Protokoll der Sitzung vom 20.03.2019

Es gibt unterschiedliche Auffassungen über den Weg dorthin, aber im Ziel besteht Einigkeit. Das ist wichtig; das ist wich tig für die Inklusion, und es ist auch wichtig für unsere De mokratie.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Für uns Grüne war und ist das inklusive Wahlrecht ein hohes Gut. Jahrzehntelang wurden Menschen mit Behinderungen, für die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten eine Be treuung bestellt ist, pauschal diskriminiert. Ihnen wurde das wesentliche Recht einer Demokratie vorenthalten: das Recht, zu wählen, das Recht, die Volksvertretung mitzubestimmen.

Damit ist in Baden-Württemberg jetzt Schluss, und das ist un eingeschränkt gut so.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Ihre Haltung, liebe SPD, zum Bundesverfassungsgericht, die ich eben vernehmen musste, finde ich mehr als zweifelhaft. Wir achten dieses höchste Gericht

(Abg. Andreas Stoch SPD: Ich glaube, Sie haben es nicht verstanden! – Zuruf der Abg. Sabine Wölfle SPD)

und haben daher in der Koalition vereinbart, auf dessen Ur teilsspruch zu warten. Jetzt hat sich das Bundesverfassungs gericht klar geäußert. Pauschale Wahlrechtsausschlüsse von in allen Angelegenheiten Betreuten sind eine Ungleichbehand lung und eine Benachteiligung für Menschen mit Behinderun gen. Das widerspricht dem Grundgesetz. Das wurde eindeu tig festgestellt.

Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht aber offenge lassen, ob ein Ausschluss von Wahlen zulässig sein kann – nicht: muss –, wenn jemand nicht hinreichend politisch kom munizieren kann. Dazu müsste der Gesetzgeber die auszu schließenden Gruppen anhand von verfassungsrechtlich zu lässigen Kriterien bestimmen. Es zeichnet sich ab, dass sol che Kriterien nicht bestimmt werden können und daher Wahl rechtsausschlüsse wahrscheinlich auch im Bundesgesetz auf gehoben werden.

Dennoch steht die geforderte Neuregelung im Bund noch aus. Daher sehen wir den richtigen Ansatz in einer Übergangslö sung. Denn diese berücksichtigt zwei Aspekte.

Erstens: Verfassungskonformität. Die pauschalen Wahlrechts ausschlüsse werden nicht mehr angewandt. Damit dürfen die betroffenen Menschen an allen Wahlen auf kommunaler und auf Landesebene teilnehmen, also auch an der Kommunal- und Regionalwahl am 26. Mai dieses Jahres.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Zweitens ist es uns ein wichtiges Anliegen, die wahlrechtli chen Bestimmungen auf den Ebenen Europa, Bund, Land und Kommunen in bewährter Weise einheitlich auszugestalten. Daher trifft unser Gesetzentwurf keine Neuregelung, erzielt aber Gerechtigkeit und ermöglicht später Einheitlichkeit.

Diese Auffassung teilen auch der Landkreistag, der Gemein detag und der Städtetag von Baden-Württemberg in ihren Stel lungnahmen zum Gesetzentwurf der SPD. Diese Stellungnah men bestätigen unseren Gesetzentwurf.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Wir Grünen bedauern es außerordentlich, dass es bei der Eu ropawahl am 26. Mai beim Wahlausschluss für vollbetreute Menschen bleiben wird. Dies haben die Regierungsfraktionen im Bund zu verantworten. Erst letzte Woche fand erneut eine Debatte im Bundestag statt. Dort hätte es die Möglichkeit ge geben, liebe SPD,

(Zuruf der Abg. Sabine Wölfle SPD)

Wahlausschlüsse ersatzlos zu streichen.

(Beifall bei den Grünen – Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Dazu konnten sich CDU, CSU und SPD nicht durchringen, obwohl sie sich im Koalitionsvertrag ein inklusives Wahlrecht für alle vorgenommen haben.

(Zuruf: Hört, hört!)

Es ist schwer vermittelbar, warum die 5 900 betroffenen Men schen in Baden-Württemberg an der Kommunalwahl teilneh men dürfen, aber bei der zeitgleich stattfindenden Europawahl nicht abstimmen dürfen. Aber die Bundesgesetzgebung liegt nicht in unserer Hand.

(Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Aha!)

Die Landesgesetzgebung, das, was in unserer Zuständigkeit liegt, gestalten wir hingegen verfassungskonform.

(Beifall bei den Grünen – Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, vor zehn Jahren hat die Bundesre gierung die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Deutsch land bekannte sich damit zur umfassenden Inklusion von Men schen mit Behinderungen. Damit ging das Versprechen ein her, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt an der Ge sellschaft teilhaben zu lassen. Eine Teilhabe ohne Wahlrecht ist undenkbar.

Mit unserem Gesetzentwurf gehen wir ohne weiteren Auf schub einen wichtigen Schritt zu einem inklusiven BadenWürttemberg.

(Abg. Daniel Born SPD: Befristet!)

Damit können vollbetreute Menschen mit Behinderungen end lich politisch teilhaben.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Ich darf für die CDU Herrn Kollegen Hockenberger ans Redepult bitten.

Sehr geehrte Frau Präsiden tin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wahlrecht ist das vornehmste Recht des Bürgers in der Demokratie. Es steht grundsätzlich jedem Volljährigen zu, auch Menschen mit Be hinderungen. Eine Ausnahme bilden die bisher gleichlauten den Wahlrechtsausschlüsse im Europa-, im Bundes-, im Land tagswahlgesetz und in den kommunalwahlrechtlichen Bestim mungen im Land Baden-Württemberg. Danach sind vom Wahl recht Personen ausgeschlossen, für die zur Besorgung aller ih rer Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweili ge Anordnung bestellt ist.

Die bundesweite Gesetzeslandschaft – wir haben es gehört – ist hinsichtlich dieses Wahlrechtsausschlussgrundes hetero gen. Verschiedene Bundesländer haben ihr Landtagswahlrecht und ihr Kommunalwahlrecht geändert und diesen Wahlrechts ausschlussgrund einfach ersatzlos gestrichen. Ob das vor dem Hintergrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts auf Dauer Bestand haben wird, wird sich noch zeigen müs sen. Eine entsprechende Gesetzesinitiative dazu gab es auch in der letzten Legislaturperiode im Bundestag. Das Gesetz kam nicht zustande.

Das alles war vor der Entscheidung des Bundesverfassungs gerichts vom 29. Januar 2019. Als Reaktion auf diesen Be schluss haben die Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD – wir haben es gehört – am letzten Freitag, 15. März, mit ei ner Entschließung reagiert, die allerdings nicht die ersatzlose Streichung des Wahlrechtsausschlussgrundes vorsieht. Ich verweise hier insbesondere auf die Ausführungen zur Wahl rechtsassistenz. Allerdings – auch das haben wir gehört – wird der Bundestag das Wahlrecht nicht mehr vor der Europawahl, sondern erst zum 1. Juli ändern.

In diesem Zusammenhang möchte auch ich noch einmal an das im letzten Jahr beschlossene Gesetz zur Änderung kom munalwahlrechtlicher Vorschriften erinnern. In der ersten Le sung habe ich das inklusive Wahlrecht unter Hinweis auf den Koalitionsvertrag im Bund thematisiert. Das kann man nach lesen. Die Koalition hat sich ein inklusives Wahlrecht für al le als Ziel gesetzt. Im Innenausschuss haben wir uns mit dem Antrag der SPD auf ersatzlose Streichung dieses Ausschluss grundes befasst. Wir haben diesen Antrag seinerzeit abgelehnt, und in der zweiten Lesung – auch das haben wir gehört – ha ben die Regierungsfraktionen einen Entschließungsantrag ein gebracht, dem der Landtag zugestimmt hat.

Ich darf ihn noch einmal in Erinnerung rufen: Wir wollten un mittelbar nach Vorliegen der Entscheidung des Bundesverfas sungsgerichts die sich daraus ergebenden Konsequenzen hin sichtlich der Umsetzung eines inklusiven Kommunalwahl rechts in Baden-Württemberg prüfen sowie einen Gesetzent wurf vorlegen, der unter Berücksichtigung dieser Entschei dung Menschen, für die eine Betreuung in allen Angelegen heiten bestellt ist, die Teilnahme an Wahlen ermöglicht.

Jetzt liegt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor – wir hätten sie gern früher gehabt –, und wir bringen heu te den in unserer Entschließung angekündigten Gesetzentwurf in den Landtag ein. Genau das haben wir in dieser Reihenfol ge festgelegt, und wir haben Wort gehalten.

(Beifall bei der CDU und den Grünen – Abg. Tho mas Blenke CDU: Sehr gut dargestellt!)

Unser Ziel war immer, eine verfassungsfeste und zukunftsge richtete Regelung zu finden und weitere Enttäuschungen für diese Menschen zu vermeiden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Regelung, die gleichlautend ist mit den kommunal wahlrechtlichen Bestimmungen, für unvereinbar mit dem Grund gesetz erklärt und nicht für nichtig erklärt. Es hat auch deut lich gemacht, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, diese Un gleichbehandlung in einem Gesetzgebungsverfahren zu be seitigen.

Die selbstbestimmte Wahrnehmung des Wahlrechts setzt vo raus, dass die grundsätzliche Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen dem Volk und den Staats organen in hinreichendem Maße besteht – so das Bundesver fassungsgericht. Deswegen entspricht es auch ständiger Recht sprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass es das unan tastbare Prinzip der Demokratie im Kern verletzen würde, wenn das Wahlrecht auch Personen zustünde, die an diesem Kommunikationsprozess nicht teilnehmen können. Es muss ein Mindestmaß an Einsichtsfähigkeit und Verständnis dafür vorhanden sein, worum es bei einer Wahl geht.

Das Bundesverfassungsgericht hat auch auf einen umfangrei chen Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Sozia les vom Juli 2016 verwiesen, auf den sich u. a. die SPD in ih rem neuen Gesetzentwurf bezieht. Auf Seite 289 dieses Be richts kommt man zusammenfassend zum Ergebnis, dass ei ne ersatzlose Streichung von § 13 Nummer 2 des Bundeswahl gesetzes nicht zu empfehlen ist.

Sie führte dazu, dass eine Teilnahme an der Wahl auch durch solche Personen erfolgen könnte, die aufgrund ge richtlicher Entscheidung als entscheidungsunfähig anzu sehen sind.

Vor dem Hintergrund dieses Urteils des Bundesverfassungs gerichts geht es uns darum, in Zukunft eine verfassungsfeste Lösung zu finden. Das entspricht insoweit auch dem Aktions plan der Landesregierung zur Umsetzung der UN-Behinder tenrechtskonvention.

(Beifall bei der CDU – Vereinzelt Beifall bei den Grünen)

Wir sehen bei weiterer Anwendung der identisch geregelten Wahlrechtsausschlüsse im Landesrecht auch ein rechtliches Risiko für Wahlanfechtungen. Deswegen schlägt unser Ge setzentwurf zu Recht eine Übergangsregelung vor, die wir in § 57 a des Kommunalwahlgesetzes zusammenfassen.

Darüber hinaus gehen wir über den Gesetzentwurf der SPD hinaus, indem wir die Dinge ganzheitlich angehen und sowohl für das Landtagswahlrecht als auch für weitere Abstimmungs rechte bei Volksbegehren usw. Vorbehaltsbeschlüsse treffen. Wir wollen, dass die Menschen mit diesen Einschränkungen künftig an allen Abstimmungen und Wahlen so lange teilneh men können, bis der Bund eine endgültige Entscheidung ge troffen hat.

Wir nehmen bei dieser Neuregelung in Kauf, dass Personen an den Abstimmungen teilnehmen, die vielleicht gar nicht teil nehmen dürften. Für uns gilt der Grundsatz: Lieber jemanden,

der eigentlich nicht wählen dürfte, als Wahlberechtigten zu lassen, als jemandem, der trotz Beeinträchtigungen durchaus noch eine Wahlentscheidung treffen kann, diese zu verweh ren.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Auch wir bedauern, dass es zu der von Frau Kollegin Dr. Lei dig beschriebenen Situation bei der Wahl am 26. Mai kom men kann. Ein davon Betroffener kann bei der Kommunal wahl wahlberechtigt sein, bei der Europawahl aber nicht. Das nehmen wir in Kauf, weil uns das politische Signal mit unse rem Übergangsgesetz wichtiger ist als diese Einschränkung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)