Protokoll der Sitzung vom 22.03.2000

(Dinglreiter (CSU): So ist es!)

Herr Ministerpräsident Dr. Stoiber, es gibt klügere Denker, die Jahrhunderte vor Ihnen die Ideen gesetzt haben. Kant zum Beispiel führt in seinem Werk zum ewigen Frieden den Föderalismus als ein Instrument zur Friedenssicherung ein. Er schreibt 1795:

Die Ausführbarkeit... dieser Idee der Föderalität, die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll und so zum ewigen Frieden hinführt, lässt sich darstellen.

Kant ging sicherlich von völkerrechtlichen Kategorien aus und nicht von einem innerstaatlichen Strukturprinzip. Spannend ist, dass er den Handelgeist in diesem Zusammenhang als Kraft für den ewigen Frieden beschreibt. Ich zitiere:

Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt.

Wir, 200 Jahre später, können diese visionäre Sicht Kants nur bewundern und gleichzeitig kritisch begleiten und bewerten; hat er doch in fast visionärer Weise die Entwicklung der Globalisierung vorhergesagt. Allerdings hat er sie als friedliches Mittel zum Aufbau friedlicher föderaler Strukturen gesehen. Wieweit dies heute gelingen kann, ist zu diskutieren und durch politische Arbeit zu begleiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte noch einmal auf die friedenssichernde Komponente des Föderalismus eingehen und darauf verweisen, dass Hitler 1934 mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ die Volksvertretungen der Länder abgeschafft und damit erst die Voraussetzung für die Durchsetzung der Kriegsstrategie des Nationalsozialismus geschaffen hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Alliierten – insbesondere die amerikanischen Vertreter –, die forderten, die föderale Länderstruktur im Grundgesetz zu verankern. Das war eine entscheidende Vorgabe. Wir erinnern uns auch, dass für den Beitritt der neuen Bundesländer, der als Beitritt gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes geregelt wurde, die Bildung von Ländern eine wesentliche Voraussetzung war. Der Föderalismus ist also nicht Ihr Verdienst, Herr Ministerpräsident Dr. Stoiber, und nicht Ihre Erfindung. Wenn Sie sich aber für einen ehrlichen und kooperativen Föderalismus einsetzen wollen, dann haben Sie unsere Unterstützung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir stehen in der Verantwortung, mit dem Föderalismus demokratische und friedenssichernde Strukturen auszubauen und gleichzeitig dem Wettbewerb den notwendigen Rahmen zu geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, kurz noch einmal zum „Handelsgeist“ kommen, den Kant beschrieben hat. Der „Handelsgeist“ hat sich durch die gegenwärtige Entwicklung der Globalisierung zum „Geist aus der Flasche“ entpuppt. Wir wissen, dass wir auf dem globalisierten Markt nur dann eine Chance haben, wenn die europäische Integration klar und mit Nachdruck vorangebracht wird. Das bedeutet, dass nicht nur die wirtschaftliche Vormachtstellung ausgebaut werden darf. Das bedeutet auch die Harmonisierung des Steuerrechts, des Arbeitsrechts und des Umgangs mit floatenden Geldströmen. Dazu braucht es auch eine Harmonisierung, die sich nicht nur der „goldenen Regel“, nämlich der „Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen“ verpflichtet fühlt. Dabei ist eine Harmonisierung notwendig, die sich an den Regeln der sozialen Gerechtigkeit, des Arbeitsschutzes, der Lebensqualität sowie an den Notwendigkeiten der Ökologie ausrichtet. Hier brauchen wir die Anstrengungen der Länder. Das bedeutet auch, dass die Abstimmung der Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene dringend nötig ist, um dem Schutz der Verfolgten und Bedrohten substanziell gerecht zu werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach unseren Vorstellungen bedeutet dies auch, dass die Menschenrechte und die europäische Friedenspolitik ausgebaut werden müssen. Das muss eine Friedenspolitik sein, die zuallererst einen breiten Katalog von zivilen Interventions- und Sanktionsmöglichkeiten entwickelt, und nur dann, wenn die abgestufte Anwendung dieser Maßnahmen nicht zur Konfliktbewältigung ausreicht, auf waffengestützte Maßnahmen setzt. Die GRÜNEN führen hierzu eine intensive Diskussion. Wir sind der Überzeugung, dass es nicht die militärische europäische Eingreiftruppe sein wird, die langfristig Konfliktbewältigung betreiben kann, sondern dass wir stattdessen eine zivile europäische Friedenspolizei brauchen. Nur dann werden wir im 21. Jahrhundert mit zivilen Einsätzen in Konfliktfällen der Aufklärung und dem Humanismus gerecht werden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verständigung auf gemeinsame globale, ökologische und soziale Kriterien, die Verständigung auf die Einhaltung und Wiedergewinnung von Menschenrechten sind die zwingenden Voraussetzungen für demokratische und föderale Strukturen. Erst dann, wenn wir diese zwingenden Voraussetzungen einhalten, werden wir die föderalen Strukturen einhalten und aufbauen können. Die Werte dürfen im Land nicht aufgegeben werden. Die Kompetenzen dürfen nicht an die EU oder die WTO abwandern. Diese Strukturen dürfen nicht geopfert werden. Und so ist es, meine Damen und Herren, eine eminent schwierige aber auch eminent wichtige und lohnende Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, die unseren Wertvorstellungen in der globalisierten Welt Geltung verschaffen. Dazu haben wir von Ministerpräsident Dr. Stoiber nichts gehört.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, wenn Ihnen der Föderalismus und der Ausbau gemeinsamer Wertvorstellungen und

gemeinsamer ökologischer, sozialer und globaler Rahmenbedingungen wirklich ein Anliegen wäre, hätten Sie anlässlich der letzten WTO-Runde in Seattle demonstriert.

(Lachen des Abgeordneten Glück (CSU))

Wo waren Sie denn? Wo war Ihre Unterstützung?

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CSU)

Die jungen Menschen, Vertreterinnen und Vertreter der NGOs, der GRÜNEN-Partei, sie haben begriffen: Den freigelassenen Flaschengeist der globalisierten Wirtschaft werden wir nur einfangen, wenn Demokratie, Menschenrechte, Ökologie und soziale Gerechtigkeit ebenso globalisiert werden, wie floatierende Geldströme und die Profitinteressen der Wirtschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So ist es notwendig, beispielsweise eine globalisierte Energiepolitik umzusetzen. Es ist notwendig, dass es endlich zu wirksamen Abkommen zur Vermeidung hochgiftiger, persistenter Stoffe kommt, dass Waffenexporte und Hermes-Bürgschaften endlich an die Einhaltung der Menschenrechte und ökologischer Standards gekoppelt werden.

(Zuruf des Abgeordneten Hofmann (CSU))

Diesen Notwendigkeiten können Sie nicht durch den Ausbau der Macht der Staatskanzlei Rechnung tragen. Vielmehr müssen Sie globale Verantwortung zeigen.

(Glück (CSU): Wer ist denn zurzeit Außenminister? – Zuruf des Abgeordneten Hofmann (CSU))

Herr Glück, es sind gerade die Bundes-GRÜNEN, die die Diskussion um Hermes-Bürgschaften offen und transparent führen,

(Zurufe von der CSU)

die in dem Zusammenhang Entscheidungen unter Berücksichtigung ökologischer Belange einfordern. Dass wir GRÜNE elf Atomprojekte ablehnen, die Sie vorbereitet haben und mit Hermes-Bürgschaften unterstützen wollten, ist ein wichtiger Beitrag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Herbert Müller (SPD))

Das ist der Beitrag zu der Transparenz, die wir brauchen. Waffenexporte und Hermes-Bürgschaften stehen in engem Zusammenhang mit zerstörerischen und kriminellen Militär- und Wirtschaftsstrukturen. Transparenz und Verantwortung, Demokratie, Ökologie und Menschenrechte, darum geht es. Doch dazu höre ich von Ihnen weder im Ausschuss der Regionen, noch im Bundesrat oder in anderen Zusammenhängen auch nur ein Wort, meine Damen und Herren von der CSU. Sie sind wohl gut gefahren mit gewissen militärischen und wirt

schaftlichen Komplexen. Wir werden sie aufbrechen und hier Demokratie und Transparenz erreichen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Wende in der Energiepolitik ist ebenfalls ein sehr notwendiger Beitrag zum globalen ökologischen Gleichgewicht, zur Stärkung föderaler Strukturen. Denn hochgiftige Stoffe machen eben nicht an Landesgrenzen Halt. Sie verteilen sich global. Das bedeutet: Wir brauchen globale ökologische Verantwortung. Wir freuen uns außerordentlich darüber, dass die Bundesregierung endlich ein Signal für eine verantwortliche Wende in der Energiepolitik, für den Einstieg in das solare Zeitalter setzt. Die entsprechenden Rahmenbedingungen sind beschlossen. Wir freuen uns natürlich auch darüber, dass damit in Bayern Handwerk und Mittelstand endlich die Innovationschancen erhalten, die sie verdienen und die sie brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Föderalismus als Hebel zum Machtausbau der CSU. Meine Damen und Herren von der CSU, schauen wir uns doch in Punkt 2 genau an, wie Sie den Förderalismus zum Ausbau der Macht einer zentralistisch gesteuerten Staatskanzlei missbrauchen. Durch das Agieren von Herrn Dr. Stoiber verkommt der Föderalismus zu einem Instrument nicht nur zum Ausbau der eigenen Macht, sondern wendet sich, natürlich parteipolitisch gefärbt, gegen Rot-Grün. Wie war es doch, als die große föderative Aufgabe anstand, die nicht deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger durch ein neues Staatsbürgerschaftsrecht zu integrieren? Da wurden plötzlich die Stammtische zum Sprachrohr der Staatsregierung. Die Stimmung wurde kräftig eingeheizt durch Ihre bekannte Kampagne. Fremdenfeindlichkeit wurde geschürt, ein gefährliches Spiel mit dem Feuer begonnen. Warum haben Sie sich in dem Zusammenhang nicht für verantwortliche föderale Strukturen eingesetzt?

Schauen wir weiter. Wo bleibt der Beitrag der von den Unionsparteien regierten Länder im Hinblick auf die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und für die Rentenreform? Hier wird blockiert und verzögert. Es ist klar: Wir befinden uns gerade wieder einmal im Wahlkampf, und zwar in Nordrhein-Westfalen.

Erinnern wir uns an Ihr Getöse, als es um den Atomausstieg ging. Damals wollten Sie sofort Klage auf EUEbene einreichen. Sie erklärten, der Euratom-Vertrag werde missbraucht, werde gebrochen. Diese Androhung lief ins Leere. Wir wissen es: Italien und Österreich sind ausgestiegen. Schweden hat den Ausstieg auf den Weg gebracht. Die Niederlande und Belgien haben Beschlüsse zum Atomausstieg vorangebracht. Meine Damen und Herren von der CSU, Ihre Ankündigung war nichts als Populismus, frei von jeglicher rechtlichen Substanz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erinnern wir uns an die Forderungen der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen. Dieses Gremium hat vorgeschlagen, die Arbeitslosen-,

Kranken-, und Pflegeversicherung zu regionalisieren. Ich kann es immer noch nicht verstehen, dass sich Bayern nicht zu schade war, im Wahlkampf das föderale Miteinader, die Solidarität mit den neuen Bundesländern zu opfern, und dass der Freistaat die Regionalisierung der Krankenkassen auf die politische Agenda gesetzt hat, und das trotz der wirtschaftlichen Einbrüche in den neuen Bundesländern, trotz der dortigen zweistelligen Arbeitslosenzahlen, trotz der Verschuldung der Sozialversicherungssysteme und der Krankenkassen. Das Vorgehen Bayerns war also wiederum von reinem wahltaktischen Populismus geprägt – von föderativer Verantwortung und Solidarität keine Spur.

(Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein weiteres Beispiel. Die besondere Form der Solidarität Bayerns ist derzeit bei der Umsetzung von „Natura 2000“ zu beobachten. Durch die nicht fachgerechte Meldung der FFH-Gebiete wird nicht nur der Artenschutz der Beliebigkeit überlassen, sondern beispielsweise auch die Zuteilung von Strukturfondsmitteln gefährdet, ganz abgesehen von den Möglichkeiten der Kofinanzierung hiesiger Projekte durch die EU. Dabei brächte der Schutz der entsprechenden Gebiete gerade der bayerischen Landwirtschaft wirtschaftliche Sicherheit und Beständigkeit.

Herr Ministerpräsident Dr. Stoiber, Sie leben einen Föderalismus der Extrawurst, die besondere Form des Föderalismus der Lederhosenträger. In einer Weißwurstfestung prägt sich die besondere Form des Wettbewerbsförderalismus auf bayerische Art aus. Nicht die gemeinsame Entwicklung der Bundesländer, nicht die gemeinsame Stärkung der europäischen Integration, der europäischen Wertegemeinschaft ist Ihnen ein Anliegen, sondern bayerische Großmannssucht, Machterhalt der CSU und politisch-taktisches Kalkül gegen andere Parteien und Regierungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben sich in diesem Parlament und auch draußen im Lande immer als der große Sprecher der Südschiene dargestellt. Sie haben auch Hessen dazugeholt. Ich muss sagen: Bis heute vermisse ich die Distanzierung, die Sie endlich einmal zum Ausdruck bringen müssten, die Distanzierung von den Machenschaften in der hessischen CDU. Wo bleibt denn die Klärung der Frage, ob der Schulterschluss mit Herrn Koch noch gilt? Er ist Ihr Zögling. Ihn haben Sie mit der Kampagne zum Staatsbürgerschaftsrecht gleichsam in den Sattel gehoben. Diese wurde auch mit Schwarzgeldern finanziert. Wird Ihr Einsatz möglicherweise belohnt, indem die hessische CDU Schwarzgelder an die bayerische CSU überweist? Hierauf könnten Sie antworten. Denn es ist wirklich äußerst spannend, wie Schwarzgelder der Hessen-CDU über die Bayerische Staatsbürgerliche Vereinigung zur bayerischen CSU gelangen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, hier könnten Sie klarstellen, ob Sie sich einem integeren Föderalismus verpflichtet fühlen, ob Sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen,

ob Sie das Parteiengesetz einhalten. Nach meiner Auffassung fehlen klärende Worte hierzu.