Entschuldigen Sie, Frau Kollegin. Heute ist wirklich nicht der Tag der allgemeinen Aussprache der Abgeordneten untereinander. Der Redner steht hier vorn. Ich bitte deshalb, etwas
Danke. – 160000 Verfahren werden tatsächlich angefochten, das heißt, es bleibt eine Berufungsquote von 40%. Amtsrichter müssen im Durchschnitt zirka 750 Fälle im Jahr bearbeiten, Richter am Oberlandesgericht etwa ein Zehntel davon. Wir kennen doch die Klagen der Richter wegen Überlastung. Sie kommen jedes Jahr vor den Haushaltsbelastungen wieder auf uns zu. Die Richter klagen einmal wegen der zahlreichen Fälle und hinzukommender neuer gesetzlicher Vorgaben, und sie klagen wegen der schlechten Ausstattung. Außerdem haben wir die Klagen der Rechtsanwälte und der betroffenen Rechtsuchenden über eine mangelhafte Prozessführung. Darauf müssen wir doch eine Antwort geben, wir können nicht so tun, als wäre alles bestens, wie Sie, Herr Justizminister, das getan haben.
Ich freue mich auf die Gespräche mit dem Deutschen Richterbund und ähnlichen Verbänden, denn dann werden wir sehen, wie sich die Realität wirklich darstellt. Der berechtigten Forderung nach einer notwendigen Entlastung der Gerichte steht auch die berechtigte Forderung der Bürgerinnen und Bürger nach ausreichendem Rechtsschutz gegenüber. Effizienzsteigerung einerseits und Bürgerfreundlichkeit andererseits, dies ist das Spannungsverhältnis, in dem wir diesen Gesetzentwurf diskutieren müssen. Zur Herstellung eines Gleichgewichts in diesem Spannungsverhältnis haben wir in Absprache mit der SPD auf Bundesebene Veränderungen im ursprünglichen Gesetzentwurf erreicht. Auch wir waren der Auffassung, dass der erste Entwurf notwendiger Änderungen bedurfte.
Wir fühlen uns als GRÜNE dem Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach Rechtsschutz besonders verpflichtet. Ich möchte Ihnen deshalb die Punkte kurz nennen, auf die wir besonderen Wert gelegt haben:
Es bleibt auf jeden Fall bei der Stärkung der ersten Instanz. Wir sollten auf keinen Fall verschweigen, dass es beamtenrechtliche Überlegungen zu treffen gilt, da die Stärkung der Eingangsinstanz durch Umschichtung erledigt werden soll, also Richter unter Umständen von einer Stelle auf eine andere versetzt werden müssen. Das wird nicht einfach sein. Das Problem müssen wir deutlich ansprechen. Wir dürfen nichts schönreden.
Die richterlichen Hinweispflichten werden ausgebaut, bessere Abhilfe bei Verletzung des rechtlichen Gehörs gewährt, und es wird die Vorlage von Urkunden im Verfahren der ersten Instanz gefordert. Die konsensuale Streitbeilegung wird durch Einführung einer Güteverhandlung auch im Zivilprozess erweitert. Wir begrüßen das. Wir müssen – genauso wie beim Schlichtungsgesetz – erst sehen, wie sich das entwickelt. Wir müssen das ausprobieren, weil es bisher in diesem Umfang nicht gegriffen hat. Für die GRÜNEN war wichtig, dass trotz des Einzelrichterprinzips auf bestimmten Rechtsgebie
ten, die größere Schwierigkeitsgrade aufweisen, weiterhin das Kollegialprinzip beibehalten wird. Vorgesehen war das Einzelrichterprinzip bis zum Streitwert von 60000 DM.
Ich habe nicht verstanden, wieso Sie die Möglichkeit für Spezialzuständigkeiten – vielleicht habe ich mich verhört – kritisiert haben. Vielleicht können wir anschließend kurz darüber beratschlagen. Dieses Problem haben wir im letzten Ausschuss beraten. Es gab einen Antrag der CSU hinsichtlich der Streitigkeiten, für die medizinische Gutachten nötig sind und sich das Gericht mit einem Fachgebiet auseinandersetzen muss. Es sollen Kammern gebildet werden, die sich zum Beispiel speziell mit medizinischen Streitsachen auseinandersetzen, weil es dort die entsprechende Fortbildung gibt und die Richter entsprechend ausgebildet sind. Durch den neuen Gesetzentwurf wird dies verstärkt möglich. Das ist positiv zu werten. Das bisher vorgesehene Streitwertkriterium für die Kammerzuständigkeit wurde aufgegeben. Das ist eigentlich ein Fortschritt im Sinne der Bürger und Bürgerinnen.
Die Kernfrage war, wie künftig die Berufung aussehen wird. Der Plan, der Berufung ein Annahmeverfahren vorzuschalten, hat uns beunruhigt. Ich will das nicht verhehlen. Diese Planung ist Gott sei Dank vom Tisch. Es wird weiterhin die Überprüfung stattfinden. Lediglich eine unzulässige und absolut aussichtslose Berufung darf verworfen werden. Sie werden mir zustimmen, dass das sinnvoll ist. Das darf nur mit einstimmigem Kammerbeschluss und mit Begründung geschehen. Das war leider häufig nicht immer der Fall. Zudem wurde die Berufungssumme gesenkt. Kollege Dr. Hahnzog hat deutlich gemacht, warum das für so viele Menschen von großer Bedeutung ist. Den Menschen mit niedrigem Einkommen wird die Möglichkeit des Rechtsschutzes offengehalten.
Der Prüfungsumfang in der Berufung lässt auch zukünftig neue Tatsachenfeststellungen zu, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen bestehen. Damit haben wir die Herabstufung zur reinen Rechtsinstanz verhindert. Ich halte das für richtig. Bei der Zulassungsrevision ist man von der Streitwertzulässigkeit abgerückt. Das heißt, auch Streitigkeiten unter 60000 DM sind behandelbar. Sie ist zulässig, wenn es die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung verlangt. Das ist eine Straffung, die zur Beschleunigung des Verfahrens und zur Kürzung des Instanzenwegs sinnvoll ist. Ich kann daran nichts Negatives erkennen.
In der zweiten Stufe wird uns die Reform des Strafprozesses erwarten. Hierzu werden wir uns mit dem Sanktionensystem auseinandersetzen müssen. Ich wollte an dem Beispiel zeigen – es gibt noch eine Reihe von anderen Änderungen im Gesetzentwurf –, dass der Spagat Bürgerfreundlichkeit – Sicherung der Rechtsschutzes – Sicherung des Instanzenweges und eine effizientere Gerichtsverwaltung sinnvoll ist.
Herr Justizminister, wir schätzen die Belastung der Gerichte und die Zufriedenheit der Bürger und Bürgerinnen anders ein. Ich habe das eingangs schon gesagt. Das sind zwei unterschiedliche Sichtweisen. Ich halte mich lieber an die Petitionen, die uns erreichen, und an die Aussagen von Betroffenen, als dass ich nur mit Zahlenmaterial hantiere, wonach die durchschnittliche Verfahrensdauer relativ kurz sei. Das stimmt für viele Fälle sicherlich, das stimmt aber für eine ganze Reihe von Fällen nicht. Ich kenne genügend Bürger und Bürgerinnen, die sich vor Gericht ausgeliefert fühlen. Es muss unser Anliegen sein, diese Sichtweise zu ändern.
Nein, ich würde das nicht so sehen, weil es sonst viel mehr Berufungen gäbe. Ich sehe das Argument, Herr Kollege, dass es immer eine Seite gibt, die verloren hat. Trotzdem glaube ich, dass sich jemand mit dem Verlieren leichter tut, wenn es einen anständigen Prozessverlauf gab.
Wenn sich die Verliererseite nicht angehört fühlt – wie es das häufig gibt –, sich in die Enge gedrängt fühlt, wenn sie glaubt, nicht das vorbringen zu können, was sie wollte, macht das unzufrieden. Ich kenne solche Prozesse. Erzählen Sie mir nichts. Das ist nicht das, was ich mir unter rechtlichem Gehör und einem Prozess vorstelle.
Ich betreibe keine Panikmache. Ich bin ganz sachlich. Wenn Sie in Panik verfallen, liegt das an Ihrer subjektiven Sichtweise.
Die Bedenken der juristischen Seite haben wir erlebt. Die Auseinandersetzungen waren stark vom jeweiligen Lobbydenken geprägt. Die Anwälte rückten ihre Position stark in den Vordergrund und die Richter und Richterinnen ihre. Die Politiker müssen nun versuchen, einen Ausgleich zu finden.
Es verwundert nicht, dass sich der Justizminister in einer Pflichtübung gegen die Reform ausspricht. Es verwundert mich aber schon, dass er in seiner Rede gerade die Punkte herausgegriffen und kritisiert hat, die zur Stärkung der Bürgerrechte führen. Er meint, die richterliche Hinweispflicht zum Beispiel würde die Prozesse in die Länge ziehen und unmöglich machen. Die GRÜNEN wollen, dass darauf hingewiesen und dies schriftlich niedergelegt wird, damit im Urteil keine überraschenden Wendungen auftauchen, mit denen kein Mensch gerechnet hat.
Angesichts Ihrer Kritik am Schluss – ich komme damit zum Ende –, dass die Parlamentarier im Bundestag den Gesetzentwurf eingereicht hätten und nicht die Exekutive, frage ich Sie: Welches Verständnis haben Sie vom Parlamentarismus?
Nur weil Sie es gewohnt sind, sich die Arbeit von Ihrer Exekutive abnehmen zu lassen und möglichst keine eigenen Gesetzentwürfe zu erarbeiten
ja schön, jetzt wachen Sie auf –, können Sie von uns nicht erwarten, dass die rot-grünen Parlamentarier im Bundestag Ihrem Beispiel folgen. Wir erarbeiten unsere Positionen selbst.
Der nächste Redner ist Herr Kollege Kreuzer. Bitte schön. Ich weise darauf hin, dass die Niederschriften der heutigen Sitzung nicht mehr bis Sitzungsende fertig zu stellen sind und die Redner ihre Manuskripte nicht mehr in den Plenarsaal bekommen werden. Deswegen liegen hier vorne Zettel aus, derer man sich bedienen soll, damit die Korrektur nachgeschickt werden kann. Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident, Hohes Haus! Frau Kollegin Stahl, zu Ihrer Schlussbemerkung: Wollen Sie behaupten, dass der Gesetzentwurf, der von den Fraktionen eingebracht worden ist, nach dem Kompromiss innerhalb weniger Tage erarbeitet wurde? Wenn Sie dies wirklich hier andeuten wollen, so kann das nur ein Witz sein. Vielmehr haben die Fraktionen den Gesetzentwurf direkt eingebracht, um den Bundesrat zu umgehen, weil man in diesem Land die Meinung der Länder nicht mehr hören will.
Manchmal sieht man in einer Gemeinde ein größeres Gebäude. Es heißt dann, der Kommunalpolitiker X oder Y wollte sich parteiübergreifend ein Denkmal setzen. Diese Gebäude sind meist nicht optimal zweckdienlich, überdimensioniert und für die Gemeinde schwierig.
Viel gefährlicher ist es, Frau Kollegin Stahl, wenn sich eine Bundespolitikerin, die Jahrzehnte in der Opposition war, dann, wenn sie an die Regierung kommt, ein Denkmal durch ein Reformvorhaben setzen will, welches nicht notwendig ist. Das ist bei der uns vorliegenden Justizreform der Fall. Damit wird versucht, ein Reformvorhaben aus der sozial-liberalen Koalition aufzuwärmen, das zu einem einheitlichen Eingangsgericht und zur Abschaffung der Vierstufigkeit führt. Das wird hier vorbereitet. Damals war es gescheitert und wird uns auch diesmal nicht weiterbringen.
Was uns vorliegt, ist eine Reform erstens gegen die Länder, zweitens gegen die Organe der Rechtspflege – sowohl gegen die Richterschaft wie gegen die Anwaltschaft – und drittens eine Reform gegen den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. So
Was das Verhalten der Bundesregierung gegenüber den Ländern angeht, so ist dieses langsam beängstigend. Natürlich gibt es immer wieder gegensätzliche Interessen. Dass aber eine Regierung ein Reformvorhaben durchziehen will, das auf den Widerstand aller Justizminister einschließlich derjenigen der eigenen Parteien und der eigenen Koalitionen stößt – die Justizminister müssen das schließlich in die Praxis umsetzen –, ist aus meiner Sicht in dieser Form ein einmaliger Vorgang.
Auf Interessen der Länder wird keine Rücksicht mehr genommen. Es wird versucht, sie einzukaufen, wenn man ihre Zustimmungen im Bundesrat braucht. Wenn man sie nicht braucht, werden die Dinge ohne Rücksicht darauf durchgezogen, dass die Umsetzung in den Ländern stattfinden soll.
Sie und Herr Dr. Hahnzog sind Mitglieder des Bayerischen Landtags, keine Vertreter der rot-grünen Koalition.
Man hat manchmal überhaupt nicht den Eindruck, dass in diesem Haus von der Opposition bayerische Interessen vertreten werden, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CSU – Dr. Hahnzog (SPD): Wir vertreten die Interessen der bayerischen Bürgerinnen und Bürger! – Weitere Zurufe von der SPD)
Sie haben keinen Kontakt zu den bayerischen Bürgerinnen und Bürgern. Deswegen können Sie deren Interessen auch nicht vertreten. Das ist die Problematik, die wir hier haben. Mir fällt das auf. Wir leben in einem Flächenstaat mit ganz entscheidenden Nachteilen – ich werde darauf zu sprechen kommen –, die uns aus dieser Reform erwachsen.
Zum einen erschweren Sie in ungeheurem Umfang das Verfahren in erster Instanz. Sie führen ein formalisiertes Güteverfahren ein und preisen es als große Reform. Das heißt, es muss eine Terminierung gemacht werden, entweder vorweg oder anderweitig, um eine Güteverhandlung zu führen.
Meine Damen und Herren, ich war vier Jahre Zivilrichter und habe jetzt im Hinblick auf diese Reform mit vielen Kollegen gesprochen. Jetzt bin ich jahrelang Abgeordneter. Die Leute beschweren sich ja über die Justiz. Das ist selbstverständlich, gerade bei dem, der verliert. Aber, meine Damen und Herren, einen Vorwurf habe ich noch nie gehört: dass Parteien keine Gelegenheit zum Vergleichsabschluss bekommen hätten und dass das Gericht nicht darauf hingewirkt habe, einen Vergleich zu schließen. Das ist doch überhaupt kein Thema, das die Bürgerinnen und Bürger hier berührt. Man hört manchmal sogar das Gegenteil: Man kommt ohne Vergleich aus dem Gericht nicht heraus. Das ist in Ordnung. Aber der Plan, dass ein Verfahren vorgeschaltet werden soll, ist völlig unsinnig.
Der Justizminister hat darauf hingewiesen, dass die Qualität durch die faktische Abschaffung der Kammern bei den Zivilgerichten leiden wird. Wir werden unsere jungen Richter bei den Landgerichten nicht mehr einarbeiten können.
Ich war als Einzelrichter und in der Kammer tätig. Bei einer schwierigen Sache ist die Kammer mit dem Kollegialsystem einfach besser. Auch sonst wird doch im Leben überall Teamwork gefordert. Man soll von einsamen Entscheidungen wegkommen. Aber hier wollen Sie ein bewährtes System einfach zerstören. Das wird die Qualität der Rechtsprechung vermindern und nicht erhöhen.
Hinsichtlich der Berufungen preisen Sie die Senkung des Mindeststreitwerts von 1500 auf 1200 DM als großen Fortschritt. Herr Dr. Hahnzog, das ist eine ganz willkürliche Festlegung. Mit der Herabsetzung um 300 DM will man etwas verbessern. Aber das ist reiner Populismus, wenn man sagt, dadurch werde man bürgernäher.