Im Ältestenrat wurde für die Aussprache eine Redezeit von einer Stunde und dreißig Minuten festgesetzt. Davon entfallen auf die Fraktion der CSU 42 Minuten, auf die Fraktion der SPD 30 Minuten und auf die Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN 18 Minuten. Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist Frau Kollegin Steiger.
Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatsministerin Stewens, Sie haben heute eine Haushaltsrede gehalten, die deutlich macht, dass dies ein Haushalt der Versäumnisse ist, und zwar ein Haushalt der Versäumnisse der vergangenen Jahre.
Man muss sich nur einmal die Situation der Forensik und der Kindertagesstätten anschauen. Besonders interessant war, dass sich Frau Staatsministerin Stewens in ihrer Rede als Erfinderin der Konnexität ausgegeben hat. Dabei ist es offensichtlich dem Gedächtnisverlust anheim gefallen, dass die SPD im Laufe der vergangenen Jahre vier Initiativen zur Konnexität und zum Konnexitätsprinzip gestartet hat, die allesamt in diesem Hause abgelehnt worden sind. Heute liegt uns ein Phantomhaushalt vor; denn wo wollen Sie einsparen, wenn Sie 500 Millionen Euro weniger haben? Dazu haben Sie nichts gesagt. Wer oder was muss mit Kürzungen rechnen?
Sprechen wir heute überhaupt über das, was morgen noch gültig ist? Frau Ministerin, ich dachte eigentlich, dass Ihre Verspätung heute Morgen darauf zurückzuführen sei, dass Sie Ihre Rede umschreiben müssen. Anscheinend war dies nicht der Grund.
Sie haben bei den Kosten für die Grundsicherung hellseherische Fähigkeiten bewiesen. Keiner kann in verlässlichen Zahlen sagen, welche Kosten anfallen werden. Für uns war interessant, dass Sie für das Zuwanderungsge
setz Mittel im Haushalt eingeplant haben. Offensichtlich gehen Sie von der Verfassungsmäßigkeit des Zuwanderungsgesetzes aus. Anders kann ich das nicht interpretieren. Ihre Ausflüge in die Bundespolitik waren nicht besonders erfolgreich.
Dazu muss man sich nur Ihre merkwürdige Rechtsauffassung hinsichtlich der Kostenübernahme durch die Krankenkassen für die Frühförderung oder das letzte Urteil zur Pflegeausbildung ansehen, auch wenn dieses Urteil von Ihrer Kollegin Hohlmeier ausging.
Damit verunsichern Sie vor allem die betroffenen Menschen. Sie verunsichern darüber hinaus die Träger und die Verbände. Gerade bei der Pflegeausbildung entsteht dadurch das Problem, dass Sie die Qualität und damit den Zugang von jungen Leuten in diesen Berufszweig verhindern. Sie sollten sich mehr um landespolitische Aufgaben kümmern. In der Zeit des Bundestagswahlkampfes hatte ich manchmal den Eindruck, dass das Sozialministerium eine Außenstelle der Staatskanzlei war, und das nicht einmal besonders erfolgreich.
Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Haushalt der Versäumnisse der vergangenen Jahre. Trotz der angestrengten Finanzsituation haben wir bei Kindern, Jugendlichen und Familien einen gewaltigen Nachholbedarf. Auf dieses Thema wird mein Kollege Heiko Schultz noch näher eingehen. Sehen wir uns einmal die Situation der Selbsthilfe an: Wir haben über 11000 Selbsthilfegruppen und Insolvenzberatungsstellen. Diese Stellen bleiben im Regen stehen. Wir haben ferner bei den Arbeits– und Sozialgerichten zu wenig Richterstellen. In der Forensik herrscht eine katastrophale Überbelegung. Sie haben diesen Punkt Gott sei Dank in den Haushalt aufgenommen. Die Anlagen müssen unbedingt saniert werden. Die Sicherheitsstandards sind unzureichend. Dieses Problem prangert Herr Kollege Wahnschaffe seit Jahren an. Sie haben jetzt endlich Mittel dafür eingestellt. Nach wie vor fehlt aber ein schlüssiges Gesamtkonzept.
Ich komme damit zum Landesplan für psychisch kranke und für psychisch behinderte Menschen. Ich bitte darum, künftig auch bei den Haushaltsberatungen nicht von „Behinderten“ zu sprechen, sondern von behinderten Menschen. Es geht um Menschen; dies sollte ein durchgängiges Prinzip werden.
Beim Landesplan für psychisch kranke und für psychisch behinderte Menschen wurde gekürzt, obwohl die Anzahl der Erkrankungen steigt. Bei der Pflege und bei der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung sowie beim regionalen Arbeits– und Ausbildungsmarkt ist die Situation ähnlich. Über die Ausbildungssituation haben
Sie hier und heute keine einziges Wort verloren. Ich halte das für bedauerlich, weil es in Nordbayern junge Menschen gibt, die verzweifelt einen Ausbildungsplatz suchen.
Lassen Sie mich zwei Schwerpunkte herausgreifen, nämlich den Arbeits– und Ausbildungsmarkt und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. In Bayern haben wir im Vergleich mit den anderen Bundesländern den zweithöchsten Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Die Arbeitslosenquote in Hof ist dreimal so hoch wie in Donauwörth.
Auf 100 Bewerber und Bewerberinnen entfällt in Oberbayern ein Angebot von 156 Ausbildungsstellen, in Oberfranken von 77 Ausbildungsstellen. Gleichzeitig steigt der Anteil der Jugendlichen, die die Schule oder die Berufsschule ohne jeden Abschluss verlassen. Bayern liegt dabei mit 8,6% um 2% über dem Bundesdurchschnitt. Der Anteil der Jugendlichen unter 25 Jahren an der Arbeitslosigkeit hat im letzten Jahr zugenommen. 23% mehr als im Vorjahr sind in Bayern ohne Arbeit.
Die Initiativen, die Sie dagegen ergreifen – Herr Kollege Kobler, Sie kommen später dran –, lauten: Die Komplementärmittel zum europäischen Sozialfonds werden um eine halbe Million e gekürzt; die Mittel zur Berufsfindung Jugendlicher im Sozialbereich werden um ein Drittel gekürzt; die Mittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Eingliederung älterer Arbeitsloser, für strukturpolitische Maßnahmen und zur Anschubfinanzierung werden gekürzt; die Mittel, die zur Beseitigung des NordSüd-Gefälles gedacht sind, und die Mittel zur Verringerung der Zahl von Ausbildungsabbrechern werden auch gekürzt.
Wir haben das Landesentwicklungsprogramm beraten. Eines seiner Ziele ist die Schaffung gleicher Lebens- und Arbeitsbedingungen in allen bayerischen Landesteilen. Gerade da, wo man ansetzen müsste, kürzen Sie die Mittel. Das war eine kontraproduktive Entscheidung. Wir haben ja noch die Aussage von Frau Ministerin im Ohr: Sollen doch die jungen Leute so flexibel sein wie im Urlaub und nach Oberbayern gehen. – Das ist nicht die Lösung des Problems, sondern schafft neue Probleme.
Das schafft strukturpolitische und landesplanerische Probleme. Sie sollten sich überlegen, ob Ihre Schwerpunktsetzung vielleicht danebenliegt.
Um das, was Versäumnisse sind, als etwas Positives darzustellen, sind 5 Millionen DM mehr im Haushalt der Staatskanzlei für Öffentlichkeitsarbeit im Wahljahr eingestellt. – Angesichts der stark steigenden Arbeitslosen
Ich komme nun auf die Hofberichterstattung aus dem Sozialministerium vom 07. 11. zu sprechen: Bayern hat die niedrigste Schwerbehindertenarbeitslosigkeit seit zehn Jahren. Ich sage: Gott sei Dank!
Dieses positive Ergebnis wurde durch das Beschäftigungsprogramm der Bundesregierung erreicht. Der Freistaat ist mit einer Quote von 3,9% anstatt 5% bei der Beschäftigung von Schwerbehinderten immer noch Schlusslicht.
Bayern liegt damit am Ende aller alten Bundesländer bei der Beschäftigtenquote. Das kostet Jahr für Jahr 7 Millionen e Ausgleichsabgabe.
Nun zu Ihrer Politik für Menschen mit Behinderung: Zuerst lehnen Sie unseren Gesetzentwurf ab, dann verweisen Sie auf den Bund, dann kündigen Sie einen eigenen Gesetzentwurf noch für diese Legislaturperiode an, aber im Haushalt sind keine Mittel für dessen Umsetzung enthalten.
Das dreijährige Sonderprogramm zur Förderung von Investitionen zur Schaffung von Heimplätzen läuft aus; ab 2004 gibt es keine Mittel mehr. Sie sollten einmal mit Ihrer Vorgängerin im Amt, der Vorsitzenden der Lebenshilfe in Bayern, Frau Kollegin Stamm, darüber reden, was sie davon hält. Bedarf für diese Mittel ist da; denn wir haben nach wie vor einen Mangel an Plätzen für ältere und alte behinderte Menschen, die von ihrer Familie nicht mehr versorgt werden können und einen Platz zum Leben in Würde brauchen. 8% der Bevölkerung in Bayern sind schwerbehindert, davon die wenigsten von Geburt an. Die Zahl der Menschen mit Schwerstbehinderung steigt wie auch die Zahl von behinderten Menschen, die aus dem Arbeitsleben ausscheiden und einen Wohnheimplatz brauchen, ohne pflegebedürftig zu sein. Hier besteht eindeutig ein Handlungsbedarf.
Wir wollen zumindest Mittel in Höhe der Hälfte der zu zahlenden Ausgleichsabgabe in den Haushalt einstellen, damit die nach dem Gesetz notwendigen Maßnahmen ergriffen werden können, damit Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen können. Die Aktion „Na und?“ im europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung ist zweifellos sehr gut und dazu angetan, überhaupt ein Problembewusstsein dafür zu schaffen. Das ist aber zu wenig, wenn man ernsthaft eine Gleichstellung behinderter Menschen erreichen will, und ich nehme an, dass Sie das genauso ernsthaft wie wir wollen. Dazu würde auch die Unterstützung der Kontaktstellen für die über 11000 Selbsthilfegruppen gehören.
Sie und wir waren in Würzburg und haben dort gehört, welch hervorragende Arbeit diese Selbsthilfegruppen leisten und welche Mittel sie brauchen: gerade einmal 20000 e für die notwendigsten Aktivitäten. Das haben Sie abgelehnt.
Gleiches gilt für die freiwilligen Zentren, wo wertvolle ehrenamtliche Arbeit unterstützt wird. Der Freistaat Bayern gibt gerade einmal 7 Cent pro Kopf der Bevölkerung für die Förderung von Selbsthilfegruppen aus. Damit ist Bayern wiederum ein negativer Spitzenreiter im Vergleich mit den anderen Bundesländern.
Sie haben in Ihrer Rede gesagt: „Nur wer Eigenverantwortung und Selbsthilfekräfte der Menschen stärkt, kann unseren Sozialstaat finanzierbar machen.“ Das stimmt, wie wahr! Warum lassen Sie dann aber gerade jene, die Sie loben, im Regen stehen? Die gleiche Frage ist auch zu stellen im Hinblick auf den ewig niedrigen Globalzuschuss für die Wohlfahrtsverbände, für die Ausstattung von Arbeits- und Sozialgerichten. Es gibt eine große Anzahl von Sozialgerichtsprozessen. Die Sozialgerichte sind hoffnungslos unterbesetzt. Sie haben auf meine Anfrage geantwortet, dass 46½ Richterstellen fehlen. Es darf doch nicht sein, dass Menschen zwei oder drei Jahre auf eine Entscheidung warten müssen oder dass sich das Problem vielleicht von selbst erledigt, weil die Kläger den Prozessausgang nicht mehr erleben.