinblick auf die dargestellte Aufbereitung der Entschei dungsgrundlagen. Auch wurde das Anliegen der Stadt Reut lingen auf verschiedenen Ebenen in zahlreichen Gesprächen mit den Beteiligten umfassend erörtert.

Die Landesregierung hatte im Rahmen der Antwort auf die Große Anfrage im Übrigen keine abschließende Bewertung vorzunehmen. Diese obliegt dem Landtag. Unter eingehender Würdigung aller vorgetragenen Argumente liegt aus Sicht der Landesregierung allerdings die Einschätzung nahe, dass sich der Antrag der Stadt Reutlingen aus übergeordneter Perspek tive, die das ganze Land in den Blick nimmt, nicht auf Grün de des öffentlichen Wohls stützen kann.

Die Strukturen des Landes, die seit der Kreisreform im Jahr 1973 bestehen, haben sich aus Sicht der Landesregierung ins gesamt bewährt. Die Stadt Reutlingen befindet sich als kreis angehörige Gemeinde insgesamt nicht in einer Situation, die aus übergeordneten Belangen des Gemeinwohls der Änderung in Form einer Erklärung der Stadt zum Stadtkreis bedarf.

Das heißt freilich nicht, dass man insbesondere angesichts der von der Stadt Reutlingen vorgetragenen Argumente nicht vor Ort über eine Verbesserung und Anpassung der Zusammenar beit zwischen der Stadt Reutlingen und dem Landkreis Reut lingen in einigen Bereichen sprechen könnte. Die Landesre gierung würde es daher ausdrücklich begrüßen, wenn die Stadt und der Landkreis die Anregung aus dem Entschließungsan trag der Fraktionen der Grünen und der CDU aufgreifen wür den und in gemeinsame Gespräche über die Rahmenbedin gungen und mögliche Verbesserungen der künftigen Zusam menarbeit eintreten.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Über den Antrag der Stadt Reutlingen, zum Stadtkreis erklärt zu werden, gab es zwischen den Beteiligten eine Auseinan dersetzung, die in der Sache auch durchaus hart geführt wur de. Das kann man ja auch verstehen. Ich würde mir freilich wünschen, dass nach der heutigen Entscheidung des Landtags der Blick nach vorn gerichtet wird, dass diese Entscheidung auch von der Stadt Reutlingen akzeptiert wird und dass vor Ort gemeinsam nach Wegen gesucht wird, um die kommuna le Zusammenarbeit zwischen der Stadt und dem Landkreis Reutlingen in Zukunft noch erfolgreicher miteinander zu ge stalten.

(Beifall bei der CDU)

Ich denke, das wäre im Sinne der Bürgerinnen und Bürger der Stadt Reutlingen, aber auch des Landkreises Reutlingen.

Besten Dank.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

In der zweiten Runde erteile ich das Wort für die Fraktion GRÜNE Herrn Abg. Poreski.

(Abg. Rainer Hinderer SPD: Schwerer Gang!)

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Stadtkreisgründung oder nicht, das ist eine wichtige Sachfrage, aber keine Gewissensfrage über Sein oder Nichtsein. Es geht um eine sachgerechte Abwägung und ebenso um Verhandlungen in der Sache. Dies zu tun sollte, finde ich, hier nicht Gegenstand von Häme oder ätzender Kri tik sein. Kollege Stickelberger, es hätte Ihnen, es hätte der SPD-Fraktion freigestanden, hier im Landtag einen eigenen Antrag einzubringen.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Genau!)

Hier ist der Platz dafür. Sie haben das nicht vermocht, obwohl Sie einen ehemaligen Justizminister in Ihren Reihen haben, einen ehemaligen Innenminister in Ihren Reihen haben – der den Antrag übrigens auch zehn Monate hat liegen lassen.

(Beifall bei den Grünen und der CDU – Widerspruch bei der SPD)

Da kann ich nur sagen: Gut gebrüllt, Bettvorleger!

(Abg. Andreas Stoch SPD: Sie treibt das schlechte Gewissen, Herr Poreski! – Zuruf des Abg. Reinhold Gall SPD)

Wir haben uns in der Koalition intensiv mit den Argumenten – –

(Unruhe)

Darf ich vielleicht weiterreden?

Herr Abg. Poreski, einen Mo ment. – Meine Damen und Herren, ich finde, die Debatte war bisher sehr sachlich und sehr ruhig.

(Zuruf des Abg. Reinhold Gall SPD)

Es würde uns gut anstehen, dies so fortzusetzen. – Vielen Dank.

Wir haben uns in der Koali tion intensiv mit den Argumenten der Stadt Reutlingen und der Position des Landkreises auseinandergesetzt.

(Zurufe der Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU und Ge org Nelius SPD)

Beide – das müssen wir sagen – haben gute und starke Argu mente für ihre Anliegen.

Das grüne Fazit lässt sich so zusammenfassen: Eine Stadt kreisgründung wäre möglich und schlüssig, aber rechtlich nicht zwingend.

(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU)

Letzteres bestätigt auch der Rechtsberater der Stadt, Profes sor Dolde.

Die CDU ist in der Abwägung – ich glaube, das formuliere ich richtig, Kollege Hockenberger – gegen eine Stadtkreis gründung. Das ist – das möchte ich betonen – ebenso legitim wie unsere Position. Wir haben dabei eine Schnittmenge, die Raum für eine konstruktive Verständigung schafft, und diesen Raum wollen wir nutzen. Im Ergebnis schlagen wir keine Stadtkreisgründung vor, weil wir keine Gründe des öffentli

chen Wohls sehen, die diesen Schritt als unumgänglich er scheinen lassen. Aber wir signalisieren mit unserem Entschlie ßungsantrag auch sehr klar: Es darf nicht so bleiben, wie es ist.

In einer Reihe von kommunalen Verantwortungsfeldern gibt es zwischen der Großstadt Reutlingen und den ländlicher ge prägten Kommunen im Landkreis strukturell unterschiedliche Interessen. Die Bedarfe einer Großstadt sind in vielen Fällen größer und anders gelagert, vor allem, aber nicht nur in der Sozialpolitik. Bedarfe, wie sie – z. B. bei sozialen Brennpunk ten – Reutlingen als Großstadt hat, treffen im Kreistag auf ei nen Stimmenanteil von maximal 40 %. Das wird dann auf Dauer kritisch, wenn die entsprechenden Finanzbedarfe der Großstadt weit über 40 % liegen – in Bereichen, die einen Großteil des Kreishaushalts ausmachen.

Herr Abg. Poreski, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Selcuk zu?

(Zuruf des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU)

Ja, ich lasse sie gern zu. Ich hoffe, dass Sie beim nächsten Mal meiner Bitte auf Zulassung einer Zwischenfrage auch stattgeben, lieber Kollege.

Vielen Dank, Herr Kollege Po reski, für das Zulassen der Zwischenfrage. – Sie haben gesagt, es dürfe so nicht weitergehen. Es wurde jetzt immer wieder gesagt, es sei etwas entschieden worden. Ich sehe es nicht so, dass es sich um eine Entscheidung handelt.

Es wurde immer dieser Dialog angesprochen. Nach dreiein halb Jahren soll jetzt ein Dialog stattfinden. Ich frage Sie: Wie sieht es bezüglich der Verbindlichkeit dieses Dialogs aus? Wie verbindlich soll er sein, und was für einen Zeithorizont soll dieser Dialog haben? Wenn es schon dreieinhalb Jahre gedau ert hat, bis wir so weit sind, wie lange soll dann hier der Zeit horizont sein?

(Abg. Thomas Blenke CDU: Abwarten!)

Lieber Kollege Selcuk, ich komme in meinen weiteren Äußerungen noch zur Beantwor tung dieser Frage, weil die Antwort natürlich in einem größe ren Zusammenhang zu stehen hat.

(Abg. Ramazan Selcuk SPD: Ah ja!)