Die Reform des Zivilprozesses steht auf der Liste der rechtspolitisch dringlichen Angelegenheiten seit Jahrzehnten ganz vorne. Jetzt aber hören wir vom Herrn Justizminister voll Erstaunen, dass der Zivilprozess bei uns in aller Regel hervorragend funktioniert.
Das heißt also, ein dringender Reformbedarf liegt nicht auf der Hand. Wenn man sich die Geschichte der Reformüberlegungen in den letzten Jahren vor Augen führt, gab es ein Land, das bei den Justizministerkonferenzen immer besonders darauf gedrängt hat, dass die Reform des Zivilprozesses vorangetrieben wird. Dieses Land war der Freistaat Bayern. Deshalb finde ich Ihr Verhalten relativ seltsam. 16 Jahre lang waren Sie nicht in der Lage, etwas voranzubringen, was Sie selbst als dringlich bezeichneten. Jetzt kommt eine neue Bundesregierung, die diese Reform endlich in die Hand nimmt, und jetzt erklären Sie, dass die Reform eigentlich gar nicht nötig ist.
So etwas Unverfrorenes gibt es selten. Sie glauben, in dieser Frage, die wahrscheinlich wirklich nicht von allzu vielen durchschaut wird, Potemkinsche Dörfer aufbauen zu können, indem Sie sagen, dass das, was in Berlin geschieht, in die falsche Richtung geht und überhaupt nicht notwendig ist. Das finde ich eine ganz schwache Leistung.
Ihre Politik wird natürlich auch dadurch nicht besser, dass Sie völlig verschweigen, welche Alternativen Sie sich selber vorstellen.
Bei Fachleuten aus der Richterschaft und Anwaltschaft ist unbestritten, dass sich etwas ändern soll. Der Freistaat hat zwar schon andere Vorstellungen entwickelt, aber sie werden hier verschwiegen. So wird überlegt,
dass man bei der Möglichkeit, überhaupt eine Berufung einzulegen – sie endet jetzt bei einer Beschwer von 1500 DM –, bis zu einer Grenze von 2000 DM geht. Man muss sich überlegen, was dies bedeutet. Herr Kollege Dr. Weiß, soll es denn bürgernäher sein, Rechtsmittel einzuschränken? Das ist, rein örtlich gesehen, bürgernäher, weil dann etwa 100000 Menschen mehr nicht die Möglichkeit haben, überhaupt eine Berufung einzulegen. Das ist aber ein sehr, sehr seltsames Verständnis von Bürgernähe, den Leuten lieber gar nichts zu geben, als den jetzigen Zustand zu belassen. Das ist für uns alle von Bedeutung, weil wir in den Bürgersprechstunden irgendwann mit Zivilprozessen in Berührung kommen, und zwar nicht nur diejenigen im Rechtsausschuss.
In der Bundesrepublik gibt es in erster Instanz zwei Millionen Verfahren bei den Amtsgerichten und ungefähr eine halbe Million bei den Landgerichten, insgesamt 2,5 Millionen. Dann kommen noch jeweils ungefähr 100000 Berufungsverfahren bei den Landgerichten und Oberlandesgerichten hinzu. Wir wissen, dass bei diesen 2,7 Millionen Fällen oft nicht nur Geldbeträge im Mittelpunkt stehen, sondern tiefgehende Konflikte, anhand derer die Menschen messen, wie es mit dem Rechtsstaat in unserem Lande steht. 40% der 1,6 Millionen Zivilprozesse an den Amtsgerichten sind schon jetzt wegen der Streitwertgrenze nicht anfechtbar; das sind einige Einhunderttausend. Nach den hier nicht näher dargestellten, verschwiegenen Vorstellungen des Freistaates Bayern sollen diese Fälle um etwa 200000 gesteigert werden. Wenn das Rechtsstaatlichkeit und Bürgernähe ist, zweifle ich am Beurteilungsvermögen der CSU und der Staatsregierung.
Herr Kaul, vor nicht allzu langer Zeit war im „Pressespiegel“ jede Woche ein Bericht darüber drin, dass ein Justizminister der CSU – das waren weitgehend Ihre Vorgänger, Herr Dr. Weiß, – und auch CSU-Abgeordnete mit ihren Landräten und Bürgermeistern diskutiert und gesagt haben: Die bösen Sozis wollen euch durch die Rechtsmittelreform euer Amtsgericht wegnehmen.
Es hat lange gedauert, bis Sie selbst erkannt haben, dass man das guten Gewissens wirklich nicht mehr sagen kann, nachdem in Berlin immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass es Sache der Länder sei, ob sie die Amtsgerichte in erster Instanz weiter behalten oder nicht.
Herr Kollege Dr. Hahnzog, aus welchem Grund sind wohl SPD-Justizminister gegen die Reform und haben die Rechtsanwälte und die Richterschaft in seltener Einmütigkeit ihre Ablehnung der Reform bekundet?
Dazu komme ich noch in meinen weiteren Ausführungen. Herr Kollege Dr. Weiß hat schon gesagt, dass die Richterschaft ursprünglich relativ dafür war.
(Lachen bei der CSU – Kaul (CSU): Relativ dagegen und relativ dafür, wie geht das? – Weitere Zurufe von der CSU)
Lesen Sie sich doch die Stellungnahmen durch. Der Vorsitzende des Richterbundes war schon weit auf dem Weg zum Pro; dann ist man zurückgegangen und zuletzt jetzt wieder verhalten dafür. Lesen Sie sich die letzten Mitteilungen durch.
Jetzt bemisst man plötzlich die Qualität eines Zivilprozesses allein an der Schnelligkeit, die man vorher nicht als das einzige Kriterium gelten ließ; so auch die Staatsregierung. Es hieß, man müsse in der ersten Instanz mehr Zeit haben, damit die Leute akzeptieren können, was vor dem Gericht geschieht, und sie nicht das Gefühl haben, dass die Sachen in einem Schnellverfahren durchgezogen werden, ohne dass den Parteien wirklich klargemacht wird, worum es geht und wie die Maßstäbe sind.
Die eigentliche Schwäche Ihrer Regierungserklärung liegt sehr stark in der mangelhaften Selbstkritik und noch viel stärker darin, dass Sie uns verschweigen, was die eigentliche Problematik ist und welche Ansichten die Bayerische Staatsregierung früher vertreten hat. Sie stützen sich dabei zum Teil auf die Anwaltschaft. Kollege Dr. Kempfler und ich verfolgen als Anwälte sehr aufmerksam, wie die Anwaltschaft dazu steht. Ich war Referent eines großen anwaltschaftlichen Forums in Berlin Anfang Februar; das hat zwei Tage gedauert. In den kritischen Beiträgen wurde das Forum von Anwälten dominiert, die beim Bundesgerichtshof extra zugelassen sind. Eine Revision in Zivilsachen kann man dort ja nur über ein paar Dutzend dort zugelassener Anwälte machen. Bisher galt für die Revision – das ist die dritte Instanz –, dass der Streitwert in der Regel über 60000 DM lag. Da sich die Anwaltsgebühren nach dem Streitwert richten, wäre es ein herber Schlag für diese Anwälte, dass in Zukunft die Revision, wenn es um unterschiedliche Rechtsprechung geht, hier in einem großen Kreis auch bei kleineren Streitwerten ermöglicht werden soll. Herr Kollege Dr. Weiß, ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, sich so stark auf die Anwaltschaft zu stützen.
Ich erinnere an unser gemeinschaftliches Vorhaben des Schlichtungsgesetzes, gegen das die Anwaltschaft grundsätzliche Einwände hatte. Bei Anwälten ist es offenbar noch etwas schwieriger als bei Politikern, Neuerungen in Angriff zu nehmen. Vor diesem Hintergrund ist es eine relativ schwache Argumentation, sich auf die Anwälte zu berufen, wenn man nicht durchschaut, welche Interessen dahinter stehen.
Bei unserem Hearing sind drei Leute sehr stark für eine Reform, auch in der Richtung, wie sie vom Berliner Anwaltsforum jetzt vorgeschlagen worden ist, eingetreten. Sie werden jetzt gleich sagen, dass das nur drei einsame Gestalten gewesen sind; aber es gab unter den 600 Leuten im Saal eine große, schweigende Mehrheit. Einer war der Präsident des Bundesgerichtshofs Karlmann Geiß. Er stammt zwar von der SPD, ist aber von der CDU in seiner Amtsführung immer sehr gelobt worden. Er trat für diese Reform ein. Der zweite – Sie werden noch größere Schwierigkeiten haben, den zu akzeptieren – war der bislang amtierende Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, der Kollege CDUBundestagsabgeordnete Eylmann, Notar und Rechtsanwalt aus Stade in Niedersachsen. Er hat diese Reform in ihren Grundzügen bejaht. Der dritte war ich, der Erfahrungen aus vielen Bereichen einbringen konnte.
Das waren die, die geredet haben. Auch einige andere haben sehr dezidiert gesprochen. Die anderen waren nicht Rechtsanwälte mit kleinen Praxen, sondern Revisionsanwälte beim Bundesgerichtshof. In norddeutschen Ländern gibt es etwas Ähnliches, dass nämlich bei den Oberlandesgerichten nur bestimmte Anwälte Berufungen als sogenannte Singularanwälte vertreten dürfen. Sie sollten die 100 Seiten Protokoll mit der jeweiligen Berufsbezeichnung durchlesen; dann werden Sie sehen, wie das gelaufen ist.
Herr Kollege Kempfler, an Reformvorhaben kann man auch anders herangehen. Aber man kann sich selbstverständlich auch immer nur das herauspicken, wo Kritik geübt wird. Die Richter haben vor allem im Hinblick auf die Regelung für die Einzelrichter Kritik geübt. Die Anwälte ihrerseits haben es hingegen gut gefunden, wenn man die Zahl der Einzelrichter erweitert. Die Anwälte ihrerseits haben – vor allem was die Tatsachen betrifft – die Beschränkung der Überprüfungsmöglichkeit durch die Berufungsinstanz kritisiert. Inzwischen ist in dieser Frage ein sehr guter Kompromiss gefunden worden. Das hat der Justizminister auch erwähnt. Hier lagen also bei den Anwälten die Hauptbedenken.
Man kann an solche Reformvorhaben aber auch herangehen, indem man die positiven Stellungnahmen der Betroffenen aufgreift. Dann kann man feststellen, dass diese positiven Teile der Stellungnahmen die Grundpfeiler der Reform sind, die jetzt in Berlin vorangebracht wird. Sie aber sehen nur das Negative; so haben Sie es lange Jahre auch in der Bonner Koalition gemacht. Bei so einer Sichtweise kommt aber nichts Positives heraus, und das ist die Reformunfähigkeit, die ich anfangs dargestellt habe.
Wie viele der 2,7 Millionen Prozesse haben denn eigentlich die Chance, an den Bundesgerichtshof zu gelangen? Es handelt sich um ganze 5%. Es gibt Rechtsgebiete, die enden mit ihrer Berufung bei den Landgerichten: Reisevertragsrechte und Ähnliches. Gerade bei diesen Prozessen geht es oft um die Belange der kleinen Leute. Das soll nach Ihren nicht ausgesprochenen Plänen jetzt sogar noch gesteigert werden. Stellen Sie sich doch einmal vor, was 2000 DM für die Menschen in diesem Land bedeuten. Jeder achte Haushalt – das sind 13% der Bevölkerung – hat als Familieneinkommen – nicht als Einzeleinkommen – monatlich weniger als 2000 DM zur Verfügung. In den neuen Bundesländern sind es sogar 18% und damit jeder sechste Haushalt. Jedes fünfte Kind wächst heute in einem Sozialhilfehaushalt auf. 1992 war es noch jedes neunte und 1965 jedes 75. Kind. Hier besteht doch ein Bedarf, dem man, wenn es vor Gericht geht, Rechnung tragen muss. Das kann man nicht abstreiten.
Es wurde auch die räumliche Bürgernähe angesprochen. – Wir haben doch eine längere Redezeit als 15 Minuten. –
Doch, aber nicht lang, vielleicht drei bis fünf Minuten. – Der Justizminister versteht die Bürgernähe vor allem räumlich und verweist auf das Beispiel Freyung – München. Wenn Sie sich ansehen, wie das beim bisherigen System bei Berufungen zum Landgericht geregelt ist, dann werden Sie feststellen, dass beim Landgericht München II Entfernungen wie Mittenwald – München gegeben sind. Es gibt also auch beim jetzigen System große Entfernungen. Das sollte man nicht leugnen.
Vor allem aber darf man nicht vergessen, dass bestimmte Rechtsbereiche schon bisher nicht den Rechtszug Amtsgericht – Landgericht hatten, sondern Amtsgericht – Oberlandesgericht. So etwas ist vor allem bei existentiellen Fragen, bei Familiensachen gegeben. Bei Familiensachen gibt es seit Jahrzehnten den Rechtszug Amtsgericht – Oberlandesgericht.
Ich frage mich, warum die Bayerische Staatsregierung, wenn dies so schlimm ist, nicht gesagt hat: „Berufungen bei Familiensachen aus Freyung im Bayerischen Wald müssen wir künftig beim Landgericht unterbringen und nicht mehr in München“. Bei Familiensachen finden wir das also auch heute schon. Ähnlich ist es bei vielen Berufungen in Mietsachen.
Der Präsident eines Oberlandesgerichts, der ebenfalls in einem Flächenstaat tätig ist, hat erklärt: „Bürgernähe erfordert keine Berufungskammern bei den Landgerichten.“ Das Argument der Staatsregierung erachte er als falsch. Er war viele Jahre lang Vorsitzender eines Senats in Familiensachen bei einem Oberlandesgericht. Er habe es nie als Verlust an Bürgernähe empfunden, wenn die Leute aus exponierteren Orten anreisen mussten. Dabei handelte es sich um noch größere Entfernungen als Freyung – München. Die Bürger kamen beispiels
weise von den Nordseeinseln Borkum oder Norderney. Er habe das nie als Problem empfunden. Wenn man als Richter geschickt terminierte, dann konnten die Leute mit der Fähre aufs Festland kommen, von dort nach Oldenburg fahren, ihren Prozess durchführen und am Abend wieder zu Hause sein. Man braucht eben auch etwas Phantasie, vor allem aber braucht man Bürgernähe in der Praxis und nicht nur abstrakt in den Gesetzen. Darum sollte sich die bayerische Justiz kümmern.
Ich fasse also zusammen: Sie wollen Ihre Reformunfähigkeit kaschieren und das Alles-oder-Nichts-Prinzip, das bei kleinen Streitwerten gegeben ist, erweitern. Sie wollen die Bürger mit Horrorgeschichten verunsichern. Das ist der falsche Weg. Sie sollten zu Ihren Äußerungen aus früheren Jahren stehen, denn dann würden Sie auch positive Seiten entdecken. Wenn Sie den Justizminister in einer Berliner Koalition auch weiter gestellt hätten, und es wäre dieselbe Reform herausgekommen, dann würde Ihrer Stellungnahme heute sehr viel anders aussehen bzw. aussehen müssen.
Ich kann die Pause, die jetzt entsteht, nutzen, um darauf hinzuweisen, dass die ganz normale Redezeit gilt. Jeder Redner hat 15 Minuten. Eine Fraktion kann für einen Redner eine Verlängerung beantragen. Nächste Rednerin: Frau Kollegin Stahl.
Herr Präsident, meine Herren und Damen! Leidenschaft in der Sache, Herr Justizminister, ist ganz gut. Man sollte aber aufhören, hier Panik zu verbreiten. So dramatisch wird es mit der Justizreform nicht werden, wie Sie uns hier weiszumachen versuchen.
Wir sollten in einer sachlichen Atmosphäre – die ich Ihnen nicht abspreche, darum haben Sie sich bemüht – überlegen, inwieweit durch diese Justizreform die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gestärkt und berücksichtigt werden. Wie stellt sich nun die derzeitige Situation in der Zivilgerichtsbarkeit dar? Der Justizminister beschönigt die Sache nach meiner Auffassung etwas. Ich möchte dazu nur sagen, bei Amts- und Landgerichten zusammengenommen sind derzeit zwei Millionen Verfahren anhängig. 600000 Verfahren werden durch Urteil entschieden, 400000 sind mit der Berufung anfechtbar.
Entschuldigen Sie, Frau Kollegin. Heute ist wirklich nicht der Tag der allgemeinen Aussprache der Abgeordneten untereinander. Der Redner steht hier vorn. Ich bitte deshalb, etwas