Protokoll der Sitzung vom 29.01.2003

Erste Lesung –

Der Gesetzentwurf wird von der Staatsregierung nicht begründet. Eine Aussprache findet dem Vernehmen nach auch nicht statt.

Im Einvernehmen mit dem Ältestenrat schlage ich vor, den Gesetzentwurf dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als federführendem Ausschuss zu überweisen. Besteht auch damit Einverständnis? – Jawohl, es ist so beschlossen.

Wir kommen zum

Tagesordnungspunkt 7 c

Gesetzentwurf der Staatsregierung

eines Bayerischen Gesetzes zur Gleichstellung, Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderung und zur Änderung anderer Gesetze (Bayeri- sches Behindertengleichstellungsgesetz und Ände- rungsgesetze – BayBGG und ÄndG) (Drucksache 14/11230)

Erste Lesung –

Der Gesetzentwurf wird vonseiten der Staatsregierung begründet. Frau Ministerin Stewens, bitte schön.

Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Der vorgelegte Gesetzentwurf dient der Gleichstellung der Menschen mit Behinderung. Dabei geht es keineswegs um eine kleine Gruppe von Menschen. Nein, es geht um 1 Million Menschen mit Behinderung, die in Bayern leben. Behinderung kann jeden Einzelnen von uns treffen. 80% der Behinderungen entstehen im Laufe des Lebens durch Krankheit, durch Unfälle oder auch durch ein entsprechendes Alter.

Das Selbstbild der Menschen mit Behinderung hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Die Selbstbestimmung rückt bei den Menschen mit Behinderung immer stärker in den Vordergrund. Diesem Paradigmenwechsel von der Fürsorge und Versorgung hin zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft und am gesellschaftlichen Leben tragen wir mit dem jetzt vorgelegten Gleichstellungsgesetz Rechnung.

Übrigens spiegelt sich dies auch in Artikel 118 a der bayerischen Verfassung wider. Dort steht: „Menschen mit Behinderung dürfen nicht benachteiligt werden. Der Staat setzt sich für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung ein.“ So Artikel 118 a in der Fassung von 1998.

Zur näheren Ausgestaltung und Verwirklichung dieses Verfassungsauftrags dient jetzt das Bayerische Gesetz zur Gleichstellung, Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderung.

Bei der Verbandsanhörung traf vor allen Dingen bei den Betroffenen unser Gesetzentwurf auf große Zustimmung. Die Behindertenbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Ina Stein, hat die Betroffenenverbände, aber auch die Wohlfahrtsverbände über den runden Tisch einbezogen. Ich möchte mich hier gerade bei der bayerischen Behindertenbeauftragten Ina Stein ganz herzlich bedanken, aber natürlich auch bei allen anderen Beteiligten.

Das Gleichstellungsgesetz gibt einen sicheren rechtlichen Rahmen für die Gleichstellung behinderter Menschen und zur Verwirklichung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben. Das ist ein ganz wichtiges gesellschaftspolitisches Signal für ein menschliches, für ein soziales Bayern.

Die Leitlinie des bayerischen Gleichstellungsgesetzes ist, die Würde von Menschen mit Behinderung zu sichern und so weit wie möglich die Selbstbestimmung der Menschen zu ermöglichen. Das Gleichstellungsgesetz ist Teil des öffentlichen Rechts. Es hat keine Auswirkungen auf das Privatrecht. Es ist also kein Antidiskriminierungsgesetz. Sie wissen, dass dies bundesrechtlich zu regeln ist. Und es ist kein Leistungsgesetz wie das SGB IX.

Es ist ein Artikelgesetz. In § 1 werden die Gleichstellung, die Integration und die Teilhabe von Menschen mit

Behinderung in Bayern grundsätzlich geregelt. In den §§ 2 bis 8 werden Änderungen bestehender Landesgesetze vorgenommen.

Das bayerische Gleichstellungsgesetz lehnt sich in Grundaussagen, Aufbau und Definitionen an das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes an. Es hat dabei folgende Vorteile: Zum einen haben wir die Vereinfachung in der Handhabung für die Verwaltung; zum anderen haben wir eine einheitliche, klare und rechtssichere Handhabung für die Bürgerinnen und Bürger.

Wir haben in das bayerische Gleichstellungsgesetz auch eigenständige Regelungen aufgenommen, die weiter gehen als vergleichbare Regelungen im Bund. So haben wir die Sicherung der Teilhabe geregelt. Das betrifft zum Beispiel die Verankerung in den entsprechenden Fachprogrammen, etwa im Bayerischen Landesbehindertenplan oder auch im Psychiatrieplan, Regelungen zu barrierefreien Medien, Änderungen der Bauordnung und die Berücksichtigung der besonderen Belange von Menschen mit Behinderung bei Studieninhalten der Hochschulen. Ganz bewusst haben wir auf die Einbeziehung der Bereiche Erziehung und Bildung verzichtet. Dies soll in eigenen Fachgesetzen geregelt werden.

Hauptbestandteile und Schwerpunkte des bayerischen Gleichstellungsgesetzes sind die Definitionen zur Behinderung, zur Barrierefreiheit und – ein ganz wichtiger Bereich! – die Regelungen zur Gleichstellung von Frauen mit Behinderung, welche unter einer doppelten Benachteiligung zu leiden haben. Diese doppelte Benachteiligung soll endlich ausgeglichen werden. Hinzu kommen die Kostenerstattung für Gebärdensprachdolmetscher in Verwaltungsverfahren, das Benachteiligungsverbot für Träger öffentlicher Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderung, barrierefreie Bescheide sowie Vordrucke, barrierefreie Internetauftritte. Alle künftigen öffentlichen Neubauten sind barrierefrei zu errichten. Das gilt für Schulen, Behörden usw.

Weiter gibt es Regelungen zur Verbandsklage und zur Prozessstandschaft des Bundesrechts. Diese werden dann auf Landesrecht übertragen und sind aufgenommen, sodass unter engen Voraussetzungen Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot von einem anerkannten Verband vor Gericht gerügt werden können.

Das Amt der Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen wird gesetzlich verankert. Ebenso haben wir eine gesetzliche Verankerung von Beauftragten in den kreisfreien Gemeinden, Landkreisen und Bezirken.

Die §§ 2 bis 8 regeln die Änderung bestehender Landesgesetze, insbesondere des Landeswahlgesetzes, des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes, der Bayerischen Bauordnung, des Bayerischen Hochschulgesetzes, des Bayerischen Straßen- und Wegegesetzes und des Gesetzes über den öffentlichen Personennahverkehr.

Grundsätzlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass Gesetze natürlich nur den äußeren Rechtsrahmen schaffen. Den Rahmen müssen wir, die wir in Bayern

leben – 12 Millionen Menschen, 11 Millionen Menschen ohne Behinderung, 1 Million Menschen mit Behinderung –, gemeinsam ausfüllen. Wichtig für uns ist, dass wir alle gemeinsam die Barrieren in den Köpfen und in den Herzen abbauen. Notwendig ist, dass wir alle gemeinsam für eine gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderung sorgen und dass wir diese gesellschaftliche Akzeptanz weiter fordern. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam einen vertrauensvollen, vorbehaltlosen Umgang mit Menschen mit Behinderung in der Schule, am Arbeitsplatz, überall da, wo wir Menschen mit Behinderung treffen, fördern.

Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe auf eine wohlwollende Beratung des Gesetzentwurfes im Bayerischen Landtag.

(Beifall bei der CSU)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Erste Wortmeldung: Frau Steiger, bitte.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, spät kommt ihr, möchte man wieder sagen, aber leider geht sie jetzt, die Frau Ministerin. Spät kommt ihr, doch ihr kommt endlich mit dem Gesetzentwurf. Wir als SPD-Fraktion haben im Juli 2001 unseren Gesetzentwurf eingebracht und schon nach mehr als eineinhalb Jahren legen Sie Ihren Gesetzentwurf vor. Diese doch nun bessere Einsicht haben Sie, haben wir den Verbänden zu verdanken.

Hier möchte ich die Verbände und explizit die LAGH nennen und Frau Ina Stein als Behindertenbeauftragte der Staatsregierung, die mit ihrem ständigen Bohren der üblichen dicken Bretter dafür gesorgt haben, dass wir hier ein Stückchen weiterkommen. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.

Der Gesetzentwurf der Staatsregierung liegt vor. Gut, sage ich, dass Sie Ihre Ablehnung endlich abgelegt haben. Gut sage ich auch, weil ich vieles in dem Gesetzentwurf wiederfinde, was in unserem Gesetzentwurf steht, zum Beispiel die Barrierefreiheit, die Sicherung der Teilhabe, die Gebärdensprache, die Anerkennung der Selbsthilfeorganisationen, das Verbandsklagerecht, die Änderung verschiedener Einzelgesetze, Herr Staatssekretär: der Bauordnung, Hochschule, ÖPNV, Denkmalschutz usw. und so fort. Also, der Grundkonsens ist vorhanden und bezüglich der Notwendigkeit eines Landesgesetzes sind wir uns auch einig.

Ich will Ihnen aber sagen, weshalb wir mit diesem Gesetzentwurf nicht zufrieden sind und auch nicht zufrieden sein können. Es unterscheidet uns nämlich einiges Grundsätzliches. Wenn wir wirklich Gleichstellungspolitik machen wollen, wenn wir wirklich diesen Paradigmenwechsel in Bayern vollziehen wollen, den die Frau Ministerin angesprochen hat, weg von der Fürsorge hin zum selbstbestimmten Leben, wie es eben die rot-grüne Bundesregierung gezeigt und vorgemacht hat,

(Beifall der Frau Abgeordneten Werner-Muggendor- fer (SPD))

dann fehlen in Ihrem Gesetz leider ganz wichtige Punkte für diese eine Million Menschen mit Behinderung – – Es sind ja nicht nur die, die von diesem Gesetz betroffen sind, das möchte ich ausdrücklich sagen. Es gehört die Familie dazu, es gehören die Freunde dazu, es gehören die Selbsthilfeorganisationen dazu, es gehört das ganze Umfeld dazu. Das ist wesentlich mehr als eine Million nach unserer Auffassung. Da fehlen eben wichtige Punkte. Ich will drei nennen, die uns dann in der Diskussion im Ausschuss beschäftigen werden.

Das Erste ist das Kindergartengesetz und das Erziehungs- und Unterrichtsgesetz. Hier fehlt in einem Gleichstellungsgesetz, das den Wert eines Gleichstellungsgesetzes haben soll, die Kernaussage,

(Beifall der Frau Abgeordneten Werner-Muggendor- fer (SPD))

dass Kinder mit und ohne Behinderung, mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam unterrichtet und gemeinsam erzogen werden, gemeinsam leben und gemeinsam lernen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Frau Abgeordneten Gote (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Da kann man doch dazusagen, Näheres regelt das EUG. Das ist doch kein Problem. Warum trauen Sie sich denn nicht?

Der zweite Punkt ist der Landesbehindertenrat, vor dem Sie sich in dem Gesetzentwurf etwas drücken. Die Anhörung im Ausschuss hat gezeigt, wie wichtig dieser Landesbehindertenrat für die Selbsthilfe ist und dass wir also dringend eine solche Institution brauchen. Wir sollten ihn auch in dem Gesetzentwurf verankern. Wie sich der Landesbehindertenrat zusammensetzt, das kann eigenverantwortlich die Selbsthilfe machen. Das ist dann selbstbestimmtes Leben.

(Frau Werner-Muggendorfer (SPD): Wäre!)

Der dritte Punkt betrifft uns als Parlament, als Gesetzgeber. Das ist die Berichtspflicht gegenüber dem Landtag. Denn wir, die wir dieses Gesetz machen und verabschieden, müssen doch wissen, was an einem solchen Gesetzeswerk, das Neuland betritt, gut ist, was nicht so gut ist und wo Änderungen notwendig sind. Deshalb ist es wichtig, dass in einem solchen Gesetz auch eine Berichtspflicht gegenüber dem Landtag verankert ist.

Ich hoffe sehr, dass wir im Rahmen der Diskussion in den Ausschüssen so weit kommen, dass Sie in diesen drei Punkten nicht beratungsresistent sind und dass Sie sich da etwas bewegen,

(Kobler (CSU): Irgendwie kriegen wir das schon hin!)

dass wir uns dann konsequent damit beschäftigen können, wie wir eine wirkliche Gleichstellung umsetzen wol

len, damit eben die Barrieren abgebaut werden, sichtbare wie unsichtbare in den Köpfen. Das sollte unser gemeinsames Anliegen sein. Aber dazu gehören auch diese drei Punkte, die ich genannt habe. Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der Frau Abgeordneten Gote (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Nächste Wortmeldung: Herr Unterländer.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist außerordentlich positiv, dass wir heute die Erste Lesung zu einem Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderung beraten können. Denn es ist ein Meilenstein in der Behinderten-, ja in der gesamten Sozialpolitik für den Freistaat Bayern. Wir müssen beachten, der Grad der Menschenwürde in einer Gesellschaft – und das gilt auch für unser Land – hängt maßgeblich mit davon ab, wie es gelingt, Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zu integrieren und sie am Gemeinschaftsleben teilhaben zu lassen. Dabei haben sich die Vorstellungen und die Rahmenbedingungen insgesamt geändert, darauf wurde von Frau Staatsministerin Stewens bereits hingewiesen.

Wir haben auf der einen Seite – und das bitte ich bei dieser gesamten Diskussion in den Fokus der Betrachtung mit einzubeziehen – eine Diskussion bei einer Gesellschaft, wo es immer heißt: größer, schneller, weiter, wo – PID – das ungeborene Leben mit Behinderung nicht ausreichend gewürdigt wird. Beschlüsse des Ethikrats zum Beispiel haben auch Auswirkungen auf die Behindertenpolitik.